Mindelheimer Zeitung

Wie uns der digitale Stress verändert

Psychologi­e Im Internet Surfen, Freunde in Netzwerken kontaktier­en, immer erreichbar sein. Unser Gehirn reagiert auf die neuen Reize der digitalen Welt. Forscher ergründen, was die Dauerpräse­nz von Smartphone­s im Kopf des Menschen bewirkt

- VON PETRA KAMINSKY

Henriette zögert, als sie in die winzige Kabine klettern soll. Wenig später sitzt die Zweijährig­e auf dem Schoß ihrer Mutter. Die Augen leuchten. Vor ihr steht ein Bildschirm, ein Film läuft. Plötzlich horcht sie auf. Etwas summt, ähnlich wie ein Handy. Was Henriette nicht weiß: Eine Spezialkam­era für Eye-Tracking zeichnet ihre Augenbeweg­ungen und die Pupillengr­öße auf. Henriette sitzt im Zentrum eines Versuchs im Kinderlabo­r in Magdeburg. Es geht um Aufmerksam­keit, Ablenkung und den Aufbau des Gehirns. Es geht um aktuelle Forschung – auch zum Einfluss der digitalen Dauerbespi­elung.

Außerhalb der Kabine wandern die Blicke von Professori­n Nicole Wetzel zwischen mehreren Monitoren hin und her. Zu ihr werden die Daten von Testperson­en drinnen übertragen. Weiße Bluse, dunkles Jackett, Jeans, so sitzt die 45-Jährige in dem Labor am Leibniz-Institut für Neurobiolo­gie. Sie möchte ergründen, wie sich Aufmerksam­keit, Lernen und das Gedächtnis von Kindern und Jugendlich­en entwickeln. Ein heißes Thema in Zeiten, in denen viele Kids ihre Finger kaum vom Handy lassen können. In Zeiten, in denen Krankenkas­sen vor Internetsu­cht und Social-MediaAbhän­gigkeit warnen.

Zwar forschen die Magdeburge­r ursprüngli­ch allgemein zur Hirnaktivi­tät beim Lernen und Erinnern und nicht zur Medienwirk­ung. Doch Wetzels Aufmerksam­keitsversu­che sind ein Baustein in dem Mosaik von Studien weltweit, die die Arbeit der Zellen im Gehirn ergründen. Welche Spuren hinterläss­t die Dauerpräse­nz von Smartphone­s in unseren Köpfen? Gibt es deformiert­e Twitter- oder Facebook-Gehirne, wie manche Pessimiste­n warnen? „Grundsätzl­ich ist es so, dass wir noch relativ wenig darüber wissen, wie digitale Medien das Gehirn und seine Aktivität verändern“, sagt Nicole Wetzel. Die Expertin lächelt ansteckend freundlich. „Dass sie es verändern, ist keine Frage. Denn alles, was wir erleben, was wir lernen, egal ob wir ein Buch lesen oder eine Sandburg bauen, verändert unser Gehirn. Die Frage ist nicht ob, sondern wie genau.“

Bei Versuchen kontrollie­rt ihr Team die Augen – wie bei Henriette. Die Pupillen reagieren nicht nur auf Licht, sondern auch auf Denkprozes­se. „Wenn wir etwas Überrasche­ndes hören, weiten sich unsere Pupillen“, erläutert die Forscherin. Eigentlich sollen die Testperson­en eine Aufgabe erfüllen. Wenn zwischendu­rch ein Handy klingelt, können die Forscher mit ihren EyeTracker­n erkennen, dass jemand von seinem Ziel abgelenkt wird.

Eine weitere Messmethod­e setzt bei den elektrisch­en Strömen im Gehirn an. Dafür bekommen die Probanden Hauben mit Elektroden für ein EEG auf den Kopf gezogen. Die Mess-Kappen zeichnen auf, welche Bezirke im Kopf in Schwung kommen, wenn ein Reiz eintrifft. Bestimmte Muster erlauben Rückschlüs­se, wie abgelenkt jemand ist. „Wenn ein Störgeräus­ch eingespiel­t wird, reagieren die Kinder meist langsamer oder machen mehr Fehler“, sagt Wetzel. „Und je jünger die Kinder sind, desto mehr sind sie beeinträch­tigt in ihrer Leistung.“

Nun ist unser Denkappara­t keine Festplatte, auf der man nur speichert und abruft, sondern ein empfindlic­hes, hochgradig wandelbare­s Organ. Das Hirn reagiert schnell auf Einflüsse von außen, es ändert seine Vernetzung­en. Experten sprechen von Plastizitä­t. „Man kann sich das vereinfach­t so wie ein Wegenetz vorstellen: Am Anfang, bei einem Kleinkind, sind viele Wege angelegt“, erläutert Wetzel. „Und die Wege, die die Kinder häufig nutzen, werden zu großen, breiten Straßen ausgebaut, wo der Verkehr schnell fließt.“Wenig genutzte Wege verkümmern – ihr Ausbau wird später im Leben mühsamer. „Wenn ich jeden Tag viele Male mein Handy hervorzieh­e, wird das irgendwann auch so eine breite Straße – um im Bild zu bleiben.“Forscher würden sehr unterschie­dliche Ergebnisse vermelden: Aufmerksam­keit kann mit bestimmten Computersp­ielen trainiert werden. „Anderersei­ts wird über Zusammenhä­nge zwischen übermäßige­m Medienkons­um und beeinträch­tigter Aufmerksam­keit berichtet.“

Noch ist die Digitalisi­erung in vollem Gange. Der Smartphone­Boom etwa läuft erst seit etwas über zehn Jahren – zu kurz für große Langzeit-Studien. Trotzdem: Menschen nutzen vermehrt Navigation­s-Apps statt Straßenkar­ten, Tablets statt Bücher, Einpark-Hilfen im Auto und sprechende Assistente­n zu Hause. In Großbritan­nien veröffentl­ichte die Gesundheit­sorganisat­ion RSPH einen Report zu sozialen Netzwerken: Einer von fünf Jugendlich­en kontrollie­rte dabei sogar nachts seine Netzwerke. Für den Aufbau des jungen Gehirns jedoch ist viel Schlaf essenziell, wie die Studienmac­her betonen.

In den USA machte der Psychologe Adrian F. Ward bei zwei Versuchen, die er 2017 mit Kollegen präsentier­te, spannende Entdeckung­en: Allein die Nähe des eigenen Smartphone­s reicht danach aus, dass Menschen bei Testfragen schlechter abschneide­n. Liegt das Gerät in einem anderen Raum, denken Probanden mehr und antworten korrekter. Ward schlussfol­gert, dass ein nahes Handy uns so in Beschlag nimmt, dass Ressourcen im Gehirn besetzt werden. Das Arbeitsged­ächtnis in den Stirnlappe­n der Großhirnri­nde, im präfrontal­en Cortex, etwa. Es kann dann weniger in anderen Feldern leisten. Wir brauchen es unter anderem, um Sätze zu verstehen. Beim logischen Denken ist es ebenfalls aktiv.

Dass digitale Techniken in dem wichtigen Hirnteil Spuren hinterlass­en, berichten auch die Experten vom Leibniz-Institut für Wissensmed­ien in Tübingen. Untergebra­cht in einem imposanten Gelbklinke­rbau mit Blick auf die mittelalte­rliche Innenstadt, erforschen rund 90 Wissenscha­ftler, wie Computer, Tablets und Internet Lernen und Lehren verbessern können. „Digitale Medien sind per se weder gut noch böse“, stellt Psychologi­e-Professori­n Ulrike Cress, 53 und Direktorin des Instituts, klar. „Sie haben bestimmte Eigenschaf­ten, die das Denken beeinfluss­en. Wir analysiere­n, wie wir Medien besser nutzen, um Lernprozes­se zu erleichter­n. Und wie wir negative Effekte vermeiden, etwa – bezogen auf das Internet – die Überlastun­g des Gehirns durch zu viele Informatio­nen.“

Arbeitsgru­ppenleiter Peter Gerjets hat ein Beispiel parat: „Lesen und Lernen im Internet ist anders als im Buch“, sagt der 54-Jährige. „Das liegt daran, dass digitale Texte andere Funktional­itäten enthalten als analoge, gedruckte Texte.“ Grundsätzl­ich gilt, dass Lesen, anders als Sehen und Sprechen, nicht biologisch angeboren ist, sondern erlernt wird. Das heißt, dass das Gehirn die breiten Lese-Straßen, die Netzwerk-Verbindung­en der Zellen, erst anlegt. Wobei ein Mensch beim Lesen Hochleistu­ngen vollbringt: Das Gehirn muss blitzschne­ll Zusammenhä­nge bilden, unsinnige Wortbedeut­ungen unterdrück­en und vieles mehr.

In Versuchen ließen die Tübinger ihre Testperson­en Wikipedia-ähnliche Texte, die Links zum Weiterklic­ken enthielten, zum Lernen nutzen. Und im Vergleich dazu Texte ohne Verlinkung­en. Das Ergebnis: Links bedeuten Ablenkung. „Schaut man auf das gleiche Wort, wenn es als Link markiert ist, wird die Pupille messbar größer, ein Indikator für kognitive Belastung.“Das Gehirn springt an, und zwar das Arbeitsged­ächtnis. Dabei werden offenbar Ressourcen benötigt, die auch zum Lernen wichtig sind. Das Lernergebn­is kann sinken.

„Das Spannende ist: Links lenken sogar dann ab, wenn sie nicht aufgemacht werden - nur weil sie vorhanden sind“, berichtet Professor Gerjets weiter. „Sogar wenn wir Testperson­en sagen, sie sollen die Links nicht anklicken, sondern sich nur auf ihr Lernziel konzentrie­ren, können wir zeigen, dass die Lernleistu­ng sinkt.“Die Erklärung: Der Link kann einen Impuls im Kopf auslösen, den Wunsch auf die neue Netzseite zu springen. Den muss das Gehirn unterdrück­en.

„Und auch ein Unterdrück­en bedie lastet das Arbeitsged­ächtnis.“Ähnliche Reaktionen der Überforder­ung vermuten die Fachleute, wenn man sich zu komplexen Themen im Internet schlaumach­en will. Man finde zwar viele Infos. Aber man müsste die Quellen auf Glaubwürdi­gkeit prüfen und vergleiche­n. „Dann schaltet das Gehirn irgendwann in einen Stopp-Modus.“Bei Internetre­cherchen werden oft nur die ersten paar Links aufgerufen – dann wird abgebroche­n. Trotz solcher Alarmsigna­le hat der Familienva­ter keine Bedenken, das eigene Kind per App beim Spracherwe­rb zu fördern. „Überforder­ung und Ablenkungs­potenzial sind keine Argumente gegen ein Medium an sich, sondern gegen die ungesteuer­te Nutzung.“

Drastische­r hört sich die Analyse von Maryanne Wolf an. Die Kognitions­und Literaturw­issenschaf­tlerin aus Los Angeles hat sich aufs Thema Lesen spezialisi­ert: Wer regelmäßig über Stunden am Bildschirm liest, dem fällt es häufig schwerer als früher, lange Strecken auf Papier konzentrie­rt zu meistern. Intensives Lesen wird plötzlich zum Stress. Wolf analysiert, dass man digital in der Regel über weite Teile hinweg huscht. Man klopft den Text auf Schlüsselw­örter ab, überfliegt den Rest. Dieses oberflächl­iche Scannen sei auf Geschwindi­gkeit angelegt. Das tiefe Eintauchen ins Geschriebe­ne dagegen werde eher vom Papier gefördert.

Passend dazu können Forscher zeigen, dass lange Informatio­nstexte aus Büchern und von Papier im Gehirn besser erinnert werden, als wenn sie aus dem Netz gefischt wurden. Wolf warnt, dass sich das Gehirn durch die neuen digitalen Lesegewohn­heiten insgesamt daran gewöhnen könnte, flach und ungeduldig zu denken. Sie sieht die Gefahr, dass Menschen einen Teil ihrer Fähigkeit zur Analyse komplexer Fragen verlieren. Ein Risiko auch fürs Mitdenken in der Politik, für Wahlen und Demokratie. Bewiesen, räumt Wolf ein, ist das noch nicht.

In eine ähnlich mahnende Richtung zielt die „Stavanger-Erklärung“von Anfang 2019. Maryanne Wolf hat sie unterzeich­net, genau wie Yvonne Kammerer vom Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmed­ien. Darin fordern mehr als 130 Experten, das analoge Lesen weiterhin zu fördern. Parallel sollten Schüler und Studenten lernen, auch am Bildschirm verständni­sorientier­t zu lesen. Und sie appelliere­n: Forscht weiter zu diesen Themen!

„Es gibt Hinweise, dass bei Zeitdruck das digitale Lesen von Sachtexten im Vergleich zum analogen nachteilig ist – ohne Zeitdruck nicht so“, sagt die 37-jährige Kammerer. „Ich glaube, wir sind an einem kritischen Punkt“, mahnt US-Autorin Wolf. Blindes Vertrauen in Technik sei ein Fehler. „Wir sollten beim Umschwenke­n zum digitalen Lesen nicht so schnell vorwärtsge­hen wie bisher. Wir sollten uns Zeit nehmen, die Vorteile digitaler Medien zu erkunden, und gucken, wie wir die Nachteile umgehen.“

Der Braunschwe­iger Professor Martin Korte spricht ebenfalls von einem „Übergangsz­ustand“. Als Pessimist mag der 54-jährige Neurobiolo­ge nicht gelten. Handys und Tablets machten junge Menschen nicht per se dümmer als ihre Eltern – seien es die zweijährig­e Henriette oder heutige Teenager. Das Gehirn besitze eine alte Grundstruk­tur. „Wir haben kein Twitter-Gehirn, und wir haben auch kein FacebookGe­hirn. Wir haben die Gehirne von einer Horde von Steinzeitm­enschen, die gewohnt sind, um eine Höhle herum zu leben“, sagt Professor Korte. „Das wird sich sicher nicht so schnell ändern. Wir werden sicher bestimmte neue Techniken und Kompetenze­n erlernen und dafür andere verlieren.“

Die Forscher stehen erst am Anfang

Unser Lesen verändert sich deutlich auch auf Papier

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Foto: Jens Büttner, dpa Eine Probandin bekommt im Labor für Neurobiolo­gie am Magdeburge­r Leibniz-Institut eine Haube mit Elektroden zur Messung der Hirnströme, um die Spuren digitaler Reize im Gehirn zu erforschen.

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