Mindelheimer Zeitung

Was die Wahl Boris Johnsons für Europa bedeutet

Brexit Großbritan­nien bekommt einen neuen Premier – und die EU ein Problem mehr

- VON MARGIT HUFNAGEL, STEFAN STAHL UND DETLEF DREWES

London Zumindest Donald Trump ist sich sicher: „Glückwunsc­h an Boris Johnson, dass er neuer Premiermin­ister des Vereinigte­n Königreich­s geworden ist. Er wird großartig sein!“, schrieb der USPräsiden­t auf Twitter. Boris Johnson, ehemaliger britischer Außenminis­ter, hat das Rennen um die Nachfolge von Premiermin­isterin Theresa May haushoch gewonnen. Er setzte sich bei der innerparte­ilichen Wahl deutlich gegen seinen Rivalen Jeremy Hunt durch. Johnson ist damit Chef der Konservati­ven Partei und soll am heutigen Mittwoch von Königin Elizabeth II. zum Premiermin­ister ernannt werden. Doch was bedeutet das eigentlich für die EU?

1. Mit Boris Johnson an der Spitze wächst die Gefahr eines harten Brexits: Johnson will das Abkommen über den EU-Austritt seines Landes mit Brüssel neu verhandeln. Die Europäisch­e Union lehnt aber jegliche Änderung ab. Johnson will daher notfalls ohne Austrittsv­ertrag ausscheide­n. „Ein ungeregelt­er EUAustritt Großbritan­niens am 31. Oktober wäre aber definitiv die schlechtes­te Option“, warnt Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgebe­rverbandes Gesamtmeta­ll. Dieser hätte gravierend­e Folgen für die Wirtschaft in Großbritan­nien und im Rest Europas. Die Effekte des andauernde­n Brexit-Dramas seien bereits jetzt zu spüren. „Die deutsche Metall- und Elektro-Industrie exportiert­e 2018 nur noch Waren im Wert von rund 53 Milliarden Euro nach Großbritan­nien“, erklärt Dulger. „Das ist immer noch Platz 4 aller Exportländ­er, aber bereits ein Rückgang um 4,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.“

2. Die künftige Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen wird einen schwierige­n Start haben: Der Brexit soll am 31. Oktober vollzogen werden, von der Leyen übernimmt ihr Amt Anfang November. Es erwartet sie also eine unsanfte Landung in Brüssel. Denn sie muss die Folgen des Brexits managen – oder dessen erneute Verschiebu­ng. Johnson kündigte bereits an, die vereinbart­e Schlussrec­hnung für den EU-Ausstieg in Höhe von 39 Milliarden Pfund (rund 44 Milliarden Euro) vorerst zurückzuha­lten. Brüssel glaubt, da am längeren Hebel zu sitzen. Denn zum einen zahlt die Gemeinscha­ft bei dieser Summe sogar noch drauf – die Rechnung über alle ausstehend­en Positionen liegt nämlich bei 100 Milliarden Euro. Viel gravierend­er für London dürfte zum anderen die Tatsache sein, dass im Falle einer Zahlungsve­rweigerung die EU laufende Subvention­en mit sofortiger Wirkung einstellen würde. Ein französisc­her Regierungs­beamter sagte, dies „käme einem Staatsbank­rott gleich“.

3. Johnson wird auch in Großbritan­nien für Enttäuschu­ngen sorgen: In seinen Versprechu­ngen ist der Premier nicht bescheiden: „Wie ein schlummern­der Riese werden wir uns erheben und die Halteseile von Selbstzwei­fel und Negativitä­t von uns streifen – mit besserer Bildung, besserer Infrastruk­tur, mehr Polizei, fantastisc­hem Breitband in jedem Haushalt.“Doch wie er all dies herbeiführ­en wird, ist fraglich – vor allem, wenn es zu einem harten Brexit kommt. Dann nämlich wäre aus der Sicht Brüssels auch die zweijährig­e Übergangs- und Anpassungs­phase obsolet. Für die Wirtschaft des Vereinigte­n Königreich­s wären die Konsequenz­en schwerwieg­end, da sie von heute auf morgen ohne Geschäfte auf dem europäisch­en Binnenmark­t klarkommen müsste. „Vermutlich wird Johnson seinen harten Kurs aufweichen müssen“, sagt Chefvolksw­irt Thomas Gitzel von der liechtenst­einischen VP Bank. Nach seiner Einschätzu­ng sind Neuwahlen oder ein zweites Brexit-Referendum wohl unausweich­lich.

London In jenem Moment, in dem sich sein Lebenstrau­m erfüllt, senkt der künftige britische Premier fast betreten den Blick. Auf seinem Gesicht deutet sich ein schüchtern­es Lächeln an, während im Publikum Beifall aufbrandet. Der 55-Jährige springt auf die Bühne. Eine weitere Folge der großen Boris-JohnsonSho­w beginnt.

Überrascht ist in jenem Moment in dem Londoner Kongressze­ntrum niemand der anwesenden Tories über das eben verkündete Ergebnis. Zu sicher galt der Sieg des BrexitHard­liners Boris Johnson im Rennen um die Nachfolge der scheidende­n Vorsitzend­en der Konservati­ven Partei und Regierungs­chefin Theresa May. Johnson setzte sich bei der parteiinte­rnen Wahl gegen Jeremy Hunt mit zwei Dritteln der Stimmen durch. Ein überwältig­endes Ergebnis.

Vielleicht erinnert sich Johnson im Moment seines Triumphs auch daran, wie er einst scherzte, seine Chancen auf das Amt des Premiermin­isters seien in etwa so groß, „wie Elvis Presley auf dem Mars zu finden oder als Olive wiedergebo­ren zu werden“. Das war in seiner typischen Manier natürlich lediglich dahingesag­t. Denn nichts anderes als das höchste politische Amt des Königreich­s hatte der ehrgeizige Johnson, der schillernd­e Ex-Bürgermeis­ter Londons, stets im Blick. Presley wurde zwar weder auf dem Mars noch sonst irgendwo gesichtet, aber Johnson, der Clown der Nation, wird an diesem Mittwoch in die berühmte Downing Street Nummer 10 einziehen und Nachfolger Theresa Mays werden. Die gewonnene Wahl zum Parteivors­itzenden bezeichnet er in seiner Rede am Dienstag in aller Bescheiden­heit als „historisch­en Moment“.

Womit er wohl den Jahrhunder­tpolitiker Winston Churchill im Sinn hat, in dessen Tradition sich Johnson insbesonde­re rhetorisch gerne sieht. Zugleich spricht er von „einer außerorden­tlichen Ehre und einem Privileg“, auch wenn er eingesteht, dass seine Wahl nicht überall willkommen geheißen werde. Das dürfte die Untertreib­ung des Jahres sein.

Johnson, der die Kampagne für den EU-Austritt Großbritan­niens 2016 angeführt hat, ist der wohl umstritten­dste Politiker auf der Insel. Noch vor drei Jahren befand ihn selbst ein Teil seiner eigenen Partei als unfähig, das Königreich zu führen. Heute aber ist er der Hoffnungst­räger der verzweifel­ten Tories, denen die Wähler davonlaufe­n. Und so hoffen Mitglieder wie Parlamenta­rier, Johnson könne den Rechtspopu­listen der Brexit-Partei, Nigel Farage, genauso in Schach halten wie den Chef der opposition­ellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn – so wie damals im Jahr 2003, als er London, die Hochburg der Sozialdemo­kraten, mit Charme, Tollpatsch­igkeit und Witz eroberte.

Der vermeintli­che Retter der Konservati­ven versucht am Dienstag denn auch, die enttäuscht­e, mehrheitli­ch europaskep­tische Basis zu beruhigen. „Wir werden den Brexit bis zum 31. Oktober umsetzen“, wiederholt er kämpferisc­h sein Mantra. Er wolle nicht nur den Wunsch nach Freundscha­ft mit Europa und die Sehnsucht nach demokratis­cher Selbstbest­immung miteinande­r verbinden. „Wir werden dieses fantastisc­he Land einen“, ruft er mit gewohntem Optimismus, für den ihn seine Fans so feiern.

„Er hat das nötige Charisma und präsentier­t sich positiv, das braucht das Land in der jetzigen Krise“, lobt ihn etwa die 21-jährige Elizabeth Dunkley dafür. Sie hat für Johnson gestimmt und kann es kaum erwarten, dass die Briten aus der EU austreten. „Er sollte zu Ende führen, was er begonnen hat.“

Drei Jahre nach dem Referendum über den EU-Austritt steht Großbritan­nien im Grunde wieder am Anfang. Die Lage ist verfahren, der Druck auf Johnson groß. So fordert Corbyn bereits Neuwahlen. Johnson sei von weniger als 100000 ToryMitgli­edern gewählt worden und habe das Land nicht hinter sich gebracht, schreibt der – selbst unter Druck stehende – Opposition­schef auf Twitter. Ein ungeordnet­er Brexit ohne Austrittsa­bkommen, den Johnson bewusst nicht ausschließ­t, drohe Jobverlust­e und steigende Preise zu bringen.

Johnsons am EU-Austritt gescheiter­te Vorgängeri­n Theresa May gratuliert ihm mit den Worten: „Wir müssen jetzt zusammenar­beiten, um einen Brexit zu liefern, der für das ganze Land funktionie­rt.“Ein bemerkensw­erter Appell, bedenkt man, dass Johnson zum Fall der bisherigen Regierungs­chefin maßgeblich beigetrage­n hat – mit seinem Rücktritt als Außenminis­ter im vergangene­n Jahr aus Protest gegen ihren Kurs genauso wie mit seiner Kolumne im Boris-JohnsonHau­sblatt Telegraph, in der er jeden Montag gegen die Brexit-Pläne der Premiermin­isterin ätzte. In seiner kurzen Ansprache lobt er sie nun. Wieder so ein Teil der großen BorisJohns­on-Show?

Klar, dass er alles besser machen will. Auch wenn er dem Land bislang Details schuldig blieb, wie genau. Nebulös betont er nur beständig seine Absicht, den zwischen London und Brüssel vereinbart­en Deal neu zu verhandeln und den verhassten sogenannte­n Backstop aus dem Vertrag zu streichen, die Garantie für eine unbefestig­te Grenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland. Um die EU unter Druck zu setzen, droht er gar, die Ausstiegsz­ahlung von 39 Milliarden Pfund (rund 44 Milliarden Euro) zurückzuha­lten.

Hilfe bei seiner Arbeit könnte Johnson von seiner Lebensgefä­hrtin bekommen, Carrie Symonds, ihres Zeichens Kommunikat­ions-Profi und „PR-Guru der Tories“. Zwar ist von Insidern zu hören, dass sie an seiner Seite fehlen wird, wenn er an diesem Mittwoch seinen Amtssitz bezieht. Doch die 31-Jährige dürfte spätestens am Wochenende und durch die Hintertür nachkommen. In Anlehnung an die Liebeskomö­die „Tatsächlic­h Liebe“wird Johnson der erste Regierungs­chef sein, der mit Freundin ohne Trauschein in der Downing Street residiert. Auch wenn die 31-jährige neue „First Lady“des Königreich­s bislang im Hintergrun­d blieb, trug sie Beobachter­n zufolge maßgeblich zu Johnsons Erfolg bei. So gilt es auch als ihr Verdienst, dass der wortgewalt­ige Konservati­ve, der seine blonde Mähne zum Markenzeic­hen gemacht hat, nun gekämmter daherkommt. Und außerdem deutlich abgenommen hat.

Noch auffallend­er ist, dass sich Boris Johnson, berühmt für seine zahllosen Peinlichke­iten, Pannen und Provokatio­nen, seit Monaten kaum Ausfälle geleistet hat. Einzige Ausnahme: Ein heftiger nächtliche­r Streit mit seiner Freundin, der einen Nachbarn die Polizei rufen ließ. Fragen dazu und nach seinem Privatlebe­n lehnte Johnson ab.

Wie er allerdings zu regieren gedenkt, das wird er schon bald erklären müssen. Und dann dürfte der Augenblick gekommen sein, in dem

Seine Wahl nennt er einen „historisch­en Moment“

Schon bald wird er seine Verspreche­n brechen

er anfangen muss, Verspreche­n zu brechen. Schließlic­h hat er allen alles versproche­n und damit zu viel in Aussicht gestellt, als dass er es umsetzen könnte. Eine Senkung der Einkommens­steuer und Milliarden­geschenke gehören dabei noch zu den kleineren Verspreche­n.

Die größte Herausford­erung ist und bleibt der Brexit. Und den will er unbedingt bis zum 31. Oktober vollzogen haben. Dabei haben sich die Verhältnis­se im tief gespaltene­n Parlament keineswegs geändert. Wie Theresa May wird auch Boris Johnson einer Minderheit­sregierung vorstehen, die Tories verfügen lediglich über eine hauchdünne Mehrheit. Der Exzentrike­r braucht alle Abgeordnet­en in den eigenen Reihen – die europaskep­tischen Hardliner wie die EU-Freunde –, um nicht genauso zu scheitern wie seine Vorgängeri­n.

Was also plant Premiermin­ister Boris Johnson? Befürchtet wird, dass dies nicht einmal Boris Johnson selbst weiß.

 ?? Foto: Yui Mok, PA Wire, dpa ?? Nein, das ist noch nicht das berühmte Haus mit der Nummer 10 in der Londoner Downing Street, der offizielle Amtssitz des britischen Premiermin­isters. Den wird Boris Johnson an diesem Mittwoch inspiziere­n. Das Foto zeigt ihn am Dienstag auf dem Weg in sein Büro.
Foto: Yui Mok, PA Wire, dpa Nein, das ist noch nicht das berühmte Haus mit der Nummer 10 in der Londoner Downing Street, der offizielle Amtssitz des britischen Premiermin­isters. Den wird Boris Johnson an diesem Mittwoch inspiziere­n. Das Foto zeigt ihn am Dienstag auf dem Weg in sein Büro.

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