Ab in den Süden! W
Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Folge 1: Von Nord nach Süd durchs Ries. Viel Weite und erstaunliche Begegnungen
Roter Faden? Entlang dieser Wanderung entspinnen sich davon mehrere. In allen Farben. Der nie abreißende Blühstreifen neben den kleinen Straßen ist einer, das Dunkelgrün der allgegenwärtigen Maisfelder ein anderer. Oder das immer gleiche Schild an den Gartenzäunen der Ortschaften: „Altgold ist Bargeld“. Man könnte auch die stillen Dörfer aneinanderreihen, in denen der Wanderer den Wind und die Vögel hört und sonst nicht viel. Heuberg, Enkingen, Grosselfingen, Ziswingen, Untermagerbein… Oder die Namen der Gasthöfe, die als Gebäude noch dastehen, aber längst geschlossen sind. Gasthof Rehklau. Brauereigasthof Bergdolt. Martinsklause…
Dies ist die Geschichte einer Nord-Süd-Expedition, einer Wanderung durch das Ries bis nach Bissingen, entlang einer mit dem Kugelschreiber auf der Landkarte gezogenen Linie, deren größeren Teil bis ins Unterallgäu wir unmöglich schaffen konnten in zwei Tagen. Wir laufen auf gut Glück. Haben nichts gebucht, nichts gegoogelt vorher, sind offen für das, was kommt. Vor allem aber ist dies eine Geschichte über Zufallsbegegnungen am Wegesrand und eine Ermutigung, sich seinen Mitmenschen anzuvertrauen. Herrn Gruber und Alice zum Beispiel, oder Franz Recht, dem Schreitmüller Gerhard. Sie treten noch segensreich in Erscheinung im Verlauf dieser Wandergeschichte, in der es viele einsame Kilometer ebenso gibt wie Gespräche mit geselligen Leuten.
DReihe nach. Wir starten in Ehingen am Ries. Das ist unser Nordpol: Von hier an, vom Kirchberg droben, geht es zwei Tage südwärts, durch den Rieskrater, durch schöne Landschaft, deren Weite – in alten Wanderführern hätte man gelesen: das Herz öffnet. Zwei Wörter pflücken wir gleich auf dem Weg durchs Dorf. „Gemeindekanzlei“das eine, „Güllefass-Verleih“das andere. Was heißt eigentlich Dorf heute, Land? Das Plakat „Linkes Sommerfest“, die Werbung für eine „Beach Party“, die Einladung zur „1. Tattoo- und Bike-Messe“? Auch.
Genauso wie die drei Riesentöpfe, die fürs Fest der Kirchengemeinde an diesem Sonntag auf Herdplatten schon bereitstehen. Die Kirche, Sankt Georg, vor der viele Autos parken: Sie gehört allen. „Die Evangelischen sind grad raus, jetzt kommen die Katholiken. Das ist so bei uns in Ehingen“, erzählt uns eine Frau, die gerade ihren Hof kehrt. „Geht’s heut wandern?“Schon sind wir im Gespräch. Ab halb fünf an diesem Morgen habe es gehagelt. Nur hier in Ehingen am Ries. Überall liegt zerfetztes Laub herum. Nun soll alles ordentlich sein zum Gemeindefest. Heute kommen alle zusammen. Der Ort habe sich schon verändert. Früher habe es zwei Lebensmittelgeschäfte und ein Elektrogeschäft gegeben. Jetzt kaufen
alle in Oettingen ein. Die beiden Gaststätten, der Linsenmeyer und der Fuchs oben am Berg, öffnen nur noch für Hochzeiten und Geburtstage. Ein schnelles Bier? Das ist nicht mehr möglich in Ehingen am Ries.
ir wandern Richtung Heuberg und rufen uns Superlative zu. „Wahnsinnig schön, die Landschaft!“– „Der Wolkenhimmel – malerisch“. – „Sieh mal, was hier alles blüht!“– „Und gar keine Bienen dran – undankbares Volk…“Der Blick geht weit übers sanft gewellte Land. In der Ferne, linker Hand, blinken die Silberkessel der Oettinger Brauerei. Einzelne Bäume ragen aus der Landschaft – und Kirchtürme. Kein Kilo vom Rucksackgewicht drückt die Euphorie. Eine Verkehrszählung ergibt: 17 Autos, drei Radfahrer, zwei Mopedfahrer, ein Traktor und zwei Fußgänger – das sind wir. Die vorbildlichen Blühstreifen werden alle paar Meter von Schrifttafeln gewürdigt, die sehr neu aussehen und sehr viel Ministeriumsselbstlob verkünden. „Mehr Mut zu mehr Unordnung“lesen wir. Was heißt eigentlich Dorf heute, Land? Jetzt auch das: Mut zu mehr Unordnung.
In Heuberg stehen Leute auf der Straße – mit Fotoapparat in der Hand. Heuberger? Nein. Aber so etwas wie Ur-Heuberger dann doch. Hartmut Gruber lebt schon lange in Gröbenzell, aber er nutzt seinen Ruhestand, die Familiengeschichte zu erforschen. Jetzt steht er gerade vor dem ehemaligen Wohnhaus seines Ur-Vorfahren. Ein typisches Rieser Haus, schmuck und stilsicher saniert, die Blumen davor eine Augenweide. Längst gehört es einer anderen Familie. „Die haben das ganz hübsch gemacht“, sagt der 77-Jährige.
In diesem Haus also hat sein erster ihm bekannter Vorfahr gelebt. Ab 1603. Das ist nachgewiesen. Natürlich ein Gruber. Er war Söldner im Dreißigjährigen Krieg. Das weiß man. 1766 zogen die Grubers dann weg nach Balgheim und ihre Geschichte in Heuberg hört auf. All dies Wissen zusammenzutragen, das kostete ja wohl den halben Ruhestand? Hartmut Gruber lächelt und erzählt eine kuriose Geschichte, die jeden Ahnenforscher glücklich machen würde. Als er beim Bürgermeister von Balgheim wegen Informationen über seine Familie vorsprach, habe dieser seinen Computer hochgefahren und ihm alles über die Ur-Ur-Ur-Grubers weitergegeben. Ein Archivar von Oettingen hatte ganze Arbeit geleistet. Hartmut Gruber zieht es immer wieder zurück nach Heuberg. Wenn er auf Verwandtenbesuch ins Ries fährt, macht er Halt, zeigt anderen Verwandten den Ort und auch das Haus, die Keimzelle der Familie. So auch an diesem Sonntag. Längst haben sich viele Vorhänge bewegt. So viele Menschen auf der Straße, was ist da los in Heuberg?
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