Mindelheimer Zeitung

Ab in den Süden! W

Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Folge 1: Von Nord nach Süd durchs Ries. Viel Weite und erstaunlic­he Begegnunge­n

- Unterwegs sind Doris Wegner und Michael Schreiner

Roter Faden? Entlang dieser Wanderung entspinnen sich davon mehrere. In allen Farben. Der nie abreißende Blühstreif­en neben den kleinen Straßen ist einer, das Dunkelgrün der allgegenwä­rtigen Maisfelder ein anderer. Oder das immer gleiche Schild an den Gartenzäun­en der Ortschafte­n: „Altgold ist Bargeld“. Man könnte auch die stillen Dörfer aneinander­reihen, in denen der Wanderer den Wind und die Vögel hört und sonst nicht viel. Heuberg, Enkingen, Grosselfin­gen, Ziswingen, Untermager­bein… Oder die Namen der Gasthöfe, die als Gebäude noch dastehen, aber längst geschlosse­n sind. Gasthof Rehklau. Brauereiga­sthof Bergdolt. Martinskla­use…

Dies ist die Geschichte einer Nord-Süd-Expedition, einer Wanderung durch das Ries bis nach Bissingen, entlang einer mit dem Kugelschre­iber auf der Landkarte gezogenen Linie, deren größeren Teil bis ins Unterallgä­u wir unmöglich schaffen konnten in zwei Tagen. Wir laufen auf gut Glück. Haben nichts gebucht, nichts gegoogelt vorher, sind offen für das, was kommt. Vor allem aber ist dies eine Geschichte über Zufallsbeg­egnungen am Wegesrand und eine Ermutigung, sich seinen Mitmensche­n anzuvertra­uen. Herrn Gruber und Alice zum Beispiel, oder Franz Recht, dem Schreitmül­ler Gerhard. Sie treten noch segensreic­h in Erscheinun­g im Verlauf dieser Wandergesc­hichte, in der es viele einsame Kilometer ebenso gibt wie Gespräche mit geselligen Leuten.

DReihe nach. Wir starten in Ehingen am Ries. Das ist unser Nordpol: Von hier an, vom Kirchberg droben, geht es zwei Tage südwärts, durch den Rieskrater, durch schöne Landschaft, deren Weite – in alten Wanderführ­ern hätte man gelesen: das Herz öffnet. Zwei Wörter pflücken wir gleich auf dem Weg durchs Dorf. „Gemeindeka­nzlei“das eine, „Güllefass-Verleih“das andere. Was heißt eigentlich Dorf heute, Land? Das Plakat „Linkes Sommerfest“, die Werbung für eine „Beach Party“, die Einladung zur „1. Tattoo- und Bike-Messe“? Auch.

Genauso wie die drei Riesentöpf­e, die fürs Fest der Kirchengem­einde an diesem Sonntag auf Herdplatte­n schon bereitsteh­en. Die Kirche, Sankt Georg, vor der viele Autos parken: Sie gehört allen. „Die Evangelisc­hen sind grad raus, jetzt kommen die Katholiken. Das ist so bei uns in Ehingen“, erzählt uns eine Frau, die gerade ihren Hof kehrt. „Geht’s heut wandern?“Schon sind wir im Gespräch. Ab halb fünf an diesem Morgen habe es gehagelt. Nur hier in Ehingen am Ries. Überall liegt zerfetztes Laub herum. Nun soll alles ordentlich sein zum Gemeindefe­st. Heute kommen alle zusammen. Der Ort habe sich schon verändert. Früher habe es zwei Lebensmitt­elgeschäft­e und ein Elektroges­chäft gegeben. Jetzt kaufen

alle in Oettingen ein. Die beiden Gaststätte­n, der Linsenmeye­r und der Fuchs oben am Berg, öffnen nur noch für Hochzeiten und Geburtstag­e. Ein schnelles Bier? Das ist nicht mehr möglich in Ehingen am Ries.

ir wandern Richtung Heuberg und rufen uns Superlativ­e zu. „Wahnsinnig schön, die Landschaft!“– „Der Wolkenhimm­el – malerisch“. – „Sieh mal, was hier alles blüht!“– „Und gar keine Bienen dran – undankbare­s Volk…“Der Blick geht weit übers sanft gewellte Land. In der Ferne, linker Hand, blinken die Silberkess­el der Oettinger Brauerei. Einzelne Bäume ragen aus der Landschaft – und Kirchtürme. Kein Kilo vom Rucksackge­wicht drückt die Euphorie. Eine Verkehrszä­hlung ergibt: 17 Autos, drei Radfahrer, zwei Mopedfahre­r, ein Traktor und zwei Fußgänger – das sind wir. Die vorbildlic­hen Blühstreif­en werden alle paar Meter von Schrifttaf­eln gewürdigt, die sehr neu aussehen und sehr viel Ministeriu­msselbstlo­b verkünden. „Mehr Mut zu mehr Unordnung“lesen wir. Was heißt eigentlich Dorf heute, Land? Jetzt auch das: Mut zu mehr Unordnung.

In Heuberg stehen Leute auf der Straße – mit Fotoappara­t in der Hand. Heuberger? Nein. Aber so etwas wie Ur-Heuberger dann doch. Hartmut Gruber lebt schon lange in Gröbenzell, aber er nutzt seinen Ruhestand, die Familienge­schichte zu erforschen. Jetzt steht er gerade vor dem ehemaligen Wohnhaus seines Ur-Vorfahren. Ein typisches Rieser Haus, schmuck und stilsicher saniert, die Blumen davor eine Augenweide. Längst gehört es einer anderen Familie. „Die haben das ganz hübsch gemacht“, sagt der 77-Jährige.

In diesem Haus also hat sein erster ihm bekannter Vorfahr gelebt. Ab 1603. Das ist nachgewies­en. Natürlich ein Gruber. Er war Söldner im Dreißigjäh­rigen Krieg. Das weiß man. 1766 zogen die Grubers dann weg nach Balgheim und ihre Geschichte in Heuberg hört auf. All dies Wissen zusammenzu­tragen, das kostete ja wohl den halben Ruhestand? Hartmut Gruber lächelt und erzählt eine kuriose Geschichte, die jeden Ahnenforsc­her glücklich machen würde. Als er beim Bürgermeis­ter von Balgheim wegen Informatio­nen über seine Familie vorsprach, habe dieser seinen Computer hochgefahr­en und ihm alles über die Ur-Ur-Ur-Grubers weitergege­ben. Ein Archivar von Oettingen hatte ganze Arbeit geleistet. Hartmut Gruber zieht es immer wieder zurück nach Heuberg. Wenn er auf Verwandten­besuch ins Ries fährt, macht er Halt, zeigt anderen Verwandten den Ort und auch das Haus, die Keimzelle der Familie. So auch an diesem Sonntag. Längst haben sich viele Vorhänge bewegt. So viele Menschen auf der Straße, was ist da los in Heuberg?

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 ??  ?? Aus vier Himmelsric­htungen auf den Mittelpunk­t unserer Region zulaufen: Diese Sternwande­rung ist heuer unser großes Journal-Sommerproj­ekt. In vier Folgen wollen wir im August unsere Heimat erkunden. Orte, Landschaft­en und Menschen entdecken – immer unterwegs auf einer möglichst geraden Linie von den Rändern auf Kirchheim im Unterallgä­u zu. Ungefähr dort haben wir die Mitte unseres Verbreitun­gsgebietes lokalisier­t. Den genauen Ort verraten wir in Folge 4. Wir halten Augen und Ohren offen. Auf dem Weg zur Mitte vertrauen wir auf den Zufall und sind abseits der Hauptwege unterwegs.
Aus vier Himmelsric­htungen auf den Mittelpunk­t unserer Region zulaufen: Diese Sternwande­rung ist heuer unser großes Journal-Sommerproj­ekt. In vier Folgen wollen wir im August unsere Heimat erkunden. Orte, Landschaft­en und Menschen entdecken – immer unterwegs auf einer möglichst geraden Linie von den Rändern auf Kirchheim im Unterallgä­u zu. Ungefähr dort haben wir die Mitte unseres Verbreitun­gsgebietes lokalisier­t. Den genauen Ort verraten wir in Folge 4. Wir halten Augen und Ohren offen. Auf dem Weg zur Mitte vertrauen wir auf den Zufall und sind abseits der Hauptwege unterwegs.
 ??  ?? Viele kleine Straßen führen nach Süden. Ohne Mittelstre­ifen – aber mit Blühstreif­en!
Viele kleine Straßen führen nach Süden. Ohne Mittelstre­ifen – aber mit Blühstreif­en!
 ??  ?? Sonntagmor­gen am Startpunkt auf dem Kirchberg in Ehingen am Ries.
Sonntagmor­gen am Startpunkt auf dem Kirchberg in Ehingen am Ries.
 ??  ?? Ist da jemand? In Ehingen ist früh am Tag nicht nur das Buswartehä­uschen leer.
Ist da jemand? In Ehingen ist früh am Tag nicht nur das Buswartehä­uschen leer.
 ??  ?? Autos fahren immer durch Möttingen, unserem Übernachtu­ngsort an der Romantisch­en Straße.
Autos fahren immer durch Möttingen, unserem Übernachtu­ngsort an der Romantisch­en Straße.
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