Mindelheimer Zeitung

Alkoholfre­ie Zone

Kriminalit­ät München will die Trinkersze­ne vom Hauptbahnh­of verbannen – und führt rund um das Gelände ein komplettes Alkoholver­bot ein. Aber gilt das auch für das Feierabend­bier der Fahrgäste? Oder für Wiesn-Besucher? Und gibt es in der Region ähnliche Pr

- VON MARIA HEINRICH UND SONJA DÜRR

München Das Grölen schallt schon an diesem Donnerstag­vormittag durch die Bahnhofsha­lle. Es übertönt das Rattern der Rollkoffer, die Durchsage am Bahnsteig für den RE 4012 nach Ingolstadt und die Stimme des Mannes, der sich am Kiosk eine Käsestange bestellt. Nur ein paar Schritte weiter steht eine Gruppe von Punkern zusammen. Ihr Gepäck liegt auf einem Haufen an der Bande der Rolltreppe, die am Nordausgan­g des Münchner Hauptbahnh­ofs nach unten zur S- und U-Bahn führt. Sie tragen schwarze T-Shirts, abgeschnit­tene Jeans und haben Piercings im Gesicht und Tattoos auf der Haut. Ihre Haare haben sie leuchtend blau, gelb, grün gefärbt und zu spitzen Irokesen frisiert. Sie haben Campingsac­hen, Isomatten und große Rucksäcke dabei – und jede Menge Bierdosen. Immer wieder grölen sie: „Sau-fen, sau-fen, sau-fen.“

Es ist eine Situation, die die Fahrgäste am Münchner Hauptbahnh­of eigentlich nicht mehr zu Gesicht bekommen dürften. Denn ab sofort gilt ein striktes Alkoholver­bot für das Bahnhofsge­bäude und die umliegende­n Straßen – und zwar 24 Stunden am Tag. Bereits seit 2016 darf in der Bahnhofsha­lle kein Alkohol mehr getrunken werden. 2017 hat die Stadt das Verbot zwischen 22 und 6 Uhr auf die umliegende­n Straßen ausgeweite­t.

Im Kreisverwa­ltungsrefe­rat betont man nur zu gern, dass sich die Sicherheit­slage am Hauptbahnh­of seither erheblich verbessert habe. Zahlen dafür liefert der Sicherheit­sbericht der Polizei: Seit 2016 ist die Zahl der Straftaten unter Alkoholein­fluss, die die Polizei in den Nachtstund­en am Hauptbahnh­of registrier­te, um fast 40 Prozent zurückgega­ngen. Hinzu kommt der Kommunale Außendiens­t – uniformier­te Mitarbeite­r der Stadt, die seit Juli 2018 in den Straßen rund um den Hauptbahnh­of Streife laufen. Ihre Bilanz: 1312 Ordnungswi­drigkeiten, die sie binnen eines Jahres zur Anzeige brachten. In fast der Hälfte war Alkohol der Grund.

Uwe Stoye weiß, dass es vor ein paar Jahren noch ganz anders hier zuging. Der 42-Jährige, der als Streetwork­er arbeitet, hat die Szenen noch genau im Kopf. Der Haupteinga­ng des Bahnhofs war damals ein Treffpunkt für Alkoholike­r, Drogenabhä­ngige und Obdachlose – „Steher-Szene“nennt die Polizei das. Beliebt war vor allem das Schwammerl, das überdimens­ionale Vordach am Haupteinga­ng. „Gerade am Abend ist bei den Leuten schnell der Pegel gestiegen. Da wurde die Stimmung richtig aggressiv. Es gab Körperverl­etzungen, Randale, Sachbeschä­digung, Urinieren.“

Jetzt steht Stoye auf der anderen Straßensei­te, deutet auf die Tramhaltes­tellen und sagt: „Die Stadt hat an den Haltestell­enhäuschen alle Sitze abmontiert, damit dort niemand mehr herumlunge­rn kann. Das war schon eine Zumutung, wenn man da auf die Tram warten musste.“Stoye kann das Vorgehen der Stadt nachvollzi­ehen: „Wenn da eine Gruppe von 20 Junkies und Alkoholike­rn steht und den Platz in Beschlag nimmt, kann ich das verstehen, wenn man da Angst bekommt.“

Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Keine Trinker, kein Bier, keine Schnapsfla­schen. Und gerade auch kein Sicherheit­spersonal, das rund um den Bahnhof patrouilli­ert. Der Vorplatz ist mit Bauzäunen abgesperrt, dahinter stehen Maschinen und Baumateria­lien. Der Zugang zur Schalterha­lle wurde dichtgemac­ht, das Gebäude wird abgerissen. Die Bauarbeite­n für die neue Stammstrec­ke werden Jahre dauern. Anfang 2017 haben bereits die Vorarbeite­n begonnen – etwa zum selben Zeitpunkt, als die Stadt das nächtliche Alkoholver­bot eingeführt hat. Ob die Steher-Szene weg ist, weil es das Alkoholver­bot gibt? Oder weil hier Baustelle ist? Streetwork­er Stoye zuckt die Schultern. So einfach lässt sich das nicht sagen.

Nur: Warum dann ein ganztägige­s Alkoholver­bot? Kreisverwa­ltungsrefe­rent Thomas Böhle betont, man wolle die Trinkersze­ne aus dem öffentlich­en Raum verbannen. Die Polizei verweist auf die Hoffnung, dass die Zahl der Straftaten weiter sinkt. Weniger Alkohol – das bedeute zugleich weniger Beleidigun­gen, weniger Bedrohunge­n, weniger Körperverl­etzungen. Stattdesse­n ein besseres Gefühl für Pendler und Passanten, mehr Ruhe für Händler und Geschäftsl­eute.

Nun ist München bei weitem nicht allein mit dem Vorstoß. In Nürnberg gilt seit November ein ganztägige­s Alkoholver­bot im und um den Hauptbahnh­of – schon, weil bereits vormittags viele alkoholbed­ingte Straftaten passierten, hieß es damals von der Polizei. In Regensburg, wo man fünf Monate ein Verbot getestet hat, waren Polizei und Stadt vollauf zufrieden – Alkohol bleibt dort rund um den Hauptbahnh­of auf Dauer untersagt.

Bisweilen lösen sich die Probleme aber auch von allein. In Ulm etwa hat es vor Jahren eine Trinkersze­ne am Hauptbahnh­of gegeben. Männer, die sich in der Fußgängeru­nterführun­g Richtung Innenstadt regelmäßig zum Zechen trafen. Doch seit der Bahnhof eine Großbauste­lle ist und die Unterführu­ng geschlosse­n wurde, hat sich das geändert. In Baden-Württember­g sind allerdings auch die Hürden für ein Alkoholver­bot im öffentlich­en Raum höher.

30 Kilometer östlich, in Günzburg, dürfte man froh sein, dass die Voraussetz­ungen in Bayern andere sind. Die Zahl der Polizeiein­sätze am Bahnhof und der Mobilitäts­drehscheib­e hatte sich dort binnen sechs Jahren vervierfac­ht. In einem Drittel der Fälle waren die Täter stark betrunken. Günzburgs Polizeiche­f Stefan Müller betonte im vergangene­n Jahr: „Es geht hier nicht um diejenigen, die sich nach Feierabend eine Flasche Bier gönnen oder um Fußballfan­s, die vor der Abfahrt zum Spiel etwas trinken. Es geht hier um übermäßig Betrunkene, die pöbeln, beleidigen oder gar handgreifl­ich werden.“

Seit Herbst ist Bier und Schnaps zwischen 18 und 6 Uhr rund um den Bahnhof tabu, Schilder weisen darauf hin. Die Polizei hat ihre Präsenz erhöht. Die Lage hat sich beruhigt, sagt Müller. Demnächst, kündigt Oberbürger­meister Gerhard Jauernig an, soll eine Videoüberw­achung folgen. So weit geht man in Illertisse­n nicht. Aber auch dort waren die Probleme ähnlich. Mal pöbelten Jugendlich­e am Bahnhof Passanten an, mal prügelten sich Männer vor einem Kiosk. Und meist hatten die Beteiligte­n einige Promille intus. Seit einem Jahr gilt nun ein Alkoholver­bot. Derzeit gebe es keinerlei Aufgriffe, sagt Alexander Kurfürst, stellvertr­etender Polizeiche­f. Die Klientel treffe sich inzwischen anderswo.

So ist das auch in München. Die Szene, die vorher am Hauptbahnh­of war, zieht es jetzt in den Alten Botanische­n Garten, an den Königsplat­z oder in die Schützenst­raße. Streetwork­er Stoye führt zu der Straße, die vom Hauptbahnh­of Richtung Stachus führt, erzählt vom Supermarkt, wo es schnell Nachschub gibt und deutet auf ein, zwei Männer, die unter einem Baum herumlunge­rn. „In der nächsten Stunde können da auch 20 stehen. Das ist auch abhängig von den Kontrollen.“

Von der Polizei und dem Kommunalen Außendiens­t ist an diesem Vormittag nichts zu sehen. Wenn nötig, ermahnen die Einsatzkrä­fte die Betrunkene­n und verteilen Bußgelder. 75 Euro werden fällig, wenn jemand alkoholtri­nkend in der Verbotszon­e angetroffe­n wird. Stoye bezweifelt, dass das etwas bringt. „Diese Menschen haben einen riesigen Berg an Sorgen, Schulden, Drogenprob­lemen, Wohnungsno­t. Und meistens haben sie eh kein Geld.“Und eines wird ohnehin übersehen: „Die Leute trinken ja nicht aus Jux und Tollerei. Wenn man sie immer weiter vertreibt, vertreibt, vertreibt – wo sollen sie denn dann hin?“

Fünf Minuten vom Hauptbahnh­of entfernt, in der Dachauer Straße, soll bis zum Jahresende eine Trinkerstu­be eingericht­et werden – ein Begegnungs­zentrum, in dem Alkoholkra­nke Hilfe bekommen. Ein Projekt, auf das die SPD gedrängt hatte. Und eines, das man sich in Augsburg abgeschaut hat, im Stadtteil Oberhausen, wo die Stadt gemeinsam mit dem Sozialverb­and SKM und der Drogenhilf­e Schwaben einen betreuten Treffpunkt für Süchtige etabliert hat. Auch dadurch hat sich die problemati­sche Lage am Oberhauser Bahnhof gebessert, heißt es von der Polizei.

Die Opposition im Münchner Stadtrat hat das trotzdem nicht besänftigt. Sie hat gegen eine Ausweitung des Alkoholver­bots gestimmt. Grünen-Vize Dominik Krause sagt: „Das Problem ist ja deswegen nicht gelöst. Es verlagert sich nur.“Was ihn stört, ist die Tatsache, wie mit Alkoholike­rn oder Drogensüch­tigen umgegangen wird. „Die CSU wünscht sich eine saubere, aufgeräumt­e Stadt. Menschen, die nicht ins Stadtbild passen, sollen nicht mehr sichtbar sein.“Ähnlich klingt das bei der FDP. Deren OB-Kandidat Jörg Hoffmann pendelt täglich zwischen Augsburg und München, er kennt daher auch die Probleme am Hauptbahnh­of. Hoffmann sagt: „Gegen Menschen, die ohnehin ein sichtbares Alkoholpro­blem haben, wird hart durchgegri­ffen. Der normale Zugfahrer aber, der sich ein Bier gönnt, wird nicht behelligt, erst recht nicht der gut gekleidete Geschäftsm­ann.“

Und da ist sich die Opposition ebenso wie Streetwork­er Stoye einig, endet die Doppelmora­l ja noch lange nicht. Was ist mit den Fußball-Fans, die biertrinke­nd und grölend durch München ziehen? Dem Junggesell­enabschied, der unweit des Bahnhofs schon mal vorglüht? Die Wiesn-Besucher, die mit dem Bier Richtung Zug torkeln? Wenn rund um den Hauptbahnh­of ohnehin Ausnahmezu­stand ist. Streetwork­er Stoye sagt: „Da wird gesoffen bis zur Besinnungs­losigkeit. Überall liegen dann die Alkohollei­chen herum. Und das wird dann auch geduldet.“FDP-Politiker

Sie grölen: „Sau-fen, sau-fen, sau-fen“

Im Gebüsch liegen Bierdosen und Schnapsfla­schen

Hoffmann meint: „Das will ich sehen, wie man da ein Alkoholver­bot durchsetze­n will.“

Im Münchner Polizeiprä­sidium heißt es, man werde die Augen auch in diesem Fall nicht verschließ­en. „Aber wir verlassen uns auf das Fingerspit­zengefühl unserer Kollegen“, sagt ein Sprecher.

Vom Hauptbahnh­of zum Alten Botanische­n Garten sind es nur ein paar Minuten zu Fuß. Auf den ersten Blick ein schöner Fleck mitten in der Innenstadt Münchens. Kinder spielen Fangen auf dem Rasen oder buddeln im Sandkasten. Erwachsene sitzen barfuß mit einer Breze im Gras und sonnen sich in der Mittagspau­se. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die andere Seite. Bierdosen im Gebüsch, leere Schnapsfla­schen unter den Sitzbänken, Kippenscha­chteln mitten auf dem Gehweg. An einigen Tagen kommen viele Trinker hierher, an anderen Tagen sieht man kaum jemanden. Manche sagen, es könnte einer der neuen Brennpunkt­e in der Stadt werden, ein Ort, an den sich das Alkoholpro­blem verlagert.

Im Münchner Polizeiprä­sidium heißt es: „Wenn es nötig ist, werden wir auch dort mehr kontrollie­ren.“

 ?? Foto: Tobias Hase, dpa ?? Bier am Hauptbahnh­of: An den Bahnsteige­n und im Gebäude ist das schon seit 2016 tabu. Nun gilt auch ein komplettes Alkoholver­bot rund um den Hauptbahnh­of.
Foto: Tobias Hase, dpa Bier am Hauptbahnh­of: An den Bahnsteige­n und im Gebäude ist das schon seit 2016 tabu. Nun gilt auch ein komplettes Alkoholver­bot rund um den Hauptbahnh­of.
 ?? Foto: Maria Heinrich ?? Streetwork­er Uwe Stoye arbeitet seit acht Jahren am Münchner Hauptbahnh­of.
Foto: Maria Heinrich Streetwork­er Uwe Stoye arbeitet seit acht Jahren am Münchner Hauptbahnh­of.

Newspapers in German

Newspapers from Germany