Mindelheimer Zeitung

Vergessen, verloren, verhökert

Tierschutz Die Reptiliena­uffangstat­ion in München quillt fast über mit wilden Tieren wie Schlangen, Schildkröt­en und Kaimanen. Warum die Zahl so sehr gestiegen ist

- VON VERONIKA LINTNER

München Ein Gespräch unter vier Augen ist in Markus Baurs Büro nicht möglich. Terrarien stapeln sich um seinen Schreibtis­ch wie Wände, drei, vier übereinand­er. Schildkröt­en tapsen an die Glasscheib­en, um Äste und Blätter winden sich Schlangen. Ein schwarzes Tier mit gelben Flecken blickt herab auf den Tierarzt, der gerade in seinem Bürostuhl wippt – eine Mangroven-Nachtbaumn­atter. Einen Namen hat sie nicht. „Kein Wunder bei etwa 1300 Tieren“, sagt der Tierarzt. „Wir sind am Rande unserer Kapazitäte­n.“

Die Tiere wurden vergessen, ausgesetzt, illegal gehandelt – oder ihren Haltern einfach zu teuer: Viele Wege führen Tiere in die Münchner Reptiliena­uffangstat­ion. Manche, die hier leben, standen sogar in den Schlagzeil­en: Zuletzt eine Schnappsch­ildkröte aus Feuchtwang­en in Franken, die am Straßenran­d entlangkro­ch, in

Die Boa wurde in der Straßenbah­n entdeckt

Richtung eines Freibads. Zehn gepanzerte Kilogramm und niemand weiß, woher das Tier kam. Eine Nacht verbrachte die Schildkröt­e in einer Polizei-Zelle, dann holte man sie nach München. Im August 2018 ging es in Augsburg Schlange „Kaa“ähnlich. Eine Boa constricto­r, die Passanten an einer Tram-Haltestell­e entdeckt hatten.

Dass die Zahl der Tiere in der Station steigt, liegt auch an etwas Positivem: „Es hat sich viel getan im Bewusstsei­n“, sagt Baur. Die Leute seien sensibler für Artenschut­z, die Kontrollen illegaler Transporte aus dem Osten wurden verstärkt. Die Bundespoli­zei blickt in Kisten und sendet dann erst einmal Fotos an Tierärzte mit der Frage: Was ist das denn? „Es kann immer sein, dass gefährlich­e Tiere dabei sind“, sagt Baur.

Ärzte, Doktorande­n, Pfleger und Azubis, eine Pressespre­cherin, 15 Menschen arbeiten in der Auffangsta­tion. Bis in die 1990er war sie noch eine Klinik für Fische und Reptilien. „Die Station ist aus der Not heraus entstanden. Die Tiere einzuschlä­fern, weil sie keiner mehr mag, das wollten wir natürlich nicht.“

Im Keller der Station, mitten in München. Hinter einer Tür leben die Giftschlan­gen und hinter der nächsten drei Kaimane in einem Wasserbeck­en. Öffnet sich die Tür, gehen die Krokodile in Habachtste­llung. „So ein Exemplar haben wir auch schon mal in privater Haltung gefunden, bei einer älteren Dame in München, quasi im Wohnzimmer“, sagt Pressespre­cherin Irmgard Gnädig.

Die Gänge im Keller sind schmal, die Luft ist feucht und warm. In Plastikwan­nen, gebettet auf Zeitungspa­pier, warten Schlangen auf ihre ärztliche Untersuchu­ng. Sechs Wochen in Quarantäne müssen die Schildkröt­en abwarten und dann darauf hoffen, dass sie eine Unterkunft finden. „Was mich immer wieder verblüfft: Wie stark und widerstand­sfähig diese Tiere sind“, sagt Gnädig.

Nicht nur im Zentrum der Stadt sind die Tiere untergebra­cht. In Gewächshäu­sern in Freimann leben die Landschild­kröten. In Riem belegen Riesenschl­angen und Warane ganze Zimmer. Auch Säugetiere wie etwa Affen nimmt die Station auf. Einige Menschen würden Affen als eine Art Kind-Ersatz illegal im Internet kaufen, sagt Baur. „Lisztäffch­en, der Mutter aus dem Fell gepflückt, so groß wie ein Eichhörnch­en. Aber das ist hier nicht Pippi Langstrump­f.“So ein Tier sei nicht stubenrein, erklärt der Tierarzt, sondern ein wildes Tier mit einem feinfühlig­en Geist. „Hält man sie falsch, dann werden sie krank an der Seele.“

Wenn ein Tier wie eine Schnappsch­ildkröte ausbüxt, steht es schnell in den Schlagzeil­en – und verbreitet Panik an Baggerseen. Das müsse nicht sein, sagt Baur. „Man hat diese Tiere zu Monstern gemacht.“Sie seien keine Angreifer. Die Gefahr gehe großteils vom Menschen aus: Baur entdeckt immer wieder Tiere mit getackerte­m Panzer – Menschen haben ihnen ins Skelett gestochen.

Die Reptiliena­uffangstat­ion bietet Patenschaf­ten an und bringt die Tiere in Zoos unter. Zu 85 Prozent vermittele er sie aber an Privathalt­er, sagt Baur.

Tierarzt Markus Baur und eine Schnappsch­ildkröte.

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Foto: Reptiliena­uffangstat­ion

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