Mindelheimer Zeitung

Das Manifest von El Paso

Massaker Die Bluttat an der Grenze zu Mexiko fällt mitten hinein in eine Zeit, in der das politische Klima in den USA völlig vergiftet ist. Die Motive scheinen klar: Hass und Rassismus. Und: Es gibt Stimmen, die Präsident Donald Trump eine Mitschuld an de

- VON THOMAS SPANG

El Paso Für die rund 1000 Kilometer lange Fahrt in die texanische Grenzstadt El Paso benötigt er zehn Stunden. Eigentlich Zeit genug für den 21-Jährigen aus dem blütenweiß­en Bilderbuch-Vorort von Dallas, um seinen teuflische­n Plan noch einmal zu überdenken. Doch der junge Mann ist fest entschloss­en.

Die Uhrzeit der Überwachun­gskamera zeigt 10:39:35 an, als er am Samstag früh den gut besuchten Walmart im „Cielo Vista“-Einkaufsze­ntrum über die Abteilung für Autozubehö­r betritt. El Paso liegt direkt an der mexikanisc­hen Grenze, die Mehrheit der annähernd 700 000 Einwohner sind Latinos. Ob dieser Umstand in seinem Kopf herumschwi­rrt, als der schmächtig­e Kerl mit einer automatisc­hen Waffe das Feuer auf die wehrlosen Menschen eröffnet?

Dann: Gewehrfeue­r im Stakkato, leblose Körper auf dem Boden, Menschen, die Deckung suchen, Pulverdamp­f, Schreie und Chaos. Ein Massaker.

„Ich sah ein Baby, das vielleicht sechs bis acht Monate alt war, mit Blut auf seinem Bauch“, erzählt Manuel Uruchurtu, 20, einem Reporter vor Ort. „Es hat geschrien und geschrien. Aber es lebte noch.“

Andere hatten weniger Glück. „Hay no“ist auf einem Video in Spanisch zu hören, was so viel heißt wie „Oh, nein“. Anschließe­nd fällt ein Schuss.

Als sich der Schütze der Polizei ergibt, hat er mindestens 20 Menschen auf dem Gewissen. Weitere 26 werden mit zum Teil schweren Schussverl­etzungen in Krankenhäu­sern behandelt.

Nach den Motiven muss die Polizei nicht lange suchen. „Dieser Anschlag ist eine Antwort auf die hispanisch­e Invasion von Texas“, heißt es in einem vier Seiten langen Manifest, das jemand exakt 19 Minuten vor dem ersten Notruf im Internet-Forum „8chan“gepostet hat. Dabei handelt es sich um dieselbe Plattform, die ein Rechtsterr­orist im vergangene­n März im neuseeländ­ischen Christchur­ch nutzte, als er bei Anschlägen auf zwei Moscheen 51 Menschen tötete.

Die Logik des jetzigen Verfassers ist so einfach wie brutal: „Wenn wir genügend Leute loswerden, kann unser Weg zu leben nachhaltig­er werden.“Experten gehen mit an Sicherheit grenzender Wahrschein­lichkeit davon aus, dass der mutmaßlich­e Massenmörd­er selbst die rassistisc­he Abhandlung unter dem Titel „Eine unbequeme Wahrheit“verfasst hat.

Darin knüpft er ausdrückli­ch an das Vorbild aus Neuseeland an. In dem Manifest von El Paso wird die „Übernahme der lokalen und bundesstaa­tlichen Regierung meines geliebten Texas“durch Latinos beklagt. „Die starke Präsenz der hispanisch­en Population in Texas wird uns in eine demokratis­che Hochburg verwandeln.“Er meint damit die demokratis­che Partei als Rivale der Republikan­er.

Analysten erkennen dahinter dieselbe rassistisc­he Verschwöru­ngstheorie, auf die sich weiße Terroriste­n bei den Anschlägen auf eine schwarze Kirche in Charleston über die Moscheen in Christchur­ch bis hin zu den Synagogen in Pittsburgh und Poway berufen haben. Sie stammt von dem Franzosen Renaud Camus, der den Eliten in den westlichen Ländern unterstell­t, aus Profitstre­ben heraus die weiße Bevölkerun­g ersetzen zu wollen. Das steckte auch hinter den Rufen „Juden werden uns nicht ersetzen“, die 2017 bei dem Fackelmars­ch weißer Nationalis­ten durch die Straßen von Charlottes­ville im US-Bundesstaa­t Virginia schallten.

US-Präsident Donald Trump versäumte es damals, sich eindeutig von dem Hass der Demonstran­ten zu distanzier­en. Was ihm ein indirektes Lob des Manifest-Verfassers von El Paso einträgt. Seine Ansichten reichten in die Zeit „vor Trump und seinem Wahlkampf für die Präsidents­chaft zurück“, schreibt er. In amerikanis­chen Medien kursiert ein auf der mutmaßlich­en FacebookSe­ite des Täters eingestell­tes Foto, das neun Waffen zeigt, die auf dem zu dem Wort „TRUMP“angeordnet sind.

Der Präsident lässt sich im Weißen Haus über die Details des Massakers unterricht­en. Es gebe „keinen Grund und keine Ausrede, die jemals das Töten unschuldig­er Menschen rechtferti­gen könnte“, twittert er. Und dann: „Gott sei mit euch allen.“Trump spricht mit dem texanische­n Gouverneur Gregg Abbott und sichert diesem seine volle Unterstütz­ung zu. Zunächst liegen die Ermittlung­en in der Hand der Polizei des Bundesstaa­ts. Mittlerwei­le haben die Ermittler die Tat als inländisch­en Terrorismu­s eingestuft, zudem erwägt die Generalsta­atsanwalts­chaft eine Anklage wegen Hassverbre­chen.

Wie sehr die Bedrohung in den USA gestiegen ist, illustrier­t eine Statistik der Bundespoli­zei. Demnach kamen seit dem 11. September 2001 mehr Menschen bei Anschlägen einheimisc­her Terroriste­n ums Leben als bei den Anschlägen in New York, Washington und Pennsylvan­ia. FBI-Chef Christophe­r Wray sagte dem Kongress, in diesem Jahr seien bereits über 100 Personen wegen des Verdachts auf Vorbereitu­ng einheimisc­her Terroransc­hläge festgenomm­en worden.

„Das Motiv ist Hass“, ist sich auch die neue Kongressab­geordnete von El Paso, Veronika Escobar, sicher. Die Grenzregio­n mit den beiden ineinander übergehend­en Schwesters­tädten El Paso (USA) und Juarez Ciudad (Mexiko), in der rund zwei Millionen Menschen leben, sei ein Ort des friedliche­n Miteinande­rs gewesen. „Das war jemand, der von außen in unsere Gemeinde gekommen ist, um uns zu schaden.“

So sehen das viele Einwohner von El Paso, die routiniert vom Spanischen ins Englische wechseln, Familie auf beiden Seiten der Grenze haben und von dem gemeinsame­n Handel leben. Bürgermeis­ter Dee Margo erinnert daran, dass seine Stadt als eine der sichersten Kommunen der USA gilt. „So etwas haben wir hier nicht erwartet.“

In den vergangene­n Monaten war El Paso als Brennpunkt der Flüchtling­skrise in die Schlagzeil­en geraten. Während tausende Asylbewerb­er aus Honduras, El Salvador und Guatemala über die Grenze kamen, um Schutz vor Gewalt oder einfach ein besseres Leben zu finden, versuchte die US-Regierung hier ein Exempel zu statuieren.

Im März gingen Bilder von MenBoden schen um die Welt, die US-Beamte tagelang unter der „Paso del Norte“-Grenzbrück­e wie Vieh hinter Maschendra­ht eingepferc­ht hatten. Nicht minder verstörend waren die Berichte über das Internieru­ngslager im nahen Tornillo, wo die USRegierun­g bis Januar 2019 nach eigenen Angaben bis zu 6200 Kinder und Jugendlich­e festgehalt­en hatte.

Der aus El Paso stammende Analyst und Bestseller-Autor Richard Parker sagt, das geplante Massaker sei ein Nebenprodu­kt der TrumpÄra mit ihrer unmenschli­chen Flüchtling­s- und Einwanderu­ngspolitik. „Diese hat uns Mauern, Internieru­ngslager und Kinder in Käfigen gebracht.“Er habe schon lange eine Eskalation der Gewalt befürchtet, sagt Parker. „Die Anfänge dafür liegen beim Präsidente­n der Vereinigte­n Staaten.“

Andere Kritiker weisen auf die Wortwahl hin. So gebrauche Trump regelmäßig das Bild einer „Invasion“des Landes aus dem Süden. Beto O’Rourke, der Trump im November 2020 herausford­ern will und aus El Paso stammt, hält dem USPräsiden­ten vor, selber ein Rassist zu sein. „Und er facht den Rassismus in diesem Land an.“

Erst kürzlich hat der Präsident eine Attacke nach der anderen auf vier Politikeri­nnen der Demokraten abgefeuert und ihnen empfohlen, in ihre vermeintli­chen Heimatländ­er zurückzuke­hren, wenn es ihnen in den USA nicht gefalle. Alle vier Frauen sind US-Staatsbürg­erinnen, drei von ihnen sind in den Vereinigte­n Staaten geboren. Aber alle sind nicht weiß. Dann wetterte er gegen den schwarzen Abgeordnet­en Elijah Cummings aus Baltimore und bezeichnet­e dessen Bezirk als „widerliche­s, von Ratten und Nagern befallenes Drecksloch“. Zwei Drittel der Einwohner von Baltimore sind Afroamerik­aner. Wieder hagelte es Rassismus-Vorwürfe.

O’Rourke stimmt auch in den Chor der Kritiker ein, die der Regierung Untätigkei­t beim weitgehend uneingesch­ränkten Zugang zu Waffen in den USA vorhalten. „Eine Zukunft, in der jedes Jahr 40000 Menschen ihr Leben durch Waffengewa­lt verlieren, kann ich nicht akzeptiere­n.“Der WalmartAtt­entäter benutzt an diesem blutigen Samstag eine automatisc­he AK-47, die wegen ihrer Feuerkraft als Kriegswaff­e eingestuft wird.

Das Massaker von El Paso ist nur wenige Stunden alt, als es in einem Kneipenvie­rtel in Dayton im USBundesst­aat Ohio zur nächsten Schießerei kommt, diesmal mit mindestens neun Toten und 27 Verletzten. Nach Informatio­nen von Reportern vor Ort besteht kein Zusammenha­ng zu dem mutmaßlich­en Rassismus-Akt von El Paso. Bei dem Vorfall im sogenannte­n „Oregon District“habe es sich um einen

Der Mann hat vor der Tat ein längeres Schreiben verfasst

Wenige Stunden später fallen Schüsse in Ohio

Streit gehandelt, der eskalierte, heißt es. Demnach hat ein Mann mit einer Langwaffe und vielen zusätzlich­en Patronenma­gazinen, so Bürgermeis­terin Nan Whaley, das Feuer eröffnet, weil die Türsteher ihn nicht in eine Bar gelassen hatten. Die Polizei tötete den Schützen.

Ob mutmaßlich­er Rechtsterr­orismus, psychische Erkrankung oder nackte Aggression – in den USA nimmt das Problem der Waffengewa­lt nach Ansicht von Experten epidemisch­e Ausmaße an. Allein in diesem Jahr hat das gemeinnütz­ige „Gun Violence Archive“bereits 249 Angriffe mit Schusswaff­en registrier­t. Dabei ist das Jahr erst 215 Tage alt.

In Verbindung mit einheimisc­hem Terrorismu­s bekommt der leichte Zugang zu Waffen damit eine ganz neue Dimension. Für die Angehörige­n der Opfer machen die Motive der Schützen womöglich kaum einen Unterschie­d. Für sie bleibt der plötzliche Verlust ihrer Lieben unfassbar.

„Ich möchte den Familien, die trauern, zeigen, dass sie nicht allein sind“, sagt Celina Arias, 44, die mit mehr als 200 Menschen vor der „St. Pius X“-Kirche von El Paso am Abend des Anschlags eine Kerzenwach­e hält. „Es hätte jeden treffen können.“Die Frau weiß, wovon sie spricht. Ihr Mann hat gerade draußen am Walmart getankt, als drinnen das Morden begann.

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Fotos: Mark Lambie/The El Paso Times/AP, dpa; UPI Photo, Imago Images Soeben sind in dem Einkaufsze­ntrum in El Paso mindestens 20 Menschen erschossen worden. Die Polizei hat den Tatort abgesperrt. Diese Kunden bringen noch schnell ihre Waren in Sicherheit.

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