Mindelheimer Zeitung

Der Horror von Kaufering

Gedenken Vor 75 Jahren kamen im Konzentrat­ionslager-Komplex Kaufering die ersten KZ-Insassen an. Tausende litten hier, Tausende starben. Manfred Deiler hält die Erinnerung an sie wach. Und Leslie Rosenthal erzählt eine Geschichte, die unfassbar klingt

- VON STEFANIE DÜRR UND LEONIE KÜTHMANN

Kaufering Gerade wollte Manfred Deiler anfangen zu erklären, da stürmt eine Herde Schafe auf ihn zu. „Die sind neugierig“, sagt der 66-Jährige und rückt seinen Hut zurecht. Deiler blickt über das Gelände mit den sechs Ruinen. Drei gewölbte, mit Pflanzen bewachsene, über 13 Meter lange Baracken sind noch relativ gut erhalten. Sie ragen wie gleichmäßi­g geformte Hügel aus der Erde. Die Baracken bestehen aus Tonröhren, die ineinander­gesteckt wurden. Einst hausten KZInsassen in ihnen. „Es ist jetzt 75 Jahre her, dass im Konzentrat­ionslager Kaufering der erste Transport angekommen ist. Das war im Juni 1944“, erklärt Deiler.

Er ist Präsident des Vereins „Europäisch­e Holocaustg­edenkstätt­e Stiftung“, dem etwa ein Drittel des ehemaligen Lagers VII gehört und der das Gelände pflegt. Kaufering VII zählte zu einem Lagerkompl­ex, der aus elf Einzel-Lagern bestand und eines der Außenlager des KZ Dachau war. Kaufering VII ist von den elf Lagern das einzig noch erhaltene und eine Europäisch­e Holocaustg­edenkstätt­e.

Seit 30 Jahren forscht Deiler zum KZ, es ist seine Lebensaufg­abe, das merkt man schnell. Energisch erzählt er von den Konservier­ungsarbeit­en vor wenigen Jahren. Aber vor allem spricht er über die Menschen, die einst hier leiden mussten. Und ums Leben kamen. Er will ihnen ein Gesicht geben und hat dafür Unmengen an Informatio­nen zusammenge­tragen. Dass es die Gedenkstät­te gibt, kommt fast einem Wunder gleich. Aus dem Kauferinge­r Lager I ist ein Industrieg­ebiet geworden, aus Lager III eine Schreberga­rtenanlage. In Lager IV wurde eine Kiesgrube ausgehoben. „All diese Orte sind systematis­ch ausgelösch­t worden“, ärgert sich Deiler. „Kaufering VII ist durch 100000 Zufälle erhalten geblieben.“Um die Erinnerung an die Grauen des NaziRegime­s für künftige Generation­en wach zu halten, wünschen sich die Stiftung, Historiker und die Grünen, dass auf dem Gelände ein Dokumentat­ionszentru­m entsteht.

Kaufering sei kein Vernichtun­gslager gewesen, erklärt später Edith Raim am Telefon. „Aber effektiv wurde nichts unternomme­n, um die Menschen am Leben zu erhalten.“Ein Zeitzeuge bezeichnet­e dies als „kaltes Krematoriu­m“. Raim lehrt an der Universitä­t Augsburg, die ehemaligen Konzentrat­ionslager in Bayern sind ihr Spezialgeb­iet.

Sie weiß: Die KZ-Häftlinge arbeiteten an halbunteri­rdischen Bunkern zur Flugzeugpr­oduktion, für die SS habe die Devise gegolten: „Vernichtun­g durch Arbeit.“Hitze, Kälte, Hunger und Krankheite­n trugen ebenso zur „Vernichtun­g“bei. Ungezählte Häftlinge starben in den Kauferinge­r Lagern im Zuge einer Typhusepid­emie. Wie viele es insgesamt waren, ist schwer zu sagen. Raim geht von 7000 bis 10 000 Menschen aus. Um die 23 000 sollen im Konzentrat­ionslager-Komplex Kaufering untergebra­cht gewesen sein. „Bis 1944 waren fast alle Juden in Europa, die im Herrschaft­sbereich der Nationalso­zialisten lebten, ermordet. Diejenigen, die übrig geblieben sind, wurden nach Deutschlan­d deportiert und in den Außenlager­n von Kaufering eingesetzt“, sagt Raim. Darunter seien litauische, polnische, ungarische, deutsche und belgische Juden gewesen. Sie seien teils aus Lagern wie Auschwitz gekommen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele all das verdrängen wollen, sagt Manfred Deiler. Die ehemaligen Konzentrat­ionslager störten dabei. Deshalb wurden die Gelände, auf denen sie errichtet worden waren, oft anderweiti­g genutzt oder dem Erdboden gleichgema­cht. Mitte der 70er sollte die Bundeswehr Kaufering VII bei einer Übung beseitigen. Dazu kam es dann nicht.

Deiler führt regelmäßig Interessie­rte durch das ehemalige Lager VII, seit Jahrzehnte­n schon. Auf die Frage, ob er negative Erfahrunge­n gemacht habe, schüttelt er den Kopf. „Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich gesagt hätte: Das ist jetzt so schräg, da brech’ ich ab. Eher im Gegenteil.“Selbst wenn jemand eine provokante Ansicht habe, biete das die Möglichkei­t für eine sachliche Auseinande­rsetzung, findet Deiler. Bei seinen Führungen erlebt er verschiede­ne Sichtweise­n. „Andere Länder haben

eine andere Herangehen­sweise und Mentalität.“

Was er damit meint? Viele Amerikaner folgen etwa den Spuren der US-Serie „Band of Brothers“, antwortet er. In einer Szene der Serie wird die Befreiung des Kauferinge­r Lagers IV gezeigt. „Die Amerikaner denken, dass die Soldaten damals Kaufering befreit hätten und alle haben gejubelt. Die waren aber alle tot, da war niemand mehr zum Befreien, die hat man bei lebendigem Leib verbrannt“, sagt Deiler in eindringli­chen Worten.

Einmal sei eine japanische Gruppe zu Besuch gewesen. „Da war ein junger Kerl dabei, dessen Vater in der Forschung tätig war und mit Museen zusammenar­beitet. Der meinte, dass sie Düfte für Ausstellun­gen wie diese hier herstellen.

Wenn wir Interesse hätten, sollten wir uns melden.“So etwas geht Deiler deutlich zu weit. „Wir wollen hier keine Inszenieru­ng.“

Und wenn Holocaust-Überlebend­e an seinen Führungen teilnehmen? Dann gestalte er sie anders, sagt er. „Wenn es um das Leben im Lager geht, erzähle ich nicht im Beisein eines Häftlings, wie es dort war. Ich versuche, ihn einzubinde­n, und lasse ihn erzählen.“Deiler will niemanden überwältig­en, nicht durch Bilder von Leichen und nicht durch Videoaufna­hmen. Besucher sollen die Baracken und seine Erklärunge­n auf sich wirken lassen.

So wollte es auch Leslie Rosenthal angehen, als er 1986 im ehemaligen KZ Dachau stand. Als er sich dort umsah, wurde er fast ohnmächtig. So erzählt er es. In der KZ-Gedenkoft stätte Dachau gab es eine Ausstellun­g und in dieser ein Dokument. Aus dem ging hervor, dass sieben schwangere Frauen im Lager Kaufering I untergebra­cht waren.

Leslie Rosenthal ist eines der sieben Babys, die im KZ zur Welt kamen – und überlebten. Ein Wunder. Die Nationalso­zialisten haben seine Geburt – am 28. Februar 1945 – dokumentie­rt. „Meine Mutter brachte Leben in eine Welt voller Tod und Zerstörung.“Dass er in „der Hölle“, wie es seine Mutter nannte, geboren wurde, habe er erst als Teenager erfahren.

Rosenthal lebt im kanadische­n Toronto, wo seine Mutter Miriam 2018 starb. Nach Deutschlan­d kehrte sie, eine Jüdin, nie zurück. Leslie aber reiste 2010 nach Dachau, um den 65. Jahrestag der Befreiung des KZ zu feiern. Dort traf er vier der damaligen Babys, die in Kaufering geboren wurden. Er nennt sie seine „Lagergesch­wister“. Dass sie die „letzten lebenden Verbindung­en zum Holocaust“sein könnten, ist für ihn ernüchtern­d. Gleichwohl hat er Hoffnung: „Bei meiner letzten Reise nach Dachau war ich beeindruck­t, wie viele Schüler die Gedenkstät­te besuchen.“Aufklärung, da ist er mit seiner Mutter stets einer Meinung gewesen, sei der einzige Weg, um Unwissenhe­it zu verhindern. „Nur ein Museum besuchen, reicht nicht: Man muss es den Menschen jahrelang erzählen, sodass das Wissen ein Teil der Person wird.“

Leslie Rosenthal erinnert sich daran, dass bei ihnen zu Hause kein deutsches Wort gefallen sei, obwohl seine Mutter die Sprache konnte. Sie war in der früheren Tschechosl­owakei geboren worden, in der Familie wurde Ungarisch und Deutsch gesprochen. Als ihr Sohn Leslie 1986 beruflich nach Deutschlan­d reiste, ermunterte sie ihn dennoch, nach Dachau zu fahren. Dort, im Konzentrat­ionslager, haben ihn diese Fragen nicht mehr losgelasse­n, wenn er auf eine ältere Person traf: „Wo warst du und was hast du während des Holocaust gemacht? Was wusstest du und warst du Teil des Nazi-Regimes?“Leslie Rosenthal suchte auf Wunsch seiner Mutter nach dem Lager Kaufering I, seinem Geburtsort. „Ich fand mehrere kleine Gedenkstät­ten, aber ich glaube nicht, dass das Kaufering I war“, mutmaßt er im Rückblick.

Zur Zeit seiner Deutschlan­d-Reise, in den 80ern, begann die Aufarbeitu­ng erst so richtig, erklärt Edith Raim von der Universitä­t Augsburg. Zwar setzten sich die Menschen – aus Entsetzen – kurz nach

„Kaufering VII ist durch 100000 Zufälle erhalten geblieben.“

Manfred Deiler, Präsident „Europäisch­e Holocaustg­edenkstätt­e Stiftung e.V.“

Leslie Rosenthal mit seiner Mutter nach dem Krieg.

„Aufklärung ist der einzige Weg, um Unwissenhe­it zu verhindern.“

Leslie Rosenthal, Überlebend­er Lager Kaufering I

dem Krieg mit dem Thema auseinande­r: „Bis 1950 wurden große Friedhöfe geschaffen, es gab Gedenkfeie­rn und Aufarbeitu­ng vor Ort.“Doch dann, so Raim, seien die jüdischen Überlebend­en ausgewande­rt. In den 50er und 60er Jahren habe es keine Auseinande­rsetzung mit dem, was im Dritten Reich geschehen sei, gegeben.

Manfred Deiler hat eine der Baracken von Kaufering VII betreten. „Jetzt sind wir in einer der Frauenunte­rkünfte. Hier lebten 90 Frauen, die in doppelstöc­kigen Betten schliefen“, erklärt er. In Kaufering VII hausten alle Insassen in extrem beengten Verhältnis­sen. Deiler streicht über eine der Tonröhren, von der Teile fehlen. „Wir haben hier nur konservier­t. Alles, was da ist, ist original. Wir haben nichts ergänzt, nur stabilisie­rt.“Bei den Konservier­ungsarbeit­en 2015 wurden Unterschri­ften von KZ-Häftlingen an der Wand gefunden – für Deiler eine Form des Widerstand­s. „Wenn ich einen Namen hinterlass­e, heißt das, ich bin nicht nur eine Nummer, sondern ich war hier – erinnert euch an mich.“

Wieder draußen. Ein unauffälli­ger Weg führt in den Wald. Der Wind weht durch die Bäume, sonst ist es still. Einer von elf KZ-Friedhöfen in Kaufering. Auf dem Areal sind Rasenstück­e eingegrenz­t. „Das sind die Markierung­en der Massengräb­er“, sagt Deiler. Auch er ist still geworden. „Für Angehörige ist es wichtig, dass man überhaupt verorten kann, was aus der vermissten Person geworden ist.“Viele Familien habe er gekannt, sagt er. Sagt: Die Menschen seien das Wichtigste an seiner Arbeit. „Vor 30 Jahren hat uns zunächst das Thema interessie­rt – schnell sind wir aber an den Menschen hängen geblieben.“Danach sagt er einen Satz, der ebenfalls hängen bleibt: „Ich hab’ die Erfahrung gemacht, dass jeder, der hierher kommt, auch etwas mitbringt. Und damit meine ich nicht nur Wissen.“

 ?? Fotos: Leonie Küthmann (2) ?? Das ehemalige Konzentrat­ionslager Kaufering VII gehörte zu einem Lagerkompl­ex, der aus elf Einzel-Lagern bestand. Der Verein „Europäisch­e Holocaustg­edenkstätt­e Stiftung“kümmert sich um einen Teil des Areals mit den Tonröhrenb­aracken und den Gedenkstei­nen.
Fotos: Leonie Küthmann (2) Das ehemalige Konzentrat­ionslager Kaufering VII gehörte zu einem Lagerkompl­ex, der aus elf Einzel-Lagern bestand. Der Verein „Europäisch­e Holocaustg­edenkstätt­e Stiftung“kümmert sich um einen Teil des Areals mit den Tonröhrenb­aracken und den Gedenkstei­nen.
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Archivfoto: Rosenthal
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Manfred Deiler erklärt die Bauweise der Tonröhrenb­aracken.

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