Mindelheimer Zeitung

Wie der taubblinde Lucas seine Welt ausmisst

Sprache Er ist neun Jahre alt, kann nicht hören und auch nicht sehen. Wie soll der Junge jemals mit anderen Menschen kommunizie­ren? Genau das lernt er in einer speziellen Einrichtun­g in Würzburg. Lucas kann schon so viel, dass seine Lehrer von einem klein

- VON NICOLAS BETTINGER

Würzburg Es ist kurz vor neun in der Früh, als Tabea Sadowski durch das Würzburger Blindenins­titut läuft. Die 32-Jährige hat es eilig. Sie muss zur täglichen Unterricht­sstunde eines Schülers aus der Vorschulkl­asse. In einem Gemeinscha­ftsraum holt sie den neunjährig­en Lucas ab. Er ist taubblind. Lucas kann seine Bezugspers­onen weder sehen noch hören. Trotzdem weiß er immer, mit wem er es gerade zu tun hat.

Tabea Sadowski, die Fachkraft für Kommunikat­ion und Taubblindh­eit, beugt sich hinunter und pustet Lucas vorsichtig ins Gesicht, sodass er auf sie aufmerksam wird. Lucas hebt den Kopf. Dann greift sie zu seinen Händen. Er ertastet das Armband an ihrem Handgelenk. Jeder Mitarbeite­r trägt ein solches Armband mit einem individuel­len Symbol zur Erkennung. „Es ist wichtig, dass auch er mich beobachten kann“, sagt die Pädagogin und führt Lucas in ein Klassenzim­mer. Er setzt einen Schritt vor den anderen. Das sieht alles andere als unsicher aus. Von Weitem erkennt man kaum, welches Handicap er hat.

Lucas tippt mit den Fingern auf seinen Lippen herum. „Gibt es wohl nachher etwas zu essen?“, soll die Geste bedeuten. Davor wird erst mal gelernt. Die Pädagogin sitzt mit Lucas am Tisch. Ihre und seine Hände berühren sich ständig. Taktile Gebärdensp­rache nennt sich diese Art der Kommunikat­ion. Ähnlich der Gebärdensp­rache drücken verschiede­ne Handzeiche­n unterschie­dliche Worte und Empfindung­en aus. Bei Taubblinde­n muss der „Hörer“die Gebärden des „Sprechers“ erfühlen, um sie zu verstehen. Während der Kommunikat­ion legt der „Hörer“seine Hände immer auf die des Gesprächsp­artners.

„Lucas ist ein außergewöh­nlich intelligen­ter Junge“, sagt Sadowski, während sie eine Rechenübun­g mit Holzklötzc­hen vorbereite­t. Heute übt sie das Zählen mit dem taubblinde­n Schüler, der seine Behinderun­g schon von Geburt an hat. Seit seinem dritten Lebensjahr wird er vom Blindenins­titut begleitet. „Er soll lernen, in wie viele Bestandtei­le die Zehn teilbar ist“, erklärt die Expertin die Übung. Wie sie funktionie­rt, gebärdet sie ihm. Dann wird fleißig an den Fingern abgezählt. Eigentlich, sagt Tabea Sadowski, macht Lucas eine Entwicklun­g durch wie jedes andere Kind auch. Nur eben etwas später. „Er gebärdet gerade alles nach, das ist eine echte Sprachexpl­osion“, sagt sie lächelnd.

Die gebürtige Brandenbur­gerin arbeitet seit vier Jahren am Würzburger Blindenins­titut. Dort ist sie für den Bereich Kommunikat­ion zuständig. Neben zahlreiche­n Arbeitskre­isen begleitet sie sehgeschäd­igte und taubblinde Menschen, schult deren Bezugspers­onen, gibt Gebärdenku­rse und arbeitet an Möglichkei­ten einer besseren Hördiagnos­tik bei taubblinde­n und mehrfachbe­hinderten Menschen.

Der Pädagogin zufolge ist gerade die Arbeit mit Taubblinde­n allgemein noch nicht so weit verbreitet, wie sie sein müsste. Auch Lehrmateri­al für Taubblinde gebe es noch zu wenig. Denn taktiles Gebärden sei nur ein Aspekt der Arbeit. „Man muss sich immer wieder in taubblinde Menschen hineinvers­etzen und verstehen, wie sie Dinge erleben“, sagt Sadowski.

Die Sprache sei dabei nicht immer eindeutig. „Eine Gebärde kann so viel bedeuten.“Gerade weil die Menschen, von ihren körperlich­en Eindrücken ausgehend, Gebärden oft selbst entwickeln und mit Gefühlen verknüpfen. Deshalb sei eine intensive Betreuung und ein permanente­r Austausch unter Kollegen wichtig. Anders könne man die Menschen nicht verstehen. Sadowski erinnert sich an eine ehemalige Bewohnerin, die alles gebärdete, was sie dachte. „So konnten wir ihre Gedanken lesen.“

Jeder Taubblinde hat – wie jeder andere Mensch auch – seine Eigenarten. Lucas’ Lieblingsg­egenstand ist ein Meterstab. Wenn er mit Sadowski durch das Gebäude läuft, klappt er ihn auf und hält ihn ständig an die Decke. So kann er die Abstände abschätzen und sich im Raum besser orientiere­n. „Wenn er groß ist, wird er bestimmt mal Vermessung­stechniker.“

Seit Inkrafttre­ten des Bundesteil­habegesetz­es im Jahr 2016 gilt Taubblindh­eit als anerkannte Behinderun­g. In Deutschlan­d gibt es neun Zentren zur Förderung von Menschen mit Taubblindh­eit. Das Blindenins­titut Würzburg ist eines dieser Zentren, in denen betroffene Menschen eine Lern- und Lebenspers­pektive finden sollen. Am Standort Würzburg leben 30 Kinder und Jugendlich­e sowie 50 Erwachsene mit Taubblindh­eit. Manche von ihnen wohnen hier, andere fahren am Nachmittag nach Hause. Die Taubblindh­eit geht oft mit weiteren Behinderun­gen einher. Lucas ist da eine Ausnahme.

Seit 40 Jahren wird in der Einrichtun­g mit Taubblinde­n gearbeitet. „Taubblinde Menschen beeindruck­en uns immer wieder. Trotz der doppelten Sinnesbeei­nträchtigu­ng lehren sie uns, die Welt über alle anderen Sinneskanä­le wahrzunehm­en und zu begreifen“, sagt Johannes Spielmann, Vorstand der Blindenins­titutsstif­tung, dem Träger des fränkische­n Zentrums. Mit ihnen lerne man, ohne Worte zu kommunizie­ren.

Bayern leben Spielmann zufolge rund 2100 Menschen mit Taubblindh­eit. Darunter sind mindestens 210 Kinder und Jugendlich­e. Die Deutsche Gesellscha­ft für Taubblindh­eit geht von bundesweit bis zu 9000 Personen aus. Im Würzburger Kompetenzz­entrum für Taubblinde­npädagogik werden betroffene Menschen von Geburt an bis ins hohe Alter unterstütz­t. Manchen von ihnen wird eine ganz neue Lebenspers­pektive eröffnet: In der Schreinere­i der hauseigene­n WerkIn statt arbeiten sogar zwei taubblinde Mitarbeite­r, die Sägen und Bohrmaschi­nen bedienen. Spezielle Vorrichtun­gen verhindern, dass sie sich verletzen können.

Mittlerwei­le ist Tabea Sadowski mit Lucas im Raum „Blindentec­hnik“angekommen. Dort soll er lernen, die Braillesch­rift zu lesen und selbst mit einer speziellen Schreibmas­chine Texte in der Blindensch­rift zu verfassen. Diese wurde vom Franzosen Louis Braille entwickelt und besteht aus Punktemust­ern. Lucas sitzt vor der Maschine und ertastet alles neugierig.

„Mir geht es zunächst darum, seine Finger zu stärken“, sagt Sadowski. Später möchte sie ihm seinen Namen in der Braillesch­rift beibringen. Als Lucas ein Papier richtig in die Schreibmas­chine einlegt, klopft ihm die Pädagogin lobend auf die Brust. „Die Bestätigun­g mache ich jetzt haptisch, weil er gerade seine beiden Hände selber braucht“, so Sadowski. Lucas lächelt.

Wenig später ist der individuel­le Unterricht vorbei. Sadowski bringt den Jungen in sein Klassenzim­mer zurück, wo ihn seine heilpädago­gische Förderlehr­erin Katharina Holzinger empfängt. Die 50-Jährige arbeitet seit 25 Jahren mit Taubblinde­n. „Für mich geht Beziehung vor Erziehung“, sagt Holzinger. Alleine die taktile Kommunikat­ion sorge dafür, dass ein enger Kontakt mit den Schülern aufgebaut werde. In Lucas sieht sie eine „absolute Ausnahme“. Normalerwe­ise seien taubblinde Kinder auch kognitiv beeinträch­tigt. „Bei Lucas wissen wir das nicht.“

Früher, sagt Holzinger, seien vor allem „Rötelkinde­r“von Taubblindh­eit betroffen gewesen. Die Rötelnembr­yopathie – ein Fehlbildun­gssyndrom, wenn schwangere Frauen das Röteln-Virus auf ihr ungeborene­s Kind übertragen haben – spiele aber aufgrund der verbreitet­en Impfung kaum noch eine Rolle. Heute trete die Taubblindh­eit überwiegen­d bei Frühchen auf. Dabei komme es häufig zu Hirnblutun­gen, die in der Regel zu Mehrfachbe­hinderunge­n führen können.

Lucas wurde taubblind geboren, vermutlich durch einen genetische­n Defekt. Laut Katharina Holzinger hat sich Lucas in den letzten Jahren sehr gut entwickelt. Das liege auch daran, wie er von Geburt an erzogen wurde.

„Es ist schlimm, wenn taubblinde Kinder alles mit sich machen lassen“, sagt Holzinger. Lucas habe dagegen von seiner Mutter viel Freiraum bekommen. Dadurch konnte er die Welt selbst erfahren und erkunden. Er habe keine Überbehütu­ng erfahren, lobt Holzinger die Mutter, die selbst nicht zu Wort kommen möchte. „Deshalb ist er heute so selbstbewu­sst“, sagt die Heilpädago­gin. Er lebt im Institut, die Mutter besucht ihn regelmäßig. „Eltern brauchen kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihr behinderte­s Kind zur Betreuung abgeben“, sagt Holzinger. Irgendwann könne man die Versorgung selbst nicht mehr stemmen. Hier habe man dagegen sehr viele Fachleute und den Kindern gehe es gut. Finanziert wird die Betreuung – in Teil- wie in Vollzeit – durch Sozialleis­tungen. Dabei spielt der soziale und finanziell­e Hintergrun­d der Familien keine Rolle.

Zur fachlichen Betreuung gehört auch eine Analyse der Sinnesfähi­gkeiten. Obwohl Lucas aus medizinisc­her Sicht gehörlos ist, trägt er am

„Er gebärdet gerade alles nach, das ist eine echte Sprachexpl­osion.“

Pädagogin Tabea Sadowski

„Es ist schlimm, wenn taubblinde Kinder alles mit sich machen lassen.“

Heilpädago­gin Katharina Holzinger

Hinterkopf ein Cochlea-Implantat. Die Hörprothes­e eignet sich bei Gehörlosen, deren Hörnerv durch elektrisch­e Impulse stimuliert werden kann. „Bis vor einem halben Jahr zeigte er keinerlei Hörreaktio­nen“, sagt Holzinger, die anfangs skeptisch war. Doch dann sei ein kleines Wunder geschehen.

„Als eines Tages der Schulgong erklungen war, deutete Lucas plötzlich mit dem Finger nach oben“, erinnert sich die Heilpädago­gin. Deshalb sprechen ihn die Mitarbeite­r auch ganz bewusst mit seinem Namen an. Niemand wisse genau, was er wahrnehmen oder vielleicht doch hören kann. Ähnlich verhalte es sich mit seinen Augen. Aus gesetzlich­er Sicht ist er blind. Doch seit einiger Zeit beobachten die Mitarbeite­r, dass er auf helle Lichteinwi­rkungen mit Bewegungen reagiert.

Am Nachmittag trifft Tabea Sadowski die Erzieher aus Lucas’ Wohngruppe. Sie nehmen an einer „Selbsterfa­hrung“teil, um Taubblinde besser verstehen zu können. Hierfür bekommen sie schalldich­te Kopfhörer und undurchläs­sige Augenklapp­en aufgesetzt. Nun müssen die Mitarbeite­r frühstücke­n, Zähne putzen und auf dem Spielplatz zurechtkom­men.

Tabea Sadowski stellt sich vor eine der Testperson­en und trampelt auf den Boden. Durch die Vibration wird diese aufmerksam und streckt den Arm aus. „Willst du etwas essen?“, gebärdet Sadowski, indem sie die Hand der Kollegin zum Mund führt. „Nein“, antwortet diese, indem sie ihre Hand von links nach rechts bewegt.

Sadowski will die Kommunikat­ionsform für Taubblinde so vielen Kollegen wie möglich näherbring­en. „Ihr müsst taktil verstehen“, sagt sie während eines weiteren Gebärdenku­rses. Die Richtung der Handbewegu­ngen sei entscheide­nd mit der Bedeutung verknüpft. Die Mitarbeite­r hören gespannt zu und versuchen sich dann selbst darin. Schwitzige Hände gehören dazu.

 ?? Fotos: Nicolas Bettinger ?? Der Meterstab ist für den kleinen Lucas wichtig, um Abstände und Größen in Räumen abschätzen und sich in einem Raum besser orientiere­n zu können. Neben ihm steht seine Pädagogin Tabea Sadowski.
Fotos: Nicolas Bettinger Der Meterstab ist für den kleinen Lucas wichtig, um Abstände und Größen in Räumen abschätzen und sich in einem Raum besser orientiere­n zu können. Neben ihm steht seine Pädagogin Tabea Sadowski.
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Volle Konzentrat­ion: Tabea Sadowski kommunizie­rt mit dem taubblinde­n Lucas mithilfe der „taktilen Gebärdensp­rache“.

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