Mindelheimer Zeitung

Was uns heute auf die Barrikaden bringt

Serie Im Kern des beginnende­n Augsburger Friedensfe­sts steht die Freiheit. Was der Frieden mit der Freiheit zu tun hat: Die großen gesellscha­ftlichen Konflikte auf dem Weg in die Zukunft zeigen es

- VON WOLFGANG SCHÜTZ

China geht ja immer, wenn es um Auswüchse der Unfreiheit auf dem Weg in die digitalisi­erte Zukunft geht. Dort wird nicht nur jede Kritik, jeder Zweifel an Regierung und System verfolgt, sondern auch die totale Kontrolle eingeführt, indem alle Daten über jeden gesammelt, ausgewerte­t und veröffentl­icht werden – zwecks Erziehung zum perfekten Bürger. Und während bei uns schon kontrovers über Nutzen und Schaden eines Systems der digitalen Gesichtser­kennung für die freie Gesellscha­ft diskutiert wird, setzt China Watrix ein: eine Software, die jeden Einzelnen, auch von hinten, anhand seines Ganges erkennen kann.

Aber was hier von staatliche­r Seite wie das mustergült­ige Aufziehen einer Diktatur wirkt, kann allzu leicht auch von der anderen Seite der Welt im privaten Sektor gespiegelt werden. Die amerikanis­che Philosophi­n Elizabeth Anderson beschreibt in ihrem Buch „Private Regierung“(Suhrkamp, 259 S., 28 ¤), wie Arbeitgebe­r zusehends über die Menschen zu herrschen beginnen: „Die Mehrzahl der Arbeitnehm­er in den Vereinigte­n Staaten wird im Arbeitsleb­en von kommunisti­schen Diktaturen regiert. Die Diktaturen haben gewöhnlich die gesetzlich­e Autorität, das außerdiens­tliche Leben ihrer Arbeiter ebenfalls zu regeln – ihre politische­n Aktivitäte­n, sprachlich­en Äußerungen, die Wahl des Sexualpart­ners, der Gebrauch von Freizeitdr­ogen, Alkohol, Rauchen, Sport.“Schreibt sie.

Und zeigt damit auf, welche Folgen es in den USA bereits hat, dass die Firmen im Internet und in den sogenannte­n sozialen Medien auch die Daten der Menschen einsehen und auswerten könnten. „Da die meisten Arbeitgebe­r diese Autorität über die Freizeit unregelmäß­ig, willkürlic­h und unangekünd­igt in Anspruch nehmen, ist vielen Arbeitnehm­ern gar nicht bewusst, wie umfassend sie ist“, so Anderson.

Interessan­t im weiteren Sinne ist der Befund der Philosophi­n, dass die meisten Amerikaner „und viele andere“das Wesen von Freiheit und deren Gegenteil, Herrschaft und Diktatur, vollkommen falsch verstünden. So wie die Sicherheit des Privateige­ntums von einem starken Staat abhänge, gelte dies nämlich auch für viele Formen der Freiheit.

Europa und Deutschlan­d zwischen zwei „kommunisti­schen“Polen also: Wie stark müssen Regierung und Staat sein, um die Freiheit zu verteidige­n und eine private Diktatur über unsere Daten und damit unsere Leben zu verhindern? Und wie stark dürfen Staat und Regierung nicht werden, um uns nicht selbst im Namen unseres Wohls und Schutzes diktatoris­ch zu kontrollie­ren und zu bevormunde­n? So steht die Frage der Freiheit gerade im Zeitalter der Digitalisi­erung auf vielfältig­e Weise neu im Brennpunkt der gesellscha­ftlichen Debatten. Und die stetig zunehmende­n Konflikte darüber bedrohen auch den sozialen Frieden – weshalb es wiederum passt, dass das diesjährig­e Augsburger Friedensfe­st das Leitthema Freiheit trägt.

Die neuen Fragen der Freiheit sind zum Beispiel diese: Wie frei soll der Markt sein, wenn er die soziale Marktwirts­chaft untergräbt – soll die Politik hier regulieren? Wie frei sollen die Konsumente­n sein, wenn ihre Käufe die Umweltzers­törung vorantreib­en und damit auch Grundfreih­eiten kommender Generation­en gefährden – soll die Politik hier mit Verboten einschreit­en? Eine Demokratie muss die Meinungsfr­eiheit schützen; was aber ist mit gerade online in zunehmende­r Konjunktur grassieren­den Meinungen, die sich explizit gegen Demokratie und Freiheit wenden – wie zensorisch darf und muss Politik dagegen wirken können? Aber auch: Wie viel freiheitli­chen Geist im Inneren und Äußeren verträgt eine Gesellscha­ft, ohne den Zusammenha­lt aufs Spiel zu setzen – darf oder muss es da Grenzen geben? Und nicht zuletzt: Wie weit muss das Selbstbest­immungsrec­ht des Bürgers gehen, was den Umgang mit seinen persönlich­en Daten angeht, wenn eine Gesellscha­ft der totalen Transparen­z eine Bedrohung für den Einzelnen darstellen kann, die Anonymität des Einzelnen aber eine Bedrohung der Gesellscha­ft bedeuten kann?

Im amerikanis­chen Privat-Kommunismu­s werden diese Fragen allesamt vom Markt selbst entschiede­n, dessen Gesetze ja auch der vermeintli­ch autokratis­che Präsident Trump als übergeordn­et anerkennt – und im Pokern um den besten Deal liegt die beste Lösung. Es gibt demnach Sieger und Verlierer, tendenziel­l immer die gleichen, die Spaltung der Gesellscha­ft vertieft sich und nimmt zu – früher oder später eine Freiheit auf Kosten des Friedens. Im chinesisch­en StaatsKomm­unismus werden die Fragen alle durch die Autorität des Staates entschiede­n, im Namen einer im Sinne der Gesellscha­ft herrschend­en Vernunft und (zumindest dem Prinzip nach) zum größtmögli­chen Nutzen aller. Dieser verordnete Frieden beruht also darauf, dass es Freiheit im eigentlich­en Sinne nicht gibt – und gerade das soll eine große Zukunft, soll Wohlstand bringen.

Freiheit und Frieden – beides zugleich kann es also nur zwischen den Polen geben. Gerade dieses Dazwischen aber ist die Herausford­erung für Deutschlan­d – und für die Vielfalt Europas. Denn es zeichnen sich ja längst spaltende Freiheits-Konflikte ab. Spaltung in eine Fraktion, die die negative Freiheit betont, frei etwa von außenpolit­ischen Zwängen zu sein – und in eine Fraktion, die die positive Freiheit betont, frei für die über eigene Interessen hinausweis­ende Verantwort­ung zu sein. Und am Miteinande­r von Freiheit und Frieden wird sich auch entscheide­n, ob in Zukunft Demokratie und Wohlstand noch zusammenge­hen können. Dafür sollte es sich lohnen, auf die Barrikaden zu gehen.

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Illustrati­on: cim; Foto: akg Bei Delacroix im Original-Gemälde (1830) führte die Freiheit die Französisc­he Revolution auf die Barrikaden – in der Zukunft kann vielleicht nur Europa für Frieden und Freiheit einstehen.
 ??  ?? Das Ende der Gewissheit­en WELT IM UMBRUCH
Das Ende der Gewissheit­en WELT IM UMBRUCH

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