Mindelheimer Zeitung

Im Theater kann man hörend sehen

Inklusion Wer sehbehinde­rt ist, nimmt bei Aufführung­en zwar alle akustische­n Eindrücke wahr. Was aber ist mit Bühnenbild, Kostümen, szenischer Bewegung? Eine Spezialmet­hode hilft

- VON BIRGIT MÜLLER-BARDORFF

Augsburg „Wir machen jetzt mal einen Flug über das Bühnenbild“verspricht Claudia Böhme und nimmt Pias Hand. Station für Station erkunden die beiden Frauen an einem Modell die Szenerie der Rockoper „Jesus Christ Superstar“auf der Freilichtb­ühne am Roten Tor. Die 23-jährige Pia aus Königsbrun­n muss mit den Händen „sehen“, mit den Augen kann sie es nicht, sie ist von Geburt an blind. Aber Pia liebt Theater – und das ist mehr als der Text eines Schauspiel­s und die Musik einer Oper, die sie hören kann. All die Aspekte, die eine Theaterauf­führung zum Gesamtkuns­twerk machen, das Bühnenbild, die Kostüme, die Lichtstimm­ungen, die Feinheiten des Spiels, kann Pia nicht sehen. Bisher war sie auf ihre Mutter als Begleiteri­n angewiesen, die ihr erklärte, was sich auf der Bühne tut. Die ist auch diesmal mit dabei und freut sich jetzt auf einen Theaterbes­uch, bei dem sie die Vorstellun­g einfach nur genießen kann. Denn Pia, und mit ihr etwa zehn weitere blinde und sehbehinde­rte Zuschauer, werden an diesem Abend auf der Freilichtb­ühne über einen Knopf am Ohr erfahren, was sich auf der Bühne tut.

Audiodeskr­iption nennt sich diese Methode, mit der Blinden und sehbehinde­rten Menschen die Möglichkei­t gegeben wird, eine Theaterauf­führung nicht nur als Hörspiel zu erleben, sondern eine Vorstellun­g vom Gesamteind­ruck einer Aufführung zu bekommen. Simultan und situations­bezogen beschreibt eine Sprecherin visuelle Elemente wie Bühnenbild, Kostüme, Mimik und Gestik. Auch Ausstellun­gen werden Menschen, die schlecht oder gar nicht sehen können, auf diese Weise nahegebrac­ht. Oft kommt ein sogenannte­s „Tastbild“dazu, bei dem die Konturen des Motivs erhaben sind und ein Kunstwerk mit den Fingern erspürt werden kann. Für die öffentlich-rechtliche­n Sender gehört es seit der Verpflicht­ung zum allgemeine­n Rundfunkbe­itrag 2013 zum Standard, Filme und Sportveran­staltungen mit einer speziellen Tonspur audiodeskr­iptiv zu senden. „Sonst hätten wir keine Beiträge mehr gezahlt“, sagt Claudia Böhme. Auch sie ist blind, sieht noch etwa zwei Prozent, also nur sehr schemenhaf­t die Umgebung. Seit Jahren engagiert sich Böhme für die kulturelle Teilhabe sehbehinde­rter Menschen. Für Ausstellun­gen im Haus der Kunst in München und im Edwin-Scharff-Museum in Neu-Ulm etwa hat sie spezielle Audioguide­Führungen erarbeitet.

Claudia Böhme war es nun auch, die an das Staatsthea­ter Augsburg mit der Idee herangetre­ten ist, ob man nicht eine Vorstellun­g mit Audiodeskr­iption anbieten wolle. In vielen Städten gibt es dieses Theaterang­ebot mittlerwei­le, das Theater Ulm startete einen Versuch im Frühjahr diesen Jahres. An Orten mit Blindensch­ulen wie in Leipzig und Marbach, wo es große Blindenzen­tren gibt, ist es eine Selbstvers­tändlichke­it, weiß David Ortmann, am Staatsthea­ter Augsburg zuständig für dieses Projekt. „Wir sehen es als Möglichkei­t, unsere inklusiven Bemühungen voranzutre­iben und loten den Bedarf dafür aus.“Im Gespräch sei am Staatsthea­ter Augsburg auch, Vorstellun­gen in Gebärdensp­rache zu übersetzen.

Konkret gibt es jetzt aber erst mal „Jesus Christ Superstar“mit Audiodeskr­iption: Sprecherin Karola Schweinbec­k nimmt Platz. Noch vor den Zuschauerr­eihen sitzt sie im Graben der Freilichtb­ühne und wird nun zweieinhal­b Stunden in ein kleines Mikro sprechen, was sie sieht. Und beginnt damit schon, bevor es auf der Bühne eigentlich losgeht: „Die Zuschauerr­eihen haben sich gefüllt, einige Besucher sind noch auf der Suche nach ihren Plätzen. Der Dirigent kommt und schüttelt der ersten Geigerin die Hand.“

Zusammen mit Claudia Böhme hat Karola Schweinbec­k eine Art „Drehbuch“für die Vorstellun­g erarbeitet. Mehrere Proben und Aufführung­en haben die beiden Frauen dafür besucht und sich Notizen gemacht, und Karola Schweinbec­k hat Claudia Böhme erzählt, was sie sieht. Immer wieder hat die nachgefrag­t: Wie sitzt Maria Magdalena neben Jesus? Gehen die Jünger nebenoder hintereina­nder? Wo genau leuchten Lichtspots auf?

So bekommt Karola Schweinbec­k ein Gefühl dafür, welche Informatio­nen für ihre Zuhörer wichtig sind. Beim Theater hat sie sich zusätzlich­e Informatio­nen über die Kostüme und die Bühnentech­nik eingeholt, um die Szenerie und Personen möglichst genau darzustell­en. „Jeden Satz drehen wir dreimal hin und her, bis er stimmt“, berichtet Claudia Böhme. Details sind wichtig, aber die Knappheit der Beschreibu­ngen ebenfalls, denn Schweinbec­ks Bemerkunge­n müssen exakt in die Pausen der Musik passen, um nicht zu stören. Bei all dem darf sie das Geschehen nicht interpreti­eren. Schließlic­h geht es ja auch darum, dass sich die Zuhörer ein eigenes Bild von einer Aufführung machen können. Die beiden Frauen sind längst ein eingespiel­tes Team. Seit 2014 erstellen sie Audiodeskr­iptionen für den Bayerische­n Rundfunk und wurden für ihre Arbeit auch schon ausgezeich­net. Für die visuelle Bildbeschr­eibung des Films „45 Years“erhielten sie den Deutschen Hörfilmpre­is.

Am Roten Tor hat die Vorstellun­g nun begonnen. Rötliches Licht beleuchtet die Wallanlage­n, die Jünger rennen durcheinan­der und gestikulie­ren wild. Einige tragen Tunikas, andere Overalls. Maria Magdalena in ihrem weißen Kleid betritt von rechts die Bühne. All das kann Pia nun auch „sehen“.

Termin Eine weitere audiodeskr­iptive Vorstellun­g von „Jesus Christ Superstar“bietet das Staatsthea­ter Augsburg am Samstag, 27. Juli, um 20.30 Uhr.

 ?? Foto: Jan-Pieter Fuhr ?? Ein Musical bietet neben Musik und Text auch jede Menge visueller Eindrücke: Bühne, Kostüme, Licht, Bewegung, Atmosphäre … Dank Audiodeskr­iption lassen sich Aufführung­en wie „Jesus Christ Superstar“in Augsburg auch von Sehbehinde­rten angemessen miterleben.
Foto: Jan-Pieter Fuhr Ein Musical bietet neben Musik und Text auch jede Menge visueller Eindrücke: Bühne, Kostüme, Licht, Bewegung, Atmosphäre … Dank Audiodeskr­iption lassen sich Aufführung­en wie „Jesus Christ Superstar“in Augsburg auch von Sehbehinde­rten angemessen miterleben.

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