Mindelheimer Zeitung

„Der deutsche Selbsthass tut mir weh“

Interview Die Gründerin einer Moschee, Seyran Ates, spricht über ihren Kampf für Frauenrech­te und einen liberalen Islam. Und sie beklagt, dass Teile des linken Milieus die Gefahren durch Islamisten verharmlos­en. Sie selbst steht unter Polizeisch­utz

- Sie kommen aus einem traditione­llen Interview: Simon Kaminski

„Man muss seine Freiheit erkämpfen“, über dieses Thema haben Sie vor einigen Tagen in Augsburg gesprochen. Dabei ging es um interrelig­iösen Frauendial­og. Warum ist dieser Punkt für Sie so wichtig?

Seyran Ates: Ich bin viel unterwegs. Und spreche über die Sachen, die mir wichtig sind. Ein großes Thema ist Migration, große Themen sind Patriarcha­t und Frauenrech­te. Ich habe gelernt, dass es sehr wichtig ist, an den Orten zu sein, an denen darüber zu speziellen Anlässen auf eine spezielle Art gesprochen wird. Deswegen bin ich gerne hier in Augsburg. Aber nicht nur deswegen.

Warum denn noch?

Ates: Auch weil es die Geburtssta­dt von Bertolt Brecht ist, einem meiner Lieblingsd­ichter und -denker. Ich liebe seine Sätze wie „Wer A sagt, muss nicht B sagen“oder „Wenn Recht Unrecht wird, dann wird Widerstand zur Pflicht“. Das sind Sätze, die mich in meiner Jugend begleitet haben.

Brecht wurde ja viele Jahre lang nicht sehr geschätzt in Augsburg.

Ates: Ja. Das ist unglaublic­h. Gerade solche Biografien haben mich beeinfluss­t. Weil ich akzeptiere, dass man in seinem Leben seiner Zeit oder der Politik voraus sein kann. So geht es mir manchmal auch. Brecht wurde für seine Denkansätz­e ignoriert und angefeinde­t. Jetzt gibt es das BrechtHaus und er wird anlässlich der Brecht-Tage gefeiert. Für mich war Deutschlan­d immer ein Land der Dichter und Denker. Augsburg ist der Ort des Religionsf­riedens von 1555 und heute der Friedensge­spräche und des Friedensfe­stes. Also einer der wichtigen Orte für religiösen Dialog und religionsk­ritische Auseinande­rsetzungen.

Das ist ja auch ein zentrales Thema in Ihrem Leben. Es ist heute zwei Jahre her, seitdem Sie in Berlin Ihr Moschee-Projekt gestartet haben. Dort wird ein liberaler Islam gelehrt.

Ates: Dieses zentrale Thema ist der Grund, warum ich mit der „IbnRushd-Goethe-Moschee“in eine Kirche eingezogen bin. Ich bin Initiatori­n und habe auch den Raum gefunden. Das heißt, ich habe ganz bewusst diese Entscheidu­ng getroffen.

Wie hat sich das Projekt entwickelt? Ates: Ein großer Erfolg. Wir suchen größere Räume. Elternhaus, haben sich der repressive­n Erziehung aber mit 17 Jahren durch Flucht aus diesen Familienve­rhältnisse­n entzogen. Woher nahmen Sie diese Kraft und diesen Mut?

Ates: Genau, ich bin mit 17 Jahren von zu Hause abgehauen. Der Vater war ein assimilier­ter Kurde, die Mutter Türkin. Ich wurde recht früh politisier­t.

Aber kaum durch die Eltern, oder? Ates: Im Gegenteil. Ich habe das Leid und die Unterdrück­ung aufgrund meines Geschlecht­s hautnah erlebt. Ich hatte meiner Mama im Haushalt zu helfen. Ich war ein Kind, das geschlagen wurde, weil ich ein Buch gelesen habe. Es hieß, vom Lesen wird die Wohnung nicht sauber.

Also hat sie mir eine verpasst, ich musste aufstehen und den Haushalt machen. Das waren Situatione­n, die mich sehr geprägt haben. Ich habe damals den Film „Roots“über die Sklaverei in Amerika gesehen und mich darin wiedergefu­nden.

Welche Rolle spielte die Schule?

Ates: Eine große Rolle, weil ich dort die frei denkende, neugierige und wissbegier­ige Seyran sein durfte. Der evangelisc­he Religionsu­nterricht, in dem es hieß „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“hat mir Kraft gegeben. Mit 15 wurde ich Schulsprec­herin. Und da war ja noch die Hoffnung, dass es besser wird. Ich wusste, dass man in Deutschlan­d mit 18 Jahren sein eigenes Leben leben darf.

Sie streiten seit vielen Jahren gegen die Benachteil­igung von Mädchen und Frauen. Das ist ja nun nicht nur ein muslimisch­es Problem. Wächst das Bewusstsei­n für dieses Problem in Deutschlan­d?

Ates: Sehr marginal. Traurigerw­eise.

Zuletzt gab es doch einige Beispiele von Frauen, die in hohe politische Ämter

Seyran Ates ist 56 Jahre alt. Sie wurde 1963 in Istanbul geboren und wuchs mit drei Brüdern und einer Schwester in einem islamisch-orthodoxen Elternhaus auf. Seit 1969 lebt die sunnitisch­e Muslimin in Berlin, dort begann sie nach ihrem Abitur ein Jurastudiu­m. Die politische Aktivistin und Autorin arbeitete parallel zu ihrem Studium in einer Beratungss­telle für türkische Frauen. gelangt sind. Sehen Sie hier keine Ansätze für einen Trend?

Ates: Gut, wir haben eine Kanzlerin Merkel, wir haben eine EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen, wir haben mit Kramp-Karrenbaue­r eine Verteidigu­ngsministe­rin. Aber ich erlebe diese Frauen nicht als Feministin­nen.

Ist es nicht auch schon eine Form von Feminismus, wenn man das als Frau einfach macht?

Ates: Das Machen ist teilweise schon eine Form davon. Es wird ins Patriarcha­t eingegriff­en. Aber das ist am Ende nur die halbe Wahrheit. Denn die drei Politikeri­nnen füllen ihre Machtposit­ion aus, indem sie das Patriarcha­t weiterführ­en. Ich hatte mit allen von ihnen schon sehr gute Gespräche. Aber ich sehe nicht, dass sie für die Dinge, für die ich mich einsetze, ein offenes Ohr haben. Den politische­n Islam und die Gefahren durch die Aktivitäte­n der Muslimbrüd­er und anderer Kräfte verharmlos­en sie oder sehen sie gar nicht. So ist jedenfalls mein Eindruck.

Sie mischen seit Jahren im Streit um das Tragen von Kopftücher­n in der Öffentlich­keit mit. Allerdings sagen Sie, dass es sich dabei für Sie nicht um ein religiöses Symbol handelt.

Ates: Der Islam kennt gar keine religiösen Symbole. Theologisc­h betrachtet ist die Diskussion schon deshalb schräg. Das Kopftuch ist eine Kleidungsv­orschrift aufgrund einer sehr orthodoxen Sitte und Moralvorst­ellung. Nämlich, dass Frauen allein schon durch ihren Körper, durch ihre Haare in der Öffentlich­keit in erster Linie als sexuelle Wesen wirken. Damit sind Frauen und Mädchen zu Sexualobje­kten degradiert. Diese Degradieru­ng hat sich heute schon so weit fortentwic­kelt, dass bereits kleine Mädchen hauptsächl­ich als sexuelle Wesen gesehen werden. Also müssen auch sie be

Dort wurde sie bei einem Attentat 1984 durch einen Schuss lebensgefä­hrlich verletzt – eine Frau, die zur Beratung im Büro war, wurde von dem türkischst­ämmigen Angreifer erschossen. Ab 1997 arbeitete Ates als Rechtsanwä­ltin – Spezialgeb­iete Familien- und Strafrecht. Doch nach wiederholt­en Morddrohun­gen zog sie sich von dieser Tätigkeit von 2006 bis 2012 zurück. deckt werden, damit Männer in der Öffentlich­keit nicht durch sie gereizt werden.

Bei diesem Thema rasseln Sie immer wieder mit Feministin­nen, mit Politikern der Grünen oder der Linken zusammen. Sehen Sie in deren Position falsch verstanden­e Toleranz?

Ates: Was ich gewissen Feministin­nen oder Linken vorwerfe, ist, dass sie die Sexualisie­rung in der Werbung oder in Filmen scharf kritisiere­n, aber wenn es um das Kopftuch geht, vor einer Einschränk­ung der Religionsf­reiheit warnen.

Akzeptiere­n wir bei Flüchtling­en Dinge, die in Deutschlan­d eigentlich schon lange verpönt sind?

Ates: Ja, und zwar nicht nur, wenn es um Kopftücher geht. Gerade jetzt mit den Geflüchtet­en kommen die Themen Kinderehe, Zwangsehe und Religiosit­ät verstärkt wieder auf. Wenn es um Kinder geht, die im Alter von 14 oder 15 Jahren verheirate­t werden, gibt es Leute, die die Altersgren­zen herunterse­tzen wollen, damit man diese Ehen aufrechter­halten kann.

Woran liegt das? Gibt es tatsächlic­h bei Linken oder Grünen den Reflex, dass alle, die aus dem Ausland zu uns kommen, erst einmal sympathisc­her sind? Ates: Absolut. Dieser Selbsthass tut mir wirklich weh – als türkisch-kurdische Deutsche. Die 68er haben sich aufgelehnt gegen die Generation ihrer Eltern, gegen Politiker, Juristen, gegen Entscheidu­ngsträger aus der Nazizeit, die nach dem Krieg immer noch da waren. Es ging ihnen um Demokratie und eine offene Zivilgesel­lschaft. Das war ein wunderbare­r Ansatz. Doch ausgerechn­et diese Leute haben plötzlich Verständni­s für Islamisten und stellen Leute wie mich in eine rechte Ecke. So spaltet man.

Wie wollen Sie den gesellscha­ftlichen Wandel des Islam erreichen?

Ates: Wir machen es ein bisschen wie die 68er. Wir fordern unsere Eltern heraus. Wir wollen einen liberalen

Im Juni 2017 gründet sie die liberal ausgericht­ete Ibn-Rushd-GoetheMosc­hee in Berlin. Dort ist sie auch als Imamin tätig. Die Autorin verschiede­ner Bücher über Frauenrech­te, Religion und Migrations­politik erhielt viele Auszeichnu­ngen, unter anderem das Bundesverd­ienstkreuz erster Klasse im Jahr 2014. Ates ist Mutter einer Tochter. (AZ) Islam. Wir wollen über das Schicksal der Armenier oder die Unterdrück­ung der Kurden sprechen.

Als Vertreteri­n eines liberalen Islams werden sie doch von vielen Muslimen gehasst?

Ates: Es gibt muslimisch­e Migranten und Organisati­onen, wie die Muslimbrüd­er, die in manchen Belangen sogar rechts von der AfD stehen. Dafür sind Teile aus dem linken Milieu blind. Im Übrigen sehe ich die Ursache dafür, dass es die AfD gibt, darin, dass die etablierte­n Parteien Themen wie die Migration lange verpennt haben. Wir brauchen keine Opferdisku­rse und wir brauchen keinen Deutschenh­ass. Wir brauchen keine selbst ernannten Ausländerf­reunde, die ganz entsetzt sind, wenn man sagt, dass viele Menschen auch wegen der deutschen Kultur zu uns wollen. Ich kann nicht mehr hören, dass die islamische Identität von einigen gefeiert wird, die aber gleichzeit­ig die deutschen Identitäre­n – natürlich zu Recht – verachten. Dabei bemerken sie nicht, wie ähnlich, auch was das Frauenbild betrifft, beide Gruppen sich sind.

Skeptiker sehen den politisch-religiösen Extremismu­s auf dem Vormarsch. Befällt Sie nicht manchmal ein Gefühl der Hoffnungsl­osigkeit?

Ates: Überhaupt nicht. Die Zahl derer, die sich gegen den politische­n Islam wenden, steigt weltweit. Im Iran und auch in der Türkei findet unter der Oberfläche beispielsw­eise längst eine sexuelle Revolution statt. Die Leute sehnen sich nach Freiheit. Auch in Katar, Saudi-Arabien oder in Nordafrika.

Sie wurden im Jahr 1984 angeschoss­en, werden immer wieder angefeinde­t und bedroht. Sie stehen unter DauerPoliz­eischutz. Dennoch wirken Sie bei Auftritten unbefangen. Wie machen Sie das?

Ates: Sechs Jahre war mein Arm gelähmt, die Kugel steckte im Halswirbel. Es hat lange gedauert, bis ich wieder in die Öffentlich­keit konnte. Ich habe viele Male probiert, mich zurückzuzi­ehen. Doch ich habe jedes Mal gemerkt: Der Mensch hat sein Leben und seine Aufgabe. Und mir sind meine Themen immer wieder vor die Füße oder auf die Nase gefallen. Ich konnte nicht den Mund halten. Wenn es aber diesen permanente­n Schutz durch Sicherheit­sbeamte nicht gäbe, würde ich irgendwo Ziegen hüten und Käse verkaufen oder eine andere Arbeit machen.

„Ich wurde geschlagen, weil ich ein Buch gelesen habe.“

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Foto: Silvio Wyszengrad Syeran Ates auf der Augsburger Maximilian­straße. Die streitbare Publizisti­n hält die Stadt des Religionsf­riedens von 1555 für den richtigen Ort, um über Religionen zu sprechen.

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