„Deutschland befindet sich in einer seltsamen Spaltung“
Interview Vor drei Jahren wurde die Republik von einer Reihe von Anschlägen erschüttert. Was das mit unserer Gesellschaft gemacht hat, erklärt der Psychologe Stephan Grünewald
Nizza, Würzburg, München, Ansbach. Schlag auf Schlag erfolgten vor drei Jahren die Anschläge auf das Sicherheitsgefühl vieler Menschen. Haben diese Tage im Sommer 2016 etwas in Deutschland verändert, Herr Grünewald?
Diese Taten wirken noch heute als Bedrohungskulisse nach. Deutschland befindet sich in einer seltsamen Spaltung. Einerseits nehmen die Menschen wahr, dass die Welt von vielen Krisen heimgesucht wird: Migration, Klimawandel, Terrorismus, Digitalisierung. Gleichzeitig empfinden sie Deutschland als eine Art „Auenland“. Den meisten Menschen geht es wirtschaftlich gut, wir haben eine niedrige Arbeitslosigkeit, eine stabile Gesundheitsversorgung. Das führt dazu, dass alles, was bedrohlich erscheint, wie in einer „bad bank“ausgelagert wird – ins „Grauenland“, das eines Tages über unser geliebtes „Auenland“hereinbricht. Und das, was wir vor drei Jahren erlebt haben, galt als ein Vorgeschmack auf dieses „Grauenland“, eine Vorahnung davon, wie es werden könnte. Das hat zu einer Grundsensibilisierung geführt. Die Menschen hatten das Gefühl, sie könnten die Probleme nicht länger auf „Mutter Merkel“abwälzen, sondern müssten selbst wachsam werden.
Die Flüchtlingskrise ist abgeebbt, selbst Innenminister Seehofer wählt heute einen moderaten Ton. Ist also alles wieder gut?
Wir sind froh, wenn die Lage und die Gemüter sich wieder beruhigen. Gleichzeitig spüren wir auch, dass wir aus dem Dornröschenschlaf erwachen und aktiver werden müssten. Das fällt uns aber schwer. Statt Zukunftsvisionen zu entwickeln, klammern wir uns lieber an der Gegenwart fest.
Dabei könnte dieses Aufgewühltsein doch auch sein Gutes entfalten. Die Gesellschaft scheint sich so sehr für Politik zu interessieren wie lange nicht.
Das Aufgewühltsein kann auch Ausdruck einer gestauten Verwandlungsenergie sein. Wir scheuen uns vor großen Veränderungen und merken doch gleichzeitig, dass die Zeit drängt. Das Ventil für diese unterdrückte Schaffenskraft ist dann oft Wut.
Ist ein Ventil für diesen Handlungsstau auch das Engagement vieler im Kampf gegen den Klimawandel? Es wirkt bisweilen wie ein Heilsversprechen, ein besserer Mensch zu werden, wenn man kein Fleisch mehr isst und nicht mehr fliegt.
Grünewald:
Die Sehnsucht ist groß, einen konkreten „Anpack“zu finden, wie man etwas ändern kann. Die Globalisierung oder auch die Digitalisierung sind viel zu schwer zu greifen. Das war schon bei der Flüchtlingskrise anders. Da bekam das Beunruhigende eine Gestalt in Form von Menschen, die anders aussehen, die anders sprechen und die ich an der Grenze abweisen kann. Auch der Klimawandel eröffnet konkrete Handlungsmöglichkeiten: Jeder kann weniger Fleisch essen, weniger fliegen oder ein kleineres Auto fahren. Die Menschen haben damit gefühlt einen Hebel zur Weltrettung in der Hand.
… den aber doch die wenigsten betätigen. Die Zahl der Vegetarier ist gering, die Flughäfen melden Passagierrekorde. Handeln soll lieber die Politik.
Diese Forderung ist eine Entlastung, denn es ist anstrengend, sich selbst zu disziplinieren. Es gibt deshalb eine wachsende Sehnsucht nach Verboten. Raucher halten sich an Verbote, weil sie dann nicht mehr bei jeder Zigarette mit sich selbst ringen müssen. Kinder hoffen insgeheim, dass ihnen die Eltern den Handykonsum verbieten. Verbote ersparen den Menschen den eigenen inneren Kampf, sie delegieren Verantwortung. Verbote gewährleisten aber auch, dass alle gemeinsam verzichten. Eine Voraussetzung für eine funktionierende Gesellschaft ist, dass alle den gleichen Verzicht leisten müssen. Momentan erleben wir aber, dass die Wirtschaft scheinbar Narrenfreiheit hat und die Bürger das ausbaden sollen. Auch das trägt dazu bei, dass die Gesellschaft aufgewühlt ist.
Erleben Sie in ihren psychologischen Interviews auch einen neuen Konflikt zwischen Jungen und Älteren?
Es gibt eine Konfliktlinie: Die jungen Leute argwöhnen eine Art Verrat auf der Seite ihrer Eltern, sie vermuten, dass die nicht über ihren eigenen Tellerrand hinausblicken. Deshalb werden sie etwa bei „Fridays for future“aktiv. Doch einen richtigen Generationenkonflikt gibt es nicht. Die Jugend versteht ihren Protest als Weckruf und nicht als Revolte. Sie will, dass die Erwachsenen etwas ändern. Umgekehrt freuen sich die Erwachsenen, dass die Jugendlichen auf die Straße gehen und hoffen, dass die später einmal anders handeln als sie heute. Jeder schiebt die Verantwortung also dem anderen zu. Es entsteht eine Betroffenheitssymbiose ohne wirkliche Konsequenz.
Wirklich aufmüpfig ist die Jugend also nicht?
Die Jugendlichen leiden unter einer brüchigen Welt, in der viele Familien auseinandergehen. Sie sehen es als ihre Aufgabe, die Gesellschaft zusammenzuhalten. Sie würden auch bei „Fridays for future“am liebsten Eltern und Lehrer ans Händchen nehmen. Sie schwänzen zwar die Schule, aber irgendwie auch die Revolution.
Findet die Politik die richtigen Antworten auf all diese Entwicklungen?
Die Politik hat es schwer, sie ist hin- und hergerissen zwischen dem Auftrag, das Land stabil zu halten und dem Wunsch, den globalen Krisen mit radikalen Veränderungen zu begegnen. Kanzlerin Angela Merkel stand lange für eine Politik der ruhigen Hand. Das Zittern Merkels kann man fast auf die Republik übertragen. Es kündigt ein drohendes Beben an, kommt aber noch nicht zum offenen Ausbruch.
„Was wir vor drei Jahren erlebt haben, galt als ein Vorgeschmack auf das ,Grauenland‘“.
Stephan Grünewald über die Welle der Gewalt im Jahr 2016
„Sie schwänzen zwar die Schule, aber irgendwie auch die Revolution.“
Stephan Grünewald über die Jugendlichen von „Fridays for future“