Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (25)
DEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale.
ies war Alles, was von seiner Familie übrig blieb. Er nahm das Kind auf den Arm und trug es fort.
Bis jetzt hatte der junge Mensch bloß in der Wissenschaft gelebt. Diese Katastrophe führte ihn in das wirkliche Leben ein und war für ihn eine Krisis in seinem Dasein. Waise und Familienhaupt zugleich in seinem neunzehnten Jahre, sah er sich von den Träumereien der Schule in die Wirklichkeiten des Lebens gewaltsam weggezogen. Er, der bis jetzt bloß Bücher geliebt hatte, lernte jetzt andere Gefühle kennen und widmete seine ganze Liebe dem verlassenen Säugling.
Diese Neigung entwickelte sich in seinem so unerfahrenen Herzen bis zu einem seltsamen Grade, sie glich fast einer ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, die er kaum gekannt hatte, festgebannt an seine Bücher, heißhungrig im Lernen, ausschließlich sich den Fortschritten in der Wissenschaft widmend, hatte bis jetzt der arme Schüler noch nicht Zeit gehabt zu untersuchen, ob er auch ein Herz habe. Dieser vater- und mutterlose junge Bruder, dieses kleine Kind, das ihm wie vom Himmel zugefallen war, machte ihn zu einem neuen Menschen. Er überzeugte sich, daß es noch etwas Anderes in der Welt gebe, als theologische Streitfragen und Homerische Verse; daß der Mensch zur Liebe geschaffen sei, und daß ein Leben ohne Liebe und Zärtlichkeit nur ein trockenes, kreischendes Räderwerk ist, das eintönig von der Wiege bis zum Sarge führt. Dies fühlte er jetzt; da er aber noch immer in dem Alter war, wo eine Täuschung bloß durch eine andere verdrängt wird, so bildete er sich ein, daß die Neigungen der Blutsverwandtschaft die einzig nothwendigen seien, und daß die Liebe zu einem kleinen Bruder das ganze Dasein eines Menschen ausfüllen könne.
Der kleine Johannes Frollo war noch ein Säugling, als er seine Mutter verlor. Die Familie besaß in der Nähe des Schlosses Winchester auf einem Hügel eine Mühle; hieher brachte er den Säugling und übergab ihn der Müllerin, die ein Kind von gleichem Alter säugte. Nun theilte er seine Zeit zwischen dem Knaben und seinen Büchern. Seine Fortschritte in den Wissenschaften, seine Verdienste und Glücksumstände öffneten ihm alle Pforten der Kirche, und im zwanzigsten Jahre wurde er durch besondere Dispensation des heil. Stuhles zum Priester geweiht. Seine wissenschaftlichen Kenntnisse und sein ernstes Wesen erwarben ihm schnell die Achtung und Bewunderung des Klosters, und von da aus hatte sich sein Ruf als ausgezeichneter Gelehrter unter das Volk verbreitet, das ihn, was damals häufig war, wie jeden ungewöhnlichen Mann, für eine Art Hexenmeister hielt.
Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sacke zog, fand er ein wahres Ungeheuer an Häßlichkeit, krumm, verwachsen, einäugig! doch kündigte sein Geschrei, obgleich man nicht unterscheiden konnte, in welcher Sprache er stammelte, Gesundheit und Kraft an. Er ließ den Findling taufen und nannte ihn Quasimodo, entweder weil er ihn an diesem Tage gefunden hatte, oder um anzudeuten, bis zu welchem hohen Grade das arme, kleine Geschöpf unvollständig und gleichsam bloß aus dem Groben geschnitten sei. In der That war auch unser Quasimodo ein wahrer Quasimodo.
Im Jahre 1482 war Quasimodo, trotz seiner Mißgestalt, kräftig und lebendig. Seit einigen Jahren war er Glöckner in der Liebfrauenkirche, Dank seinem Adoptivvater Claude Frollo, der Archidiakonus derselben geworden war, Dank Herrn Louis de Beaumont, welcher im Jahre 1472 Bischof von Paris war, Dank seinem Beschützer Olivier, dem Teufel, Barbier Ludwigs XI., der durch die Gnade Gottes König von Frankreich war.
Quasimodo war demnach Glöckner in der Liebfrauenkirche. Die Zeit bildete zwischen dem Glöckner und der Kirche ein gewisses inniges Band. Durch seine unbekannte Geburt und seine Mißgestalt von der übrigen Welt abgeschnitten, hatte sich der Unglückliche daran gewöhnt, die heiligen Mauern, die ihn in ihren Schatten aufgenommen, als seine Welt anzusehen. Die Liebfrauenkirche war für ihn, so wie er allmählig heranwuchs, sein Ei, sein Nest, sein Haus, sein Vaterland, seine Welt. Er kannte jeden Winkel des weiten Gebäudes; es gab keine Tiefe und keine Höhe der Kirche, wohin der Zwerg nicht schon gekommen war. Durch die Gewohnheit, alle Räume und Höhen des gigantischen Gebäudes zu durchklettern und zu überspringen, war er halb Affe, halb Gemse geworden.
Noch niederer, als sein mißgestalteter Körper, stand die Seele des Zwergs. Mit großer Mühe und Geduld hatte ihn Claude Frollo sprechen gelehrt. Ein neues Unglück und eine neue Gebrechlichkeit trafen ihn im vierzehnten Jahre; das Geläute der Glocken hatte ihn taub gemacht. Die einzige Thüre, welche ihm die Natur nach außen offen gelassen hatte, war jetzt plötzlich und für immer geschlossen. Von nun an konnte kein Strahl von Licht und Freude mehr in die Seele des Zwergs fallen, und sie sank in finstere Nacht. Die Melancholie des elenden Wesens war unheilbar und vollständig, wie seine Mißgestalt. Seine Taubheit machte ihn gewissermaßen stumm, denn von dem Augenblicke an, wo er taub wurde, faßte er, um nicht Andern zum Gelächter zu dienen, den festen Entschluß, nicht mehr zu sprechen, und brach dieses Stillschweigen selten anders, als wenn er allein war. Daher kam es, daß, wenn ihn die Nothwendigkeit zum Reden trieb, seine Zunge ungeschmeidig und schwerfällig war, gleich einer Thüre, deren Angeln eingerostet sind.
Der Geist verkrüppelt in einem mißgestalteten Körper. Quasimodo fühlte kaum etwas in sich, das von Ferne einer Seele glich. Die äußeren Eindrücke erlitten eine bedeutende Strahlenbrechung, bevor sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Nachdem eine Idee durch seinen Kopf gegangen war, kam sie ganz verwirrt aus demselben heraus. Die Betrachtung, die aus dieser eigenthümlichen Strahlenbrechung hervorging, war nothwendig divergent und abschweifend. Daher tausend optische Täuschungen, tausend Verwirrungen im Urtheil, tausend Abschweifungen des Gedankens, bald unklug, bald stumpfsinnig. Die erste Wirkung dieser unglücklichen Organisation war, daß sie den Blick trübte, den er auf die Dinge warf. Er erlangte fast nie eine unmittelbare Berührung mit denselben. Die Außenwelt erschien ihm um Vieles weiter entfernt, als uns.
Die zweite Wirkung seines Unglücks war, daß es ihn bösartig machte. Er war bösartig, weil er roh, er war roh, weil er häßlich war. Es war eine Logik in seiner Natur, wie in der unseren.
Seine auf so außerordentliche Weise entwickelte Stärke war eine weitere Ursache seiner Bösartigkeit. Malus puer robustus.
Im Uebrigen war ihm seine Bösartigkeit nicht angeboren.