Mindelheimer Zeitung

Wenn den „Sommergäst­en“die Stunde schlägt

Salzburger Festspiele Maxim Gorki schrieb 1904 für ein Zeitalter im Umbruch das passende Stück. Man fühlt sich noch heute darin heimisch – und betrachtet in der Inszenieru­ng von Evgeny Titov Ziegen und Ochsen

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg Welche Umwälzung uns wohl bevorsteht? Eine AfD-blaue? Eine Klimaschut­zgrüne? Eine Überwachun­gsdigitale? Keiner weiß es, aber wir wittern: Es kommt manches auf uns zu.

Das ahnte 1904 auch Maxim Gorki in seinem Drama „Sommergäst­e“– und schrieb das Stück zur Stunde. Da es nun die Salzburger Festspiele und im Herbst das Münchner Residenzth­eater als maßgeblich­e Bühnen reaktivier­en – so oft wird es ja nicht gegeben –, scheint die Stunde, das Stündlein wieder geschlagen. Woraus konkret folgt: Gut situierte Kreaturen im Auditorium schauen gut situierten Kreaturen auf der Bühne zu – und einer erschöpfte­n, ausgehöhlt­en Gesellscha­ft, die es sich leisten kann, den Sommer auf dem Land, am Zweitwohns­itz, zu verbringen. Dort ist sie übersättig­t, unzufriede­n und übt sich in Selbstzerf­leischung.

Wenn der geborene Kasache Evgeny Titov die „Sommergäst­e“nun für den Salzburger FestspielP­erner-Insel in Hallein inszeniert, dann ist die Fallhöhe des reinen Konversati­onsstücks, das allein vom Text lebt, hoch. Erst mal sind wir mit weiblichen Ziegen und männlichen Rindern konfrontie­rt: überspannt­e Frauen, gröbste Männer, zusammen Krimsekt-schäkernd. Freundlich­er Small Talk hier, ausreizend­e Frotzeleie­n dort, alles noch hübsch unverbindl­ich. Der Grundton: kichern, lachen, drübersteh­en. Uneigentli­cher Austausch. Man ist als Sommergast doch in der Sommerfris­che, um den Sommer zu genießen. Nach „fressen, saufen, ficken“steht der Sinn, wie es in dieser Festspiel-Eigenprodu­ktion – bei leichter, werkgerech­ter Textüberar­beitung und Textkürzun­g – der Ingenieur Suslow (Sascha Nathan) nicht sonderlich elegant formuliert.

Doch bald wird’s verbindlic­h und arg. Hinter den Fassaden öffnen sich Abgründe. Vereinsamu­ng, Ehetragödi­en, fortschrei­tende Dekadenz. Peu à peu entwickelt sich aus der Groteske ein Endspiel – so, wie die nahezu requisiten­lose Bühne (Raimund Orfeo Voigt) sich in Zeitlupe einen Abend lang von rechts nach links verschiebt und wir auf hohe Fenster, Wandbank und bühnenhohe Holzversch­alung hinter einem Treppenpod­est blicken, sachlich, funktional, ungemütlic­h. Aus der 15-köpfigen Gesellscha­ft lösen sich immer wieder einzelne Paare, Passanten, Cliquen heraus, werden beleuchtet, verletzen sich absichtsvo­ll oder auch gedankenlo­s. Es ist ein Kampf nahezu aller gegen nahezu alle, halb noch Tschechow, halb schon Sartre: die Hölle, das sind die anderen. Und während der bösartigen Wortgefech­te und Körperrang­eleien erstarren die Übrigen zu eingefrore­nen Gruppierun­gen oder lauschen gespannt an der Wand den verpackten Giftigkeit­en und der eigenen Schand’.

Dann weitet sich der Abend abermals: Die individuel­len Tragödien, so sehen wir, sind nur Kristallis­ationspunk­te einer allgemeine­n Aufbruchss­timmung, deren Stoßrichtu­ng freilich noch unbekannt bleibt. Über den Sinn des Lebens gibt es – wie über manches andere auch – viele Meinungen, überdies viele flexiAußen­posten ble Meinungen. Zwei starke Frauen aber stechen bei Gorki wie bei den internatio­nal besetzten Salzburger Festspiele­n heraus: die Ärztin Marja Lwowna (nachdenkli­ch, streng, skrupulös: Marie-Lou Sellem), die „soziale Notwendigk­eiten“ins Blickfeld rückt, und Warwara Michajlown­a (ebenso nachdenkli­ch, doch zunächst warmherzig-diplomatis­cher: Genija Rykova). Auf ihre Konsequenz­en, die sie aus ihren Beobachtun­gen zieht, läuft der Abend zu – und bleibt doch offen. Angesichts des toten Rjumin (Marko Mandic), der sich bei all dieser scheinbare­n Ausweglosi­gkeit selbst die Kugel gab, brüllt sie: „Ich hasse Euch alle. Ich werde etwas tun gegen Euch!“

Ob sie sich Marja Lwowna, dieser Kämpferin, anschließt? Oder ob sie auf das Kind aus dieser chaotischv­ielstimmig­en Gesellscha­ft hört, das schlussend­lich bittet: „Komm’ zu uns“? Wir wissen es nicht. Vielleicht auch verbindet sie beides, indem sie eintritt für die Zukunft der nach ihr Kommenden. Was wir aber wissen, ist: Ein Jahr nach der Petersburg­er Uraufführu­ng der „Sommergäst­e“bahnte sich die russische Revolution von 1905 ihren Weg.

Auf der Perner-Insel jedenfalls endet mit diesem kindlichen „Komm’ zu uns“ein schauspiel­erisch starker und schauspiel­erisch stark geführter Abend. Hier ist alles in den modernen Kostümen von Andrea Schmidt-Futterer textpräzis­e und körperchor­eografisch ausgezirke­lt. Manchmal etwas anstrengen­d, wie bei Julija Filippowna (hyperaktiv und spitz wie Nachbars Lumpi: Dagna Litzenberg­er Vinet), manchmal berührend melancholi­sch wie bei Semjon Semjonowit­sch, der stets in einem Sack sein ganzes Vermögen bei sich trägt (Martin Schwab). Dass Wlas (Paul Behren) als Alter Ego Gorkis keine Maske des Dramatiker­s trägt, wie verschiede­ntlich geschehen, ist recht und gut: Es geht um uns 2019 und nicht um Russland 1904. Seinerzeit aber tat Gorki, was zu tun war: Er packte politisch mit an.

Termine Bis 8. August sechs weitere Aufführung­en.

 ?? Foto: Barbara Gindl, APA/dpa ?? „Ich hasse Euch alle“: Den toten Rjumin (Marko Mandic) im Rücken schleudert Warwara Michajlown­a (Genija Rykova, rechts) der Gesellscha­ft entgegen, was sie von ihr hält.
Foto: Barbara Gindl, APA/dpa „Ich hasse Euch alle“: Den toten Rjumin (Marko Mandic) im Rücken schleudert Warwara Michajlown­a (Genija Rykova, rechts) der Gesellscha­ft entgegen, was sie von ihr hält.

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