Alkoholfreie Zone
Kriminalität München will die Trinkerszene vom Hauptbahnhof verbannen – und führt rund um das Gelände ein komplettes Alkoholverbot ein. Aber gilt das auch für das Feierabendbier der Fahrgäste? Oder für Wiesn-Besucher? Und gibt es in der Region ähnliche Pr
München Das Grölen schallt schon an diesem Donnerstagvormittag durch die Bahnhofshalle. Es übertönt das Rattern der Rollkoffer, die Durchsage am Bahnsteig für den RE 4012 nach Ingolstadt und die Stimme des Mannes, der sich am Kiosk eine Käsestange bestellt. Nur ein paar Schritte weiter steht eine Gruppe von Punkern zusammen. Ihr Gepäck liegt auf einem Haufen an der Bande der Rolltreppe, die am Nordausgang des Münchner Hauptbahnhofs nach unten zur S- und U-Bahn führt. Sie tragen schwarze T-Shirts, abgeschnittene Jeans und haben Piercings im Gesicht und Tattoos auf der Haut. Ihre Haare haben sie leuchtend blau, gelb, grün gefärbt und zu spitzen Irokesen frisiert. Sie haben Campingsachen, Isomatten und große Rucksäcke dabei – und jede Menge Bierdosen. Immer wieder grölen sie: „Sau-fen, sau-fen, sau-fen.“
Es ist eine Situation, die die Fahrgäste am Münchner Hauptbahnhof eigentlich nicht mehr zu Gesicht bekommen dürften. Denn ab sofort gilt ein striktes Alkoholverbot für das Bahnhofsgebäude und die umliegenden Straßen – und zwar 24 Stunden am Tag. Bereits seit 2016 darf in der Bahnhofshalle kein Alkohol mehr getrunken werden. 2017 hat die Stadt das Verbot zwischen 22 und 6 Uhr auf die umliegenden Straßen ausgeweitet.
Im Kreisverwaltungsreferat betont man nur zu gern, dass sich die Sicherheitslage am Hauptbahnhof seither erheblich verbessert habe. Zahlen dafür liefert der Sicherheitsbericht der Polizei: Seit 2016 ist die Zahl der Straftaten unter Alkoholeinfluss, die die Polizei in den Nachtstunden am Hauptbahnhof registrierte, um fast 40 Prozent zurückgegangen. Hinzu kommt der Kommunale Außendienst – uniformierte Mitarbeiter der Stadt, die seit Juli 2018 in den Straßen rund um den Hauptbahnhof Streife laufen. Ihre Bilanz: 1312 Ordnungswidrigkeiten, die sie binnen eines Jahres zur Anzeige brachten. In fast der Hälfte war Alkohol der Grund.
Uwe Stoye weiß, dass es vor ein paar Jahren noch ganz anders hier zuging. Der 42-Jährige, der als Streetworker arbeitet, hat die Szenen noch genau im Kopf. Der Haupteingang des Bahnhofs war damals ein Treffpunkt für Alkoholiker, Drogenabhängige und Obdachlose – „Steher-Szene“nennt die Polizei das. Beliebt war vor allem das Schwammerl, das überdimensionale Vordach am Haupteingang. „Gerade am Abend ist bei den Leuten schnell der Pegel gestiegen. Da wurde die Stimmung richtig aggressiv. Es gab Körperverletzungen, Randale, Sachbeschädigung, Urinieren.“
Jetzt steht Stoye auf der anderen Straßenseite, deutet auf die Tramhaltestellen und sagt: „Die Stadt hat an den Haltestellenhäuschen alle Sitze abmontiert, damit dort niemand mehr herumlungern kann. Das war schon eine Zumutung, wenn man da auf die Tram warten musste.“Stoye kann das Vorgehen der Stadt nachvollziehen: „Wenn da eine Gruppe von 20 Junkies und Alkoholikern steht und den Platz in Beschlag nimmt, kann ich das verstehen, wenn man da Angst bekommt.“
Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Keine Trinker, kein Bier, keine Schnapsflaschen. Und gerade auch kein Sicherheitspersonal, das rund um den Bahnhof patrouilliert. Der Vorplatz ist mit Bauzäunen abgesperrt, dahinter stehen Maschinen und Baumaterialien. Der Zugang zur Schalterhalle wurde dichtgemacht, das Gebäude wird abgerissen. Die Bauarbeiten für die neue Stammstrecke werden Jahre dauern. Anfang 2017 haben bereits die Vorarbeiten begonnen – etwa zum selben Zeitpunkt, als die Stadt das nächtliche Alkoholverbot eingeführt hat. Ob die Steher-Szene weg ist, weil es das Alkoholverbot gibt? Oder weil hier Baustelle ist? Streetworker Stoye zuckt die Schultern. So einfach lässt sich das nicht sagen.
Nur: Warum dann ein ganztägiges Alkoholverbot? Kreisverwaltungsreferent Thomas Böhle betont, man wolle die Trinkerszene aus dem öffentlichen Raum verbannen. Die Polizei verweist auf die Hoffnung, dass die Zahl der Straftaten weiter sinkt. Weniger Alkohol – das bedeute zugleich weniger Beleidigungen, weniger Bedrohungen, weniger Körperverletzungen. Stattdessen ein besseres Gefühl für Pendler und Passanten, mehr Ruhe für Händler und Geschäftsleute.
Nun ist München bei weitem nicht allein mit dem Vorstoß. In Nürnberg gilt seit November ein ganztägiges Alkoholverbot im und um den Hauptbahnhof – schon, weil bereits vormittags viele alkoholbedingte Straftaten passierten, hieß es damals von der Polizei. In Regensburg, wo man fünf Monate ein Verbot getestet hat, waren Polizei und Stadt vollauf zufrieden – Alkohol bleibt dort rund um den Hauptbahnhof auf Dauer untersagt.
Bisweilen lösen sich die Probleme aber auch von allein. In Ulm etwa hat es vor Jahren eine Trinkerszene am Hauptbahnhof gegeben. Männer, die sich in der Fußgängerunterführung Richtung Innenstadt regelmäßig zum Zechen trafen. Doch seit der Bahnhof eine Großbaustelle ist und die Unterführung geschlossen wurde, hat sich das geändert. In Baden-Württemberg sind allerdings auch die Hürden für ein Alkoholverbot im öffentlichen Raum höher.
30 Kilometer östlich, in Günzburg, dürfte man froh sein, dass die Voraussetzungen in Bayern andere sind. Die Zahl der Polizeieinsätze am Bahnhof und der Mobilitätsdrehscheibe hatte sich dort binnen sechs Jahren vervierfacht. In einem Drittel der Fälle waren die Täter stark betrunken. Günzburgs Polizeichef Stefan Müller betonte im vergangenen Jahr: „Es geht hier nicht um diejenigen, die sich nach Feierabend eine Flasche Bier gönnen oder um Fußballfans, die vor der Abfahrt zum Spiel etwas trinken. Es geht hier um übermäßig Betrunkene, die pöbeln, beleidigen oder gar handgreiflich werden.“
Seit Herbst ist Bier und Schnaps zwischen 18 und 6 Uhr rund um den Bahnhof tabu, Schilder weisen darauf hin. Die Polizei hat ihre Präsenz erhöht. Die Lage hat sich beruhigt, sagt Müller. Demnächst, kündigt Oberbürgermeister Gerhard Jauernig an, soll eine Videoüberwachung folgen. So weit geht man in Illertissen nicht. Aber auch dort waren die Probleme ähnlich. Mal pöbelten Jugendliche am Bahnhof Passanten an, mal prügelten sich Männer vor einem Kiosk. Und meist hatten die Beteiligten einige Promille intus. Seit einem Jahr gilt nun ein Alkoholverbot. Derzeit gebe es keinerlei Aufgriffe, sagt Alexander Kurfürst, stellvertretender Polizeichef. Die Klientel treffe sich inzwischen anderswo.
So ist das auch in München. Die Szene, die vorher am Hauptbahnhof war, zieht es jetzt in den Alten Botanischen Garten, an den Königsplatz oder in die Schützenstraße. Streetworker Stoye führt zu der Straße, die vom Hauptbahnhof Richtung Stachus führt, erzählt vom Supermarkt, wo es schnell Nachschub gibt und deutet auf ein, zwei Männer, die unter einem Baum herumlungern. „In der nächsten Stunde können da auch 20 stehen. Das ist auch abhängig von den Kontrollen.“
Von der Polizei und dem Kommunalen Außendienst ist an diesem Vormittag nichts zu sehen. Wenn nötig, ermahnen die Einsatzkräfte die Betrunkenen und verteilen Bußgelder. 75 Euro werden fällig, wenn jemand alkoholtrinkend in der Verbotszone angetroffen wird. Stoye bezweifelt, dass das etwas bringt. „Diese Menschen haben einen riesigen Berg an Sorgen, Schulden, Drogenproblemen, Wohnungsnot. Und meistens haben sie eh kein Geld.“Und eines wird ohnehin übersehen: „Die Leute trinken ja nicht aus Jux und Tollerei. Wenn man sie immer weiter vertreibt, vertreibt, vertreibt – wo sollen sie denn dann hin?“
Fünf Minuten vom Hauptbahnhof entfernt, in der Dachauer Straße, soll bis zum Jahresende eine Trinkerstube eingerichtet werden – ein Begegnungszentrum, in dem Alkoholkranke Hilfe bekommen. Ein Projekt, auf das die SPD gedrängt hatte. Und eines, das man sich in Augsburg abgeschaut hat, im Stadtteil Oberhausen, wo die Stadt gemeinsam mit dem Sozialverband SKM und der Drogenhilfe Schwaben einen betreuten Treffpunkt für Süchtige etabliert hat. Auch dadurch hat sich die problematische Lage am Oberhauser Bahnhof gebessert, heißt es von der Polizei.
Die Opposition im Münchner Stadtrat hat das trotzdem nicht besänftigt. Sie hat gegen eine Ausweitung des Alkoholverbots gestimmt. Grünen-Vize Dominik Krause sagt: „Das Problem ist ja deswegen nicht gelöst. Es verlagert sich nur.“Was ihn stört, ist die Tatsache, wie mit Alkoholikern oder Drogensüchtigen umgegangen wird. „Die CSU wünscht sich eine saubere, aufgeräumte Stadt. Menschen, die nicht ins Stadtbild passen, sollen nicht mehr sichtbar sein.“Ähnlich klingt das bei der FDP. Deren OB-Kandidat Jörg Hoffmann pendelt täglich zwischen Augsburg und München, er kennt daher auch die Probleme am Hauptbahnhof. Hoffmann sagt: „Gegen Menschen, die ohnehin ein sichtbares Alkoholproblem haben, wird hart durchgegriffen. Der normale Zugfahrer aber, der sich ein Bier gönnt, wird nicht behelligt, erst recht nicht der gut gekleidete Geschäftsmann.“
Und da ist sich die Opposition ebenso wie Streetworker Stoye einig, endet die Doppelmoral ja noch lange nicht. Was ist mit den Fußball-Fans, die biertrinkend und grölend durch München ziehen? Dem Junggesellenabschied, der unweit des Bahnhofs schon mal vorglüht? Die Wiesn-Besucher, die mit dem Bier Richtung Zug torkeln? Wenn rund um den Hauptbahnhof ohnehin Ausnahmezustand ist. Streetworker Stoye sagt: „Da wird gesoffen bis zur Besinnungslosigkeit. Überall liegen dann die Alkoholleichen herum. Und das wird dann auch geduldet.“FDP-Politiker
Sie grölen: „Sau-fen, sau-fen, sau-fen“
Im Gebüsch liegen Bierdosen und Schnapsflaschen
Hoffmann meint: „Das will ich sehen, wie man da ein Alkoholverbot durchsetzen will.“
Im Münchner Polizeipräsidium heißt es, man werde die Augen auch in diesem Fall nicht verschließen. „Aber wir verlassen uns auf das Fingerspitzengefühl unserer Kollegen“, sagt ein Sprecher.
Vom Hauptbahnhof zum Alten Botanischen Garten sind es nur ein paar Minuten zu Fuß. Auf den ersten Blick ein schöner Fleck mitten in der Innenstadt Münchens. Kinder spielen Fangen auf dem Rasen oder buddeln im Sandkasten. Erwachsene sitzen barfuß mit einer Breze im Gras und sonnen sich in der Mittagspause. Erst auf den zweiten Blick entdeckt man die andere Seite. Bierdosen im Gebüsch, leere Schnapsflaschen unter den Sitzbänken, Kippenschachteln mitten auf dem Gehweg. An einigen Tagen kommen viele Trinker hierher, an anderen Tagen sieht man kaum jemanden. Manche sagen, es könnte einer der neuen Brennpunkte in der Stadt werden, ein Ort, an den sich das Alkoholproblem verlagert.
Im Münchner Polizeipräsidium heißt es: „Wenn es nötig ist, werden wir auch dort mehr kontrollieren.“