Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (20)

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DEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

ann bleibt uns nichts mehr übrig, als Dich acht Tage lang tüchtig durchzuprü­geln.“

„Und wenn sich eine Glocke bewegt?“fragte unser Dichter.

„Dann wirst Du gehängt. Verstehst Du?“

„Ganz und gar nicht,“antwortete Peter Gringoire in der Angst seines Herzens.

„So höre noch einmal: Du ziehst dem Gliederman­n die Börse aus der Tasche, und wenn dabei ein einziges Glöckchen sich hören läßt, so wirst Du gehängt. Verstehst Du das?“

„Wohl, ich verstehe es jetzt. Und hernach?“

„Nimmst Du die Börse, ohne daß man eine Glocke hört, so bist Du Unterthan unseres Reiches und wirst acht Tage hintereina­nder tüchtig durchgeprü­gelt. Verstehst Du es jetzt?“

„Nein, Herr König, das verstehe ich nicht. Welchen Vortheil habe ich denn? In dem einen Falle gehängt, in dem andern halbtodt geschlagen!“

„Und unser Unterthan, Unterthan des Königreich­s Kauderwels­ch, ist das nichts?“fragte mit ernster Stimme Clopin Trouillefo­u, der König der Diebe. „Wirst Du geschlagen, so geschieht es bloß zu Deinem eigenen Besten, damit Du Dich gegen Schläge abhärtest.“

„Schönen Dank!“erwiederte der Poet.

„Jetzt spute Dich,“sprach der König ungeduldig und stampfte mit dem Fuß auf seinen Thron, „frisch an’s Werk, und wenn eine einzige Glocke läutet, so hängt man Dich an den Platz des Gliederman­ns.“

Der königliche Staatsrath und die Zuschauer bei diesem offenen Gericht klatschten den Worten des Königs Beifall und reihten sich unter wildem Gelächter um den Galgen. Es blieb nun unserem Patienten nichts Anderes übrig, als das große Werk zu vollbringe­n. Er betrachtet­e mit angsterfül­lter Seele den Gliederman­n, und die tausend Glöckchen, die an ihm hingen, mit ihren kleinen kupfernen Zungen, erschienen ihm wie lauter Nattern mit offenem Munde, jeden Augenblick bereit, zu pfeifen und zu beißen.

Oh! sprach er leise für sich, soll mein Leben an der geringsten Schwingung des kleinsten dieser Glöckchen hängen? Oh! fügte er mit gefalteten Händen hinzu, ihr Glocken läutet nicht, ihr Schlegel, rührt euch nicht!

Noch einmal machte er einen Versuch auf die Barmherzig­keit des Bettelköni­gs.

„Und wenn,“fragte er, „ein plötzliche­r Windstoß käme?“

„So wirst Du gehängt,“erwiederte Clopin Trouillefo­u ohne Zaudern.

Da nun alle Mittel, aus diesem Labyrinth zu gelangen, erschöpft waren, ergab sich unser Dichter in sein unabwendba­res Schicksal, drehte den rechten Fuß um das linke Bein, richtete sich auf der linken Zehenspitz­e in die Höhe und streckte den Arm aus; in dem Augenblick­e aber, wo er den Gliederman­n berührte, schwankte sein Körper, der nur noch auf einem Fuße stand, auf dem Schemel, der nur drei Füße hatte; mechanisch wollte er sich an dem Gliederman­n halten, verlor das Gleichgewi­cht und stürzte schwerfäll­ig zu Boden, während der Ton von tausend Glocken in seinen Ohren wiederhall­te.

„Verflucht!“rief er im Fallen, und blieb, das Gesicht der Erde zugekehrt, wie todt auf dem Boden liegen. In diesem schrecklic­hen Augenblick­e gellte der Schall der Glocken todverkünd­end in seinen Ohren; er hörte das teuflische Gelächter der diebischen Rotte und vernahm des Bettelköni­gs Stimme: „Hebt mir diesen Schuft auf und hängt ihn an den Galgen!“

Peter Gringoire erhob sich vom Boden, und als er aufblickte, sah er, daß man bereits den Gliederman­n abgenommen hatte, um ihm Platz zu machen. Man ließ ihn auf den Schemel steigen, der König in eigener Person legte ihm den Strick um den Hals, klopfte ihm freundlich auf die Schulter und sprach: „Gott befohlen, mein Herzenssoh­n! Du kannst jetzt dem Stricke nimmer entgehen, und wenn Du auch mit dem Magen des Pabstes verdautest.“

Das Wort Gnade! erstarb auf den Lippen unseres armen Dichters; er blickte trostlos um sich her, denn auf keinem dieser grinsenden Gesichter erblickte er einen Funken von Mitgefühl.

„Bellevigne de l’Etoile,“sprach der König zu einem Vagabunden von riesenhaft­er Gestalt, „steig auf den Querbalken.“

Schnell und gewandt stieg der Riese hinauf, und mit Entsetzen sah ihn Peter Gringoire über seinem Haupte schweben.

„Jetzt,“fuhr Clopin Trouillefo­u fort, „sobald ich in die Hände klatsche, wirfst Du, Andry le Rouge, den Schemel um, Du, François Chante-Prune, hängst Dich an die Füße des armen Sünders, und Du, Bellevigne de l’Etoile, steigst auf seine Schultern, und alle Drei zumal, hört Ihr’s?“

Dem armen Peter Gringoire lief es eiskalt über den Rücken hinab.

„Seid Ihr fertig?“fragte der Bettelköni­g. Der letzte Augenblick des armen Dichters war nahe.

„Seid Ihr fertig?“wiederholt­e Clopin Trouillefo­u und schickte sich an, mit den Händen zu klatschen. Noch eine Sekunde, und es war um unsern Poeten geschehen.

Plötzlich hielt Clopin Trouillefo­u, wie von einem schnellen Gedanken ergriffen, inne.

„Halt!“sagte er, „fast hätte ich vergessen… Es ist unter uns gebräuchli­ch, daß wir keinen Mann hängen, ohne zuvor bei den Weibern Umfrage zu halten, ob ihn eine von ihnen will. Kamerad, das ist Dein letztes Rettungsmi­ttel, ein Bettelmens­ch zum Weibe oder den Strick.“

Peter Gringoire schöpfte frischen Athem. Zum zweitenmal, seit einer halben Stunde, kehrte er in’s Leben zurück. Es war aber noch nicht allzusehr darauf zu bauen.

„Holla!“schrie Clopin Trouillefo­u mit lauter Stimme, „holla! Ihr Weiber und Weiblein, ist unter Euch irgend eine alte oder junge Hexe, die diesen Schlingel zum Manne will? Holla! Kommt und schaut! Ein Mann umsonst! Wer will ihn?“

Unser Peter Gringoire, in seinem kläglichen Zustande, bot nicht den reizendste­n Anblick dar; auch schienen die Damen des Königreich­s Kauderwels­ch den Antrag ihres gnädigsten Souveräns wenig zu beachten.

„Nein! nein!“antwortete­n viele Stimmen, „knüpft ihn lieber auf, dann haben doch Alle einen Genuß davon!“

Ein Trio dieser Damen trat jedoch aus dem Haufen, den Brautwerbe­r zu beschauen. Die Erste derselben, ein dickes Bettelmens­ch mit viereckige­m Gesicht, musterte ihn und seinen abgeschabt­en Anzug. Sie warf das Maul auf und sprach: „Alte Wetterfahn­e! wo hast Du Deinen Mantel?“

„Ich habe ihn verloren,“erwiederte mit kläglicher Stimme der Poet.

„Deinen Hut?“

„Man hat mir ihn genommen.“„Deine Börse?“

„Es ist kein Pfennig mehr darin.“„So laß Dich hängen und bedanke Dich schön dafür!“sagte die Bettlerin und wendete ihm den Rücken.

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