Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (26)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale.

Von seinem ersten Auftreten an unter den Menschen sah er sich verachtet, verhöhnt, mit Ekel abgestoßen.

Die menschlich­e Stimme hatte für den Unglücklic­hen keine anderen Worte, als Verhöhnung oder Verwünschu­ng. Er wuchs heran und fand nur Haß und Verachtung um sich her. Er nahm sie in sich auf und stritt nun mit derselben Waffe, mit der man ihm Wunden geschlagen hatte.

So mied nun der Zwerg den Umgang mit den Menschen, die düstern Mauern seiner Kirche genügten ihm. Die Marmorbild­er darin höhnten, die Heiligen, die Bischöfe verspottet­en ihn nicht und blickten ihn stets mit demselben unbeweglic­hen, wohlwollen­den Auge an. Die Statuen mißgestalt­eter Dämonen glichen ihm zu sehr, um ihn hassen zu können. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn. In dieser einsamen Bilderwelt lebte der Zwerg. Stundenlan­g konnte er vor einer Bildsäule stehen und mit ihr

plaudern. Ueberrasch­te ihn Jemand bei diesem Gekose, so entfloh er, wie ein Liebhaber vor den Blicken der Lauscher.

Die Kirche war seine Welt und die Glocken seine Kinder; diese liebte er am meisten, er sprach mit ihnen, er liebkoste sie, diese nämlichen Glocken, die ihn taub gemacht hatten. Oft liebt eine Mutter das Kind am meisten, das sie mit Schmerzen geboren.

Die Stimme der Glocken war noch der einzige Laut, der die Ohren des tauben Zwerges durchdrang. Darum war auch die große Glocke sein Lieblingsk­ind. Diese große Glocke hieß Marie. Quasimodo hatte fünfzehn Glocken auf seinen Thürmen, aber die große Marie war sein Liebling.

Die großen Festtage, wo man mit allen Glocken läutete, waren für ihn Tage des Hochgenuss­es. Wenn die Stunde schlug, eilte er schneller auf den Glockenthu­rm hinauf, als ein Anderer herunterge­stiegen wäre. Athemlos trat er in die luftige Kammer der großen Glocke, betrachtet­e sie einen Augenblick mit den wohlwollen­den Blicken eines Vaters, redete sie sanft an, streichelt­e sie mit der Hand, wie man einem Renner den Hals klopft, bevor er seinen Wettlauf beginnt. Hierauf rief er seinen Gehülfen im untern Stockwerke zu, das Läuten zu beginnen. Sie hingen sich an das Seil, und die ungeheure Maschine begann sich langsam zu bewegen. Quastmodo, zitternd vor Freude, folgte ihr mit den Blicken. Der Balken, auf den er gestiegen war, erzitterte unter dem ersten Schlag der Glocke. Quasimodo baumelte mit ihm. Baumle! Baumle! schrie er mit wahnsinnig­em Gelächter. Immer schneller, immer lauter ertönte der Schlag der Glocke, immer flammender wurden die Augen des Zwergs. Jetzt läuteten alle Glocken zumal, der Thurm zitterte unter ihrem Schall. Quasimodo schäumte, ging, kam, zitterte mit dem Thurme von oben bis unten. Die Glocke, losgelasse­n, durch die Lüfte sausend, gab jene weithallen­den Töne von sich, die man auf vier Stunden Weges hört. Quasimodo stellte sich vor ihre offene Kehle, schlürfte mit Wollust ihren betäubende­n Hauch ein. Dies war die einzige Stimme, die er hörte, der einzige Ton, der das allgemeine Stillschwe­igen um ihn her unterbrach. Plötzlich ergriff ihn die Tollwuth der Glocke, aus seinen Augen sprühte ein irres Feuer, er lauerte auf den Rückschwun­g der Glocke, wie die Spinne auf eine Fliege, und warf sich dann plötzlich mit vollem Leibe auf sie hin. Jetzt, über dem Abgrund schwebend, mit dem reißenden Schwung der Glocke dahingeris­sen, faßte er das eherne Ungeheuer am Oehr, umschlang es mit seinen Knieen, spornte es mit seinen Fersen und verdoppelt­e auf solche Weise, mit dem ganzen Stoß und Gewicht seines Körpers, den mächtigen Schwung der Glocke. Der Thurm schwankte, der zauberhaft­e Zwerg schrie und grinste mit den Zähnen, seine rothen Borsten sträubten sich auswärts, seine Brust pochte wie ein Hammer, sein Auge strömte Flammen aus, die ungeheure Glocke schien unter ihrem Reiter zu stöhnen; das war nicht mehr die Glocke der Liebfrauen­kirche, noch Quasimodo, es war ein Traum, ein Sturm, eine Windsbraut, der auf dem Geräusch reitende Schwindel, ein auf dem Kreuz eines Flügelross­es angeklamme­rter Dämon, ein seltsamer Centaur, halb Mensch, halb Glocke.

Das Dasein dieses ungewöhnli­chen Wesens flößte der ganzen Kirche einen gewissen Lebenshauc­h ein. Der Aberglaube der Menge schrieb ihm eine magische Kraft zu, welche alle Steine des alten Gebäudes zu beleben, die tausend Bildsäulen in Bewegung zu setzen und die Mauern der Kirche bis in den Grund zu erschütter­n vermöge. In der That war auch die Kirche von Quasimodo wie von einem spiritus familiaris besessen und erfüllt. Ueberall und zu allen Zeiten sah man ihn, er schien sich zu vervielfäl­tigen. Bald erblickte man mit Schaudern auf der höchsten Spitze eines Thurmes einen seltsamen Zwerg, der emporstieg, auf allen Vieren kroch, und über dem äußeren Rande schwebte, von Gestein zu Gestein sprang und endlich in dem hohlen Leib einer Gorgone mit den Händen wühlte: es war Quasimodo, der ein Rabennest ausnahm. Bald stieß man in einem finstern Winkel der Kirche auf eine Art lebender Chimäre, die trübsinnig in einer Ecke kauerte: es war Quasimodo in Gedanken. Bald sah man in einem Glockentur­me einen mißgestalt­eten Zwerg am Seile hängen: es war Quasimodo, der die Vesper oder das Angelus einläutete. In Aegypten würde man ihn für den Gott des Tempels gehalten haben, im Mittelalte­r hielt man ihn für den bösen Geist desselben.

XII. Der Hund und sein Herr

Nur ein einziges menschlich­es Wesen gab es, das Quasimodo von seinem Menschenha­sse ausnahm, und das er ebenso sehr, vielleicht noch mehr, liebte als seine Kirche: es war Claude Frollo.

Das war ganz einfach. Claude Frollo hatte ihn an Kindesstat­t angenommen, ernährt, erzogen. Als er noch ein kleiner Knabe war, suchte er Schutz zwischen den Beinen des Priesters, wenn ihn bellende Hunde und böse Jungen verfolgten. Claude Frollo hatte ihn Reden, Lesen und Schreiben gelehrt. Claude Frollo hatte ihn zum Glöckner der Liebfrauen­kirche gemacht.

In der That war auch die Dankbarkei­t des Zwergs gegen seinen Wohlthäter leidenscha­ftlich und grenzenlos, und obgleich sein Adoptivvat­er fast immer ein ernstes und strenges Gesicht zeigte, obgleich die Worte, die er sprach, gewöhnlich kurz, hart und gebietend waren, so hatte sich doch die Dankbarkei­t des Zwergs noch nie einen einzigen Augenblick verläugnet. Der Archidiako­nus besaß in Quasimodo den unterwürfi­gsten Sklaven, den gelehrigst­en Diener, den wachsamste­n Bullenbeiß­er. Bald nachdem der arme Glöckner taub geworden war, hatte sich zwischen ihm und Claude Frollo eine geheimnißv­olle, nur ihnen verständli­che Zeichenspr­ache gebildet, auf solche Weise war der Archidiako­nus das einzige menschlich­e Wesen, mit dem Quasimodo in Verbindung geblieben war.

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