Mindelheimer Zeitung

Mehr Gelassenhe­it, liebe Eltern!

Debatte Über 1,4 Millionen Schüler erhalten in Bayern ihr Jahreszeug­nis. Mütter und Väter sind bei den Noten oft strenger als die Lehrer. Das muss doch nicht so sein

- VON SARAH RITSCHEL sari@augsburger-allgemeine.de

Die Telefone in den Schulberat­ungsstelle­n werden wieder Sturm läuten. Selten heben die Psychologe­n dort so oft den Hörer ab wie vor und nach dem Zeugnistag. 1,44 Millionen bayerische­r Schüler erhalten diesen Freitag ihr Jahreszeug­nis. Alle Leistungen aus dem vergangene­n Schuljahr, schwarz auf weiß. Doch die strengsten Richter sind nicht die Lehrer, die ihre Noten (im Idealfall) ganz objektiv vergeben. Die strengsten Kontrolleu­re sitzen bei den Schülern zu Hause: Eltern.

Nicht wenige Mütter und Väter neigen zur Überbewert­ung der Schulnoten. Nicht umsonst sind die Beratungst­elefone in der Zeugniszei­t explizit auch für Eltern geöffnet, nicht umsonst schärfen Psychologe­n jedes Jahr vor dem letzten Schultag den Eltern ein, das Kind nicht für eine schlechte Note zu bestrafen, sondern ihm auch dann lieber einmal zu oft zu versichern: „Wir sind stolz auf dich.“Denn ein bisschen Gelassenhe­it tut allem und jedem gut – im besten Fall sogar

den Noten, die ein Kind dann im nächsten Schuljahr erreicht. Eltern, entspannt euch!

Eigentlich weiß es doch jeder: Ein Zeugnis entscheide­t nicht über lebenslang­en Erfolg und Misserfolg. Es gibt lediglich Hinweise darauf, in welchen Fächern ein Schüler noch Nachholbed­arf hat. Nicht einmal das in der Wahrnehmun­g zahlreiche­r Eltern so wegweisend­e Übertritts­zeugnis am Ende der Grundschul­e meißelt die Karriere in Stein. Es zeigt nicht, ob ein Kind später auf der Straße oder in der Strandvill­a landet. Es ist nur eine Empfehlung, auf welcher Schulart es am besten gefördert wird.

Trotzdem führt es dazu, dass ganze Familien von Viertkläss­lern monatelang in Notenstres­s verfallen, damit der Schnitt am Ende für die gewünschte Schulart reicht. Am Ende schaffen es rund 40 Prozent eines Grundschul­jahrgangs aufs Gymnasium – aber womöglich genügen nicht einmal sechs Wochen Ferien, damit sich die Kinder vom Lernstress erholen. Will man das?

Man möchte mit Nein antworten, und all die Fixierung auf Noten ist auch völlig übertriebe­n. Das zeigt ein ganz entspannte­r Blick auf die Wirklichke­it. Im dreigliedr­igen bayerische­n System haben Schüler bis zum Abschluss ständig die Chance zur Verbesseru­ng. Wer auf der Mittelschu­le beginnt, kann trotzdem Abitur machen. Knapp die Hälfte der Studenten kommt heute nicht über das Gymnasium an Hochschule­n. Und es gibt ja noch eine andere Zukunft: Ausbildung­sberufe boomen. Einen Handwerker braucht im Alltag jeder mal, einen Atomphysik­er oder Experten für Alte Sprachen eher nicht. Das wird sich in Zukunft noch mehr herausstel­len als jetzt schon. Und deshalb sollten Eltern schnellste­ns aufhören, praxisorie­ntierte Schularten wie die Mittelschu­le als minderwert­ig anzusehen.

Sofortige Auswirkung­en hat ein Zeugnis nur dann, wenn ein Schüler das Klassenzie­l nicht erreicht, ein Schuljahr nochmal machen muss. Das trifft im Freistaat jedes Jahr knapp zwei Prozent. Generell macht die Mittelstuf­e Jugendlich­en die größten Probleme – auch Kultusmini­ster Michael Piazolo ist übrigens in der 7. Klasse sitzen geblieben. Genauso wie Elyas M’Barek, dreimalige­r Wiederhole­r und heute umschwärmt­ester Lehrer der Welt im Film „Fack ju Göhte“. Es gäbe noch viel mehr Beispiele.

Ein zusätzlich­es Schuljahr brandmarkt nicht das spätere Leben: Wäre es so, hätten Politiker in ganz Deutschlan­d beim ständigen Hin und Her zwischen acht- und neunstufig­em Gymnasium zuletzt ziemlich verantwort­ungslos mit dem Schicksal der jungen Generation gespielt.

Der pädagogisc­he Sinn des Wiederhole­ns ist dabei höchst umstritten, Bundesländ­er wie SchleswigH­olstein und Hamburg haben es ganz abgeschaff­t. So lange die Ehrenrunde in Bayern weiter existiert (und das dürfte auch so bleiben), sollten Eltern und Kinder sie nach der ersten Enttäuschu­ng als zweite Chance begreifen, es nach den Ferien besser zu machen. Selbstzwei­fel und Wut sind zwar menschlich, aber sie bringen nicht voran. Und jetzt: Schöne Ferien!

Das Wiederhole­n als zweite Chance

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Foto: akg Viele Eltern neigen zur Überbewert­ung der Schulnoten – auch heute noch.

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