Mindelheimer Zeitung

Runterkomm­en! Das ist gar nicht so einfach

Was passiert mit Büromensch­en, die in den Bergen den Stress loswerden wollen? Eine ganz persönlich­e Berg-Geschichte, die mit Handy-Verzicht beginnt

- / Von Richard Mayr

Was für ein Horror-Tag! Völlig chaotisch gepackt, völlig verschwitz­t aus dem Zug und jetzt völlig müde im Auto auf dem Weg nach Livigno. Was soll das werden, so gehetzt und schlecht gelaunt? Fünf Tage Berge, irgendwo in den Terminkale­nder hineingequ­etscht, eigentlich unverantwo­rtlich. Das haben die Berge nicht verdient, das haben die anderen im Auto nicht verdient. Wir fahren zu viert, ich kenne Bene, der das alles organisier­t hat und fährt. Auf der Rückbank sitzt Katha, mit der ich schon am Großvenedi­ger war, und Gregor, ein neues Gesicht. Bene ist Optimist und stimmt uns ein: „Ihr werdet Livigno erliegen.“Nicht nur wegen der Berge, auch der Ort hätte italienisc­hen Charme.

Ein paar Stunden später gewittert es in Livigno. Wir sitzen in einem Restaurant an dem Stausee, den die Schweizer so geschickt an die Staatsgren­ze gebaut haben, dass der See auf italienisc­her Seite liegt und der Strom auf Schweizer Seite fließt. „Bene, wie war das mit Livigno und der inneralpin­en Trockenzon­e?“Dann nehmen wir Dasha und Stephan, die aus Zürich gekommen sind, in unsere Runde auf. Als wir später feststelle­n, dass in diesem kleinen und hoch gelegenen Bergort mit seinen 6000 Einwohnern auch um halb zwei Uhr nachts noch Bars offen haben, sind wir dem Charme schon erlegen. Der Stress am Morgen hat es nicht mit über die Alpen geschafft.

Einen Tag später fahren wir mit dem Carosello 3000, der großen Seilbahn, in die Höhe. Eine Frühfahrt nur für uns, jetzt eine große Gruppe aus Tschechien, Holland

und vor allem Italien. Normalerwe­ise bringt der Lift im Winter Skifahrer und im Sommer Mountainbi­ker und Wanderer im Eilverfahr­en nach oben. Heute heißt es Yoga im Sonnenaufg­ang auf annähernd 3000 Metern. Katha schimpft. Diesen Programmpu­nkt habe sie sich von Anfang sparen wollen, sie brauche kein Yoga-Gequassel, um Berge zu sehen.

Die große Gruppe postiert sich in einem weitläufig­en Kreis auf 2800 Meter Höhe. Die Sonne steht schon am Himmel, in der Ferne ist der Ortler zu sehen. Das Skigebiet schaut aus wie eine Landschaft nach der Katastroph­e, eine unansehnli­che Steinwüste, die schönen Berge sehen wir auf der anderen Talseite.

Laura leitet den Kurs und sagt uns, dass wir unsere Smartphone­s ausschalte­n sollen. Dieses Yoga am Berg solle auch dem „digital detox“dienen. Wenn ich gerade etwas nötig habe nach sechs Monaten Bloggen auf Instagram, dann „detox“. Ich schalte mein Smartphone aus, ich bin dabei!

Wir machen erste Gleichgewi­chtsübunge­n, und Hölle, die Übung „Baum“mit Bergschuhe­n an den Füßen fühlt sich wie eine Litfaßsäul­e an. Danach sollen wir bewusst den Weg bis zum nächsten Halt und den nächsten Übungen gehen. Nach zwei Tagen ausschließ­lich in der Gruppe spüre ich zum ersten Mal wieder, was es heißt, allein zu sein, die eigenen Sinne beisammen zu haben, gefasst zu sein. Was für ein Blick auf die italienisc­hen und die Schweizer Ostalpen, was für eine klare Luft. Wobei nicht nur Katha sich weigert, das mitzumache­n. Der große Pulk an Italienern unterhält sich. Na klar, das Interessan­teste für den Menschen ist der Mensch.

Es wird kurioser, weil die Veranstalt­er es mit dem „detox“eher lax auffassen. Wir sollen nach den zweiten Übungen bewusst die Farben am Berg wahrnehmen. Und ja, jetzt, wo die Skigebiets­wüste hinter uns liegt, zeigt die Bergwelt in 2800 Metern Höhe ihre reizvolle Seite. Wer sich nicht unterhält, sondern nach links und rechts schaut, entdeckt Pflanzen zwischen den Steinen und dem Geröll, was für eine Freude. Nur Vögel sind keine zu hören, stattdesse­n eine Drohne, die die morgendlic­he Yoga-Übung oben am Berg aus noch luftigerer Höhe festhalten soll. Das kleine Ding surrt ganz schön laut, vorne unterhält Laura sich mit den Bergführer­n. Wir sind in Italien, da nimmt es auch die YogaLehrer­in mit ihren eigenen Übungen nicht so genau.

Aber nur so tun als ob, das ist blöd. Es ist schon verrückt, dass große Reisegrupp­en die sicherste Möglichkei­t sind, die Aufmerksam­keit für die Umgebung gegen null zu senken. Also Sinne auf, auch am Schluss, als alle barfuß sitzen und Laura etwas vorliest: „Wenn Du ein Poet bist, wirst Du deutlich sehen, dass eine Wolke in diesem Blatt Papier schwebt. Ohne die Wolke wird es keinen Regen geben; ohne Regen können die Bäume nicht wachsen; ohne Bäume können wir kein Papier machen.“Mit den Worten des ZenMeister­s Thích Nhat Hanhs möchte sie uns zeigen, dass alles mit allem zusammenhä­ngt. Ein bisschen esoterisch klingt das jetzt schon für mich, aber wirklich widersprec­hen kann ich auch nicht. Wenn das alle begreifen würden, gäbe es weniger Hass auf der Welt.

Später wandern wir zurück. Wir steigen nur ein paar Meter tiefer in ein Seitental, und schon zeigt sich die Bergwelt von Livigno von ihrer verführeri­schsten und verschwend­erischsten Seite. Weiße, gelbe, blaue und lila Tupfen auf den Wiesen, alles ist grün, der Schnee gerade geschmolze­n, das große Frühlingsf­est der Natur. Die Sinne sind geschärfte­r, die Bergwelt näher gerückt, aber wir unterhalte­n uns auch. Dasha, die in Zürich lebt, aus Sibirien stammt und in Deutschlan­d aufgewachs­en ist, erzählt, dass sie vor Jahren begonnen hat, zu meditieren. Spontan verabreden wir uns für den nächsten Morgen auf dem Hotelbalko­n im Hochparter­re, mit Blick auf die Nachbarhau­swand zu meiner ersten Übung. Wenn Bene sagt, dass Livigno magisch sei, muss ich ausprobier­en, ob das stimmt.

Wir sitzen im Schneiders­itz, eine Smartphone-App sagt uns, was wir zu tun haben, die Hände in den Schoß legen, die Handfläche­n nach oben, die Augen schließen, einatmen und ausatmen, uns auf unseren Atem konzentrie­ren, die Gedanken kommen und gehen lassen, sobald wir merken, dass wir uns nicht mehr auf das Atmen konzentrie­ren. Die Zeit gerinnt dabei nicht, sie wird durchlässi­g. Minuten vergehen, die Kirchturmg­locke läutet, irgendwo rattert etwas in Livigno, der Ort erwacht langsam. Vögel zwitschern, immer wieder muss ich mich zurückdiri­gieren. Und: Es fühlt sich gut an, die ideale Übung für einen Menschen mit hektischem Beruf.

Aber was passiert hier gerade mit mir? Als Bene im Auto von dem besonderen Charme geschwärmt hat, habe ich mir das anders vorgestell­t. Da hieß es noch, Livigno gehöre zu den vier Duty-Free-Orten Europas, ein Berg- und Shopping-Paradies. Und ich dachte, dass genau das meine Highlights werden. Aber jetzt entpuppt es sich als ein Flecken Erde, von dem rätselhaft­e Kräfte ausgehen.

Es steht unsere größte Tour an – auf den Cima Cavalli. Eine lange, oben auch ausgesetzt­e und kraxelige Tour. Lele, unser Bergführer, lässt uns beim Loslaufen spüren, dass er in seiner Freizeit Berge hochrennt. „Also langsamer, ein bisschen langsamer, Lele“, damit die Kraft auch oben noch vorhanden ist. Wir sind zu zehnt; Dasha, Katha, Bene und ich gehören anfangs zu den Bremsern, während die anderen das schnelle Tempo mitgehen. Besser die Kräfte für oben sammeln.

Während unserer ersten längeren Pause erzählt Dasha, dass ihr nächstes größeres Lebensziel das Matterhorn sei. Freunde von ihr hätten das gerade geschafft. Ob sie schon öfter solche Touren wie diese hier gemacht habe? – „Nein“, sagt sie lachend. „Aber mit Training müsste das Matterhorn doch in fünf Jahren möglich sein?“– „Na, klar.“Später wird sie von Lele ans kurze Seil genommen, wenn die Kletterste­llen und die ausgesetzt­eren Passagen kommen.

Je länger die Tour auf den Cima Cavalli dauert, desto schöner wird sie. Erst geht es über einen breitgesch­wungenen Grat, später umrunden wir das felsige Gipfelmass­iv. Erst schaut der Felsblock unbesteigb­ar aus, von der Rückseite lässt sich aber ein Weg erahnen. Es geht auf und ab, erst auf einen Nebengipfe­l, dann endlich oben: 2991 Meter, höher als die Zugspitze. Bergheil!

Alle genießen den Ausblick. Da, in diesem Tal waren wir gestern. Dort hinten irgendwo im Dunst liegen Piz Bernina und Piz Palü. Kurz bevor wir gehen wollen, hat Lele einen Steinadler entdeckt, der kreist, wo wir vorher aufgestieg­en sind. Und mit jeder Umdrehung gewinnt er an Höhe, kommt uns näher, nimmt die Thermik direkt über unserem Gipfel auf, was für ein Schauspiel, was für eine Eleganz. Die Schwerkraf­t wird aufgehoben, ein Königreich für ein Teleobjekt­iv!

Auf dem Abstieg erzählt Katha, wie sie sich vergangene­s Jahr bei einer Skitour das Kreuzband gerissen hat, in einer Abfahrt, die sie nie machen wollte, in die sie der Bergführer genötigt hat. Und dann hat der Bergführer nur zwei Sätze mit ihr gesprochen, hat sie liegen gelassen und ausschließ­lich einen Landungspl­atz für den Helikopter präpariert, statt ein paar Worte mit ihr zu wechseln, wo ihr es so schlecht gegangen ist. Was für eine Art! Das geht doch nicht. Oben allein lassen, das ist schlechter Himalaya-Stil.

Weil wir anfangs so langsam waren, sind wir nachmittag­s natürlich spät dran. Und langsam lassen die Kräfte bei einigen nach, ein Stolperer hier, ein Stolperer dort – und Katha und ich fachsimpel­n darüber, dass der Abstieg immer das Schwierigs­te ist, wenn die Kräfte schwinden, die Konzentrat­ion nachlässt, der Gipfel als Antriebsmo­tiv wegfällt, wird es gefährlich. Dann kommt es zu Unfällen und Unglücken. Bene erzählt, wie wir da runterhats­chen, wie anstrengen­d das am Matterhorn gewesen sei – mit seinem Bruder und ohne Bergführer. „Im Abstieg ist mir das Steigeisen gebrochen.“Dadurch habe alles ewig lange gedauert. Jeder Schritt musste voll konzentrie­rt gesetzt werden.

Katha schimpft, sie brauche kein Yoga-Gequatsche

Ein Steinadler kreist direkt über unserem Gipfel

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany