Der Horror von Kaufering
Gedenken Vor 75 Jahren kamen im Konzentrationslager-Komplex Kaufering die ersten KZ-Insassen an. Tausende litten hier, Tausende starben. Manfred Deiler hält die Erinnerung an sie wach. Und Leslie Rosenthal erzählt eine Geschichte, die unfassbar klingt
Kaufering Gerade wollte Manfred Deiler anfangen zu erklären, da stürmt eine Herde Schafe auf ihn zu. „Die sind neugierig“, sagt der 66-Jährige und rückt seinen Hut zurecht. Deiler blickt über das Gelände mit den sechs Ruinen. Drei gewölbte, mit Pflanzen bewachsene, über 13 Meter lange Baracken sind noch relativ gut erhalten. Sie ragen wie gleichmäßig geformte Hügel aus der Erde. Die Baracken bestehen aus Tonröhren, die ineinandergesteckt wurden. Einst hausten KZInsassen in ihnen. „Es ist jetzt 75 Jahre her, dass im Konzentrationslager Kaufering der erste Transport angekommen ist. Das war im Juni 1944“, erklärt Deiler.
Er ist Präsident des Vereins „Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung“, dem etwa ein Drittel des ehemaligen Lagers VII gehört und der das Gelände pflegt. Kaufering VII zählte zu einem Lagerkomplex, der aus elf Einzel-Lagern bestand und eines der Außenlager des KZ Dachau war. Kaufering VII ist von den elf Lagern das einzig noch erhaltene und eine Europäische Holocaustgedenkstätte.
Seit 30 Jahren forscht Deiler zum KZ, es ist seine Lebensaufgabe, das merkt man schnell. Energisch erzählt er von den Konservierungsarbeiten vor wenigen Jahren. Aber vor allem spricht er über die Menschen, die einst hier leiden mussten. Und ums Leben kamen. Er will ihnen ein Gesicht geben und hat dafür Unmengen an Informationen zusammengetragen. Dass es die Gedenkstätte gibt, kommt fast einem Wunder gleich. Aus dem Kauferinger Lager I ist ein Industriegebiet geworden, aus Lager III eine Schrebergartenanlage. In Lager IV wurde eine Kiesgrube ausgehoben. „All diese Orte sind systematisch ausgelöscht worden“, ärgert sich Deiler. „Kaufering VII ist durch 100000 Zufälle erhalten geblieben.“Um die Erinnerung an die Grauen des NaziRegimes für künftige Generationen wach zu halten, wünschen sich die Stiftung, Historiker und die Grünen, dass auf dem Gelände ein Dokumentationszentrum entsteht.
Kaufering sei kein Vernichtungslager gewesen, erklärt später Edith Raim am Telefon. „Aber effektiv wurde nichts unternommen, um die Menschen am Leben zu erhalten.“Ein Zeitzeuge bezeichnete dies als „kaltes Krematorium“. Raim lehrt an der Universität Augsburg, die ehemaligen Konzentrationslager in Bayern sind ihr Spezialgebiet.
Sie weiß: Die KZ-Häftlinge arbeiteten an halbunterirdischen Bunkern zur Flugzeugproduktion, für die SS habe die Devise gegolten: „Vernichtung durch Arbeit.“Hitze, Kälte, Hunger und Krankheiten trugen ebenso zur „Vernichtung“bei. Ungezählte Häftlinge starben in den Kauferinger Lagern im Zuge einer Typhusepidemie. Wie viele es insgesamt waren, ist schwer zu sagen. Raim geht von 7000 bis 10 000 Menschen aus. Um die 23 000 sollen im Konzentrationslager-Komplex Kaufering untergebracht gewesen sein. „Bis 1944 waren fast alle Juden in Europa, die im Herrschaftsbereich der Nationalsozialisten lebten, ermordet. Diejenigen, die übrig geblieben sind, wurden nach Deutschland deportiert und in den Außenlagern von Kaufering eingesetzt“, sagt Raim. Darunter seien litauische, polnische, ungarische, deutsche und belgische Juden gewesen. Sie seien teils aus Lagern wie Auschwitz gekommen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg hätten viele all das verdrängen wollen, sagt Manfred Deiler. Die ehemaligen Konzentrationslager störten dabei. Deshalb wurden die Gelände, auf denen sie errichtet worden waren, oft anderweitig genutzt oder dem Erdboden gleichgemacht. Mitte der 70er sollte die Bundeswehr Kaufering VII bei einer Übung beseitigen. Dazu kam es dann nicht.
Deiler führt regelmäßig Interessierte durch das ehemalige Lager VII, seit Jahrzehnten schon. Auf die Frage, ob er negative Erfahrungen gemacht habe, schüttelt er den Kopf. „Ich kann mich an keine Situation erinnern, in der ich gesagt hätte: Das ist jetzt so schräg, da brech’ ich ab. Eher im Gegenteil.“Selbst wenn jemand eine provokante Ansicht habe, biete das die Möglichkeit für eine sachliche Auseinandersetzung, findet Deiler. Bei seinen Führungen erlebt er verschiedene Sichtweisen. „Andere Länder haben
eine andere Herangehensweise und Mentalität.“
Was er damit meint? Viele Amerikaner folgen etwa den Spuren der US-Serie „Band of Brothers“, antwortet er. In einer Szene der Serie wird die Befreiung des Kauferinger Lagers IV gezeigt. „Die Amerikaner denken, dass die Soldaten damals Kaufering befreit hätten und alle haben gejubelt. Die waren aber alle tot, da war niemand mehr zum Befreien, die hat man bei lebendigem Leib verbrannt“, sagt Deiler in eindringlichen Worten.
Einmal sei eine japanische Gruppe zu Besuch gewesen. „Da war ein junger Kerl dabei, dessen Vater in der Forschung tätig war und mit Museen zusammenarbeitet. Der meinte, dass sie Düfte für Ausstellungen wie diese hier herstellen.
Wenn wir Interesse hätten, sollten wir uns melden.“So etwas geht Deiler deutlich zu weit. „Wir wollen hier keine Inszenierung.“
Und wenn Holocaust-Überlebende an seinen Führungen teilnehmen? Dann gestalte er sie anders, sagt er. „Wenn es um das Leben im Lager geht, erzähle ich nicht im Beisein eines Häftlings, wie es dort war. Ich versuche, ihn einzubinden, und lasse ihn erzählen.“Deiler will niemanden überwältigen, nicht durch Bilder von Leichen und nicht durch Videoaufnahmen. Besucher sollen die Baracken und seine Erklärungen auf sich wirken lassen.
So wollte es auch Leslie Rosenthal angehen, als er 1986 im ehemaligen KZ Dachau stand. Als er sich dort umsah, wurde er fast ohnmächtig. So erzählt er es. In der KZ-Gedenkoft stätte Dachau gab es eine Ausstellung und in dieser ein Dokument. Aus dem ging hervor, dass sieben schwangere Frauen im Lager Kaufering I untergebracht waren.
Leslie Rosenthal ist eines der sieben Babys, die im KZ zur Welt kamen – und überlebten. Ein Wunder. Die Nationalsozialisten haben seine Geburt – am 28. Februar 1945 – dokumentiert. „Meine Mutter brachte Leben in eine Welt voller Tod und Zerstörung.“Dass er in „der Hölle“, wie es seine Mutter nannte, geboren wurde, habe er erst als Teenager erfahren.
Rosenthal lebt im kanadischen Toronto, wo seine Mutter Miriam 2018 starb. Nach Deutschland kehrte sie, eine Jüdin, nie zurück. Leslie aber reiste 2010 nach Dachau, um den 65. Jahrestag der Befreiung des KZ zu feiern. Dort traf er vier der damaligen Babys, die in Kaufering geboren wurden. Er nennt sie seine „Lagergeschwister“. Dass sie die „letzten lebenden Verbindungen zum Holocaust“sein könnten, ist für ihn ernüchternd. Gleichwohl hat er Hoffnung: „Bei meiner letzten Reise nach Dachau war ich beeindruckt, wie viele Schüler die Gedenkstätte besuchen.“Aufklärung, da ist er mit seiner Mutter stets einer Meinung gewesen, sei der einzige Weg, um Unwissenheit zu verhindern. „Nur ein Museum besuchen, reicht nicht: Man muss es den Menschen jahrelang erzählen, sodass das Wissen ein Teil der Person wird.“
Leslie Rosenthal erinnert sich daran, dass bei ihnen zu Hause kein deutsches Wort gefallen sei, obwohl seine Mutter die Sprache konnte. Sie war in der früheren Tschechoslowakei geboren worden, in der Familie wurde Ungarisch und Deutsch gesprochen. Als ihr Sohn Leslie 1986 beruflich nach Deutschland reiste, ermunterte sie ihn dennoch, nach Dachau zu fahren. Dort, im Konzentrationslager, haben ihn diese Fragen nicht mehr losgelassen, wenn er auf eine ältere Person traf: „Wo warst du und was hast du während des Holocaust gemacht? Was wusstest du und warst du Teil des Nazi-Regimes?“Leslie Rosenthal suchte auf Wunsch seiner Mutter nach dem Lager Kaufering I, seinem Geburtsort. „Ich fand mehrere kleine Gedenkstätten, aber ich glaube nicht, dass das Kaufering I war“, mutmaßt er im Rückblick.
Zur Zeit seiner Deutschland-Reise, in den 80ern, begann die Aufarbeitung erst so richtig, erklärt Edith Raim von der Universität Augsburg. Zwar setzten sich die Menschen – aus Entsetzen – kurz nach
„Kaufering VII ist durch 100000 Zufälle erhalten geblieben.“
Manfred Deiler, Präsident „Europäische Holocaustgedenkstätte Stiftung e.V.“
Leslie Rosenthal mit seiner Mutter nach dem Krieg.
„Aufklärung ist der einzige Weg, um Unwissenheit zu verhindern.“
Leslie Rosenthal, Überlebender Lager Kaufering I
dem Krieg mit dem Thema auseinander: „Bis 1950 wurden große Friedhöfe geschaffen, es gab Gedenkfeiern und Aufarbeitung vor Ort.“Doch dann, so Raim, seien die jüdischen Überlebenden ausgewandert. In den 50er und 60er Jahren habe es keine Auseinandersetzung mit dem, was im Dritten Reich geschehen sei, gegeben.
Manfred Deiler hat eine der Baracken von Kaufering VII betreten. „Jetzt sind wir in einer der Frauenunterkünfte. Hier lebten 90 Frauen, die in doppelstöckigen Betten schliefen“, erklärt er. In Kaufering VII hausten alle Insassen in extrem beengten Verhältnissen. Deiler streicht über eine der Tonröhren, von der Teile fehlen. „Wir haben hier nur konserviert. Alles, was da ist, ist original. Wir haben nichts ergänzt, nur stabilisiert.“Bei den Konservierungsarbeiten 2015 wurden Unterschriften von KZ-Häftlingen an der Wand gefunden – für Deiler eine Form des Widerstands. „Wenn ich einen Namen hinterlasse, heißt das, ich bin nicht nur eine Nummer, sondern ich war hier – erinnert euch an mich.“
Wieder draußen. Ein unauffälliger Weg führt in den Wald. Der Wind weht durch die Bäume, sonst ist es still. Einer von elf KZ-Friedhöfen in Kaufering. Auf dem Areal sind Rasenstücke eingegrenzt. „Das sind die Markierungen der Massengräber“, sagt Deiler. Auch er ist still geworden. „Für Angehörige ist es wichtig, dass man überhaupt verorten kann, was aus der vermissten Person geworden ist.“Viele Familien habe er gekannt, sagt er. Sagt: Die Menschen seien das Wichtigste an seiner Arbeit. „Vor 30 Jahren hat uns zunächst das Thema interessiert – schnell sind wir aber an den Menschen hängen geblieben.“Danach sagt er einen Satz, der ebenfalls hängen bleibt: „Ich hab’ die Erfahrung gemacht, dass jeder, der hierher kommt, auch etwas mitbringt. Und damit meine ich nicht nur Wissen.“