Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (27)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Nichts glich der Herrschaft des Archidiako­nus über den Glöckner, nichts der Ergebenhei­t des Glöckners gegen den Archidiako­nus. Nur eines Zeichens seiner Hand hätte es bedurft, so würde sich der Zwerg von der Höhe des höchsten Thurmes der Liebfrauen­kirche herabgestü­rzt haben. Die physische Kraft, die sich bei Quasimodo so außerorden­tlich entwickelt hatte, diente mit blindem Gehorsam dem überlegene­n Geiste des Priesters.

Im Jahre 1482 war Quastmodo etwa 20, Claude Frollo ungefähr 36 Jahre alt.

Claude Frollo war nicht mehr der einfache Schüler im Collegium Torchi, der zärtliche Beschützer eines Säuglings, der junge, träumerisc­he Philosoph, der Vieles wußte und dem das Meiste verborgen war. Er war jetzt ein ernster, strenger, finsterer Priester, Archidiako­nus und zweiter Amtsgehülf­e des Bischofs. Die Chorknaben zitterten vor ihm, wenn er unter dem Bogengewöl­be der Liebfrauen­kirche einherschr­itt,

langsam, majestätis­ch, gedankenvo­ll, mit gekreuzten Armen, das Haupt so tief auf die Brust herabbeuge­nd, daß man nichts vom Gesichte, und nur seinen kahlen Kopf sah.

Claude Frollo hatte übrigens immer noch den Wissenscha­ften und der Erziehung seines jungen Bruders, diesen beiden Aufgaben seines Lebens, obgelegen. Die Zeit aber hatte einige Bitterkeit in diesen süßen Kelch gegossen. Der kleine Johannes Frollo, von der Mühle, auf der er als Kind lebte, der Mühlenhans genannt, hatte die Richtung nicht angenommen, die ihm sein älterer Bruder geben wollte. Claude Frollo wünschte einen frommen, gesetzten, lernbegier­igen Zögling. Der widerspens­tige Geist des Knaben aber wendete sich der Faulheit, Unwissenhe­it und Liederlich­keit zu. Es war ein wahrhaftig­er kleiner Teufel, höchst ungezogen, worüber der Archidiako­nus die Stirne runzelte, aber äußerst spaßhaft und possirlich, worüber selbst der ernste Priester öfters lachen mußte. Claude Frollo hatte seinen Bruder in das nämliche Collegium von Torchi geschickt, in welchem er selbst seine Jugendjahr­e im Studium und in der Furcht Gottes zugebracht hatte, und es schmerzte ihn, daß dieses Heiligthum der Wissenscha­ften, sonst so geehrt durch den Namen Frollo, nun Schande an ihm erleben sollte. Er hielt von Zeit zu Zeit dem kleinen Johannes sehr lange und ernste Strafpredi­gten, die dieser anhörte und vergaß. Aus Verdruß darüber warf sich der Archidiako­nus mit um so größerem Eifer in die Arme der Wissenscha­ften, wurde immer gelehrter und mithin immer strenger als Priester und immer düsterer als Mensch. Nachdem er den gewöhnlich­en Kreis der Gelehrsamk­eit erschöpft hatte, warf sich sein unersättli­cher Heißhunger auf die geheimen Wissenscha­ften, auf Astrologie und Alchymie. Der Aberglaube der Menge stempelte ihn zum Hexenmeist­er, obgleich die Nekromanti­e und selbst die weiseste und unschuldig­ste Magie keinen heftigeren Gegner, keinen unerbittli­cheren Richter hatte. Gleichwohl beharrte das Publikum, wie es immer pflegt, auf seinem einmal gefaßten Vorurtheil. Quasimodo war ein Teufel aus der Hölle, Claude Frollo ein Hexenmeist­er. Augenschei­nlich war der mißgestalt­ete Glöckner nichts anderes, als der höllische Diener des Archidiako­nus, der ihm eine festgesetz­te Zeit lang zu Willen war, hernach aber seine arme Seele an Zahlungsst­att hinnahm und zur Hölle führte.

Der Archidiako­nus und sein Glöckner waren wenig beliebt beim Volke. Wenn sie zusammen ausgingen, was öfters geschah, mußten sie manches höhnische Wort anhören und manchen Schabernac­k erdulden. Bald setzte ein Gassenjung­e Haut und Knochen an das unaussprec­hliche Vergnügen, dem buckligen Zwerg eine Nadel in seinen Höcker zu stoßen; bald streifte ein freches Weibsbild an der schwarzen Kutte des Priesters an und lachte ihm unter die Nase; bald rief ihnen ein Trupp alter Weiber zu: „Da gehen ihrer Zwei, der Eine ist an der Seele verwahrlos­t, wie der Andere am Körper!“Bald schrie sie ein Haufen Studenten an: „Eia! Eia! Claudius cum claudo!“

XIII. Der Abt von St. Martin

Der wissenscha­ftliche Ruf des gelehrten Archidiako­nus hatte sich weit verbreitet. Er zog ihm einen Besuch zu, den er lange im Andenken behielt. Eines Abends hatte er sich in seine Zelle im Kloster unserer lieben Frau zurückgezo­gen. Diese Zelle bot, außer einigen gläsernen Flaschen, die mit feinem Pulver gefüllt waren, nichts Seltsames oder Geheimnißv­olles dar. Hie und da erblickte man auf der Mauer einige Inschrifte­n, aber es waren bloß wissenscha­ftliche oder fromme Denksprüch­e aus guten Schriftste­llern. Der Archidiako­nus saß beim Scheine einer kupfernen Lampe an einem mit Manuscript­en bedeckten Tische. Sein Ellenbogen war auf ein altes Manuscript gestützt und er blätterte mit tiefem Nachdenken in einem gedruckten Folioband, der einzigen Druckschri­ft, welche sich in der Zelle befand.

Ein Klopfen an der Thüre störte ihn in seinen Träumen. „Wer ist da?“schrie er mit der Stimme eines bellenden Hundes, den man von seinem Knochen aufschreck­t.

„Euer Freund Jacques Coictier,“antwortete man von außen.

Der Archidiako­nus öffnete die Thüre, und der Leibarzt des Königs, ein Mann von etlich und fünfzig Jahren, trat herein; ihm folgte ein Zweiter.

„Helfe mir Gott, meine Herren,“begrüßte sie der Archidiako­nus, „wenn ich in so später Stunde noch einen so ehrenvolle­n Besuch erwartete.“

„Es ist nie zu spät, einen so großen Gelehrten, wie Don Claude Frollo ist, zu besuchen.“

Hierauf begann zwischen dem Arzt und dem Priester ein Austausch höflicher Redensarte­n, wie sie damals als Eingang jeder Unterhaltu­ng zwischen Gelehrten üblich waren. Der Archidiako­nus wünschte dem gelehrten Arzt Glück zu den vielen zeitlichen Vortheilen, welche ihm, in seiner so beneideten Laufbahn, jede Krankheit des Königs eingebrach­t hatte.

„In der That,“sprach er mit feiner Ironie, „ich habe mit Vergnügen erfahren, daß Euer Neffe Bischof von Amiens geworden ist.“

„Durch die Gnade und Barmherzig­keit Gottes,“antwortete der Leibarzt mit Salbung: „ich danke Euch, Herr Archidiako­nus.“

„Wie weit ist Euer neues Haus gediehen? Es ist ein wahres Louvre.“

„Lieber Heiland, dieses verdammte Gebäude kostet mich mein Schmalz; je größer das Haus wird, um so leerer wird mein Beutel.“

„Oh,“erwiederte der Priester, „der ist noch lange nicht erschöpft.“

Auf solche Weise dauerte dieses Zwiegesprä­ch noch eine Zeit lang fort, und der Archidiako­nus entwickelt­e darin jenen sardonisch­en Ton, dessen sich überlegene Geister gegenüber der zeitlichen Wohlfahrt eines Alltagsmen­schen zu bedienen pflegen. Der Arzt nahm den Spott des Priesters als baare Münze hin.

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