Vergessen, verloren, verhökert
Tierschutz Die Reptilienauffangstation in München quillt fast über mit wilden Tieren wie Schlangen, Schildkröten und Kaimanen. Warum die Zahl so sehr gestiegen ist
München Ein Gespräch unter vier Augen ist in Markus Baurs Büro nicht möglich. Terrarien stapeln sich um seinen Schreibtisch wie Wände, drei, vier übereinander. Schildkröten tapsen an die Glasscheiben, um Äste und Blätter winden sich Schlangen. Ein schwarzes Tier mit gelben Flecken blickt herab auf den Tierarzt, der gerade in seinem Bürostuhl wippt – eine Mangroven-Nachtbaumnatter. Einen Namen hat sie nicht. „Kein Wunder bei etwa 1300 Tieren“, sagt der Tierarzt. „Wir sind am Rande unserer Kapazitäten.“
Die Tiere wurden vergessen, ausgesetzt, illegal gehandelt – oder ihren Haltern einfach zu teuer: Viele Wege führen Tiere in die Münchner Reptilienauffangstation. Manche, die hier leben, standen sogar in den Schlagzeilen: Zuletzt eine Schnappschildkröte aus Feuchtwangen in Franken, die am Straßenrand entlangkroch, in
Die Boa wurde in der Straßenbahn entdeckt
Richtung eines Freibads. Zehn gepanzerte Kilogramm und niemand weiß, woher das Tier kam. Eine Nacht verbrachte die Schildkröte in einer Polizei-Zelle, dann holte man sie nach München. Im August 2018 ging es in Augsburg Schlange „Kaa“ähnlich. Eine Boa constrictor, die Passanten an einer Tram-Haltestelle entdeckt hatten.
Dass die Zahl der Tiere in der Station steigt, liegt auch an etwas Positivem: „Es hat sich viel getan im Bewusstsein“, sagt Baur. Die Leute seien sensibler für Artenschutz, die Kontrollen illegaler Transporte aus dem Osten wurden verstärkt. Die Bundespolizei blickt in Kisten und sendet dann erst einmal Fotos an Tierärzte mit der Frage: Was ist das denn? „Es kann immer sein, dass gefährliche Tiere dabei sind“, sagt Baur.
Ärzte, Doktoranden, Pfleger und Azubis, eine Pressesprecherin, 15 Menschen arbeiten in der Auffangstation. Bis in die 1990er war sie noch eine Klinik für Fische und Reptilien. „Die Station ist aus der Not heraus entstanden. Die Tiere einzuschläfern, weil sie keiner mehr mag, das wollten wir natürlich nicht.“
Im Keller der Station, mitten in München. Hinter einer Tür leben die Giftschlangen und hinter der nächsten drei Kaimane in einem Wasserbecken. Öffnet sich die Tür, gehen die Krokodile in Habachtstellung. „So ein Exemplar haben wir auch schon mal in privater Haltung gefunden, bei einer älteren Dame in München, quasi im Wohnzimmer“, sagt Pressesprecherin Irmgard Gnädig.
Die Gänge im Keller sind schmal, die Luft ist feucht und warm. In Plastikwannen, gebettet auf Zeitungspapier, warten Schlangen auf ihre ärztliche Untersuchung. Sechs Wochen in Quarantäne müssen die Schildkröten abwarten und dann darauf hoffen, dass sie eine Unterkunft finden. „Was mich immer wieder verblüfft: Wie stark und widerstandsfähig diese Tiere sind“, sagt Gnädig.
Nicht nur im Zentrum der Stadt sind die Tiere untergebracht. In Gewächshäusern in Freimann leben die Landschildkröten. In Riem belegen Riesenschlangen und Warane ganze Zimmer. Auch Säugetiere wie etwa Affen nimmt die Station auf. Einige Menschen würden Affen als eine Art Kind-Ersatz illegal im Internet kaufen, sagt Baur. „Lisztäffchen, der Mutter aus dem Fell gepflückt, so groß wie ein Eichhörnchen. Aber das ist hier nicht Pippi Langstrumpf.“So ein Tier sei nicht stubenrein, erklärt der Tierarzt, sondern ein wildes Tier mit einem feinfühligen Geist. „Hält man sie falsch, dann werden sie krank an der Seele.“
Wenn ein Tier wie eine Schnappschildkröte ausbüxt, steht es schnell in den Schlagzeilen – und verbreitet Panik an Baggerseen. Das müsse nicht sein, sagt Baur. „Man hat diese Tiere zu Monstern gemacht.“Sie seien keine Angreifer. Die Gefahr gehe großteils vom Menschen aus: Baur entdeckt immer wieder Tiere mit getackertem Panzer – Menschen haben ihnen ins Skelett gestochen.
Die Reptilienauffangstation bietet Patenschaften an und bringt die Tiere in Zoos unter. Zu 85 Prozent vermittele er sie aber an Privathalter, sagt Baur.
Tierarzt Markus Baur und eine Schnappschildkröte.