Mindelheimer Zeitung

Können wir vernünftig werden?

Serie Beim Augsburger Friedensfe­st stehen die Fragen der Freiheit im Fokus. Das passt. Denn die Krisen unserer Zeit scheinen den Bürger vor neue Pflichten zu stellen – wo der Konsument doch im Zeitalter der Neigungen lebt

- VON WOLFGANG SCHÜTZ WELT IM UMBRUCH

In Zeiten so großer Umwälzunge­n und zukunftswe­isender Richtungse­ntscheidun­gen könnte Vernunft doch ganz hilfreich sein. Wäre diese Vernunft nur nicht selbst im Laufe des vergangene­n Jahrhunder­ts in Verruf geraten. Denn wer heute von Rationalit­ät spricht, denkt meist nur noch an Kalkulatio­n von Aufwand und Ertrag beim Erreichen eines Zieles. Dass die Geisteslei­stung des Menschen so einen Beitrag selbst zu unmenschli­chster Politik leisten kann, haben nicht zuletzt die Deutschen in ihrer dunkelsten Vergangenh­eit gezeigt. Und in der wirtschaft­lich geprägten Gegenwart ist die Rationalit­ät oft nur noch zu einem Mussinstru­ment des Verhältnis­ses von Kosten und Nutzen verkommen – aber eben das beherrsche­n nicht von ungefähr die Maschinen längst schneller und effektiver. So jedenfalls kann und darf die Vernunft auf dem Weg in die Zukunft keine Maßstäbe setzen.

Aber wie dann? Gibt es denn noch eine andere? Aufklärung tut not. Und zwar im ursprüngli­chsten Sinn. Denn bei den Aufklärern hat die Vernunft eine entscheide­nde Rolle in Fragen des Menschsein­s gespielt. Und dabei Klärung auch in Begriffe gebracht, die in den Konflikten von heute von elementare­r Bedeutung sind. Etwa im Verhältnis zwischen moralische­r Verantwort­ung und persönlich­em Interesse. Denn es sind die Grundfrage­n der Freiheit, die im Zeitalter von Digitalisi­erung und Klimawande­l aufs Neue und darum auch aktuell beim Augsburger Friedensfe­st mit seinem „Freiheits“-Motto im Zentrum stehen.

Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? So lauteten sie beim Königsberg­er Philosophe­n Immanuel Kant (1724–1804). Und schließlic­h: Was ist der Mensch? Seine Antworten können noch heute einen Weg bahnen – gerade auch zu einem wieder wesentlich­en Verständni­s der Vernunft.

Der Mensch ist ein Sinnenwese­n, und als solches wird er ständig von Reizen affiziert. Was das heißt, erleben wir immer schon als Konsument, aber im Zeitalter der perfektion­ierten, psychologi­sierten Marktmecha­nismen in einer Ausprägung wie nie zuvor. Das Zeitalter des Individual­ismus ist das Zeitalter, in dem sich der Mensch über die gekauften Produkte identifizi­ert. Wir haben die freie Auswahl auf freien Märkten. Und dass das nicht zum Kollaps führt, dafür sorgen die Meeben jener Märkte, weil sie einerseits für Konkurrenz bei den Verkäufern führen und sich damit regulieren und weil sie anderersei­ts den solventen Käufer brauchen und darum die Menschen an den Umsätzen beteiligen müssen. Das jedenfalls lehrte Adam Smith (1723– 1790) und nannte dies eine Lenkung durch die „unsichtbar­e Hand“.

Nur hat dieses Modell zwei Haken. Der konkrete und aktuelle: Auf den neuen Märkten geht es zunehmend irrational zu, sodass beide Funktionen nicht mehr erfüllt werden – es bilden sich Monopole und die Währung der Daten durchbrich­t die Rückkopplu­ng der Gewinne. Das generelle Problem aber: Die vermeintli­ch im Konsum herrschend­e Freiheit ist gar keine. Es ist vielmehr ein blind voranstürz­endes Reiz-Reaktionss­ystem.

Und das beginnt schon beim Menschen selbst. Nach Kant nämlich zeigt sich im Konsumente­n nur das affizierte Wesen, das aus persönlich­en Neigungen entscheide­t. Frei und nur damit selbst Ursprung seitragen, nes Handelns aber ist der Mensch abseits dieser individuel­len Interessen. Und dazu befähigt ihn die Vernunft. Denn die Vernunft im aufkläreri­schen Sinne ermöglicht uns den Blick auf die größeren Zusammenhä­nge, die Verantwort­ung, die Moral. Berühmt ist Kants „kategorich­anismen scher Imperativ“, der in der Grundform lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeine­s Gesetz werde.“Das heißt also: Freiheit ist das Gegenteil von Willkür – Pflicht statt Neigung. Aber diese Vernunft besitzt der Mensch nicht einfach, sondern er ist lediglich zu ihr befähigt. Darum lautet ein weiterer berühmter Satz: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschulde­ten Unmündigke­it.“Aber dabei weiß Kant sehr wohl, dass der Mensch nie vollständi­g vernünftig handeln kann, weil er ja immer auch Sinnenwese­n bleiben wird.

Aber was kann das nun für heute heißen? Zum einen: Wir werden als Konsumente­n immer unfrei bleiben und die moralische Verantwort­ung, die wir im Einkauf und im Internet nie ganz zu schultern in der Lage sein. Die entscheide­nde Frage ist vielmehr: Finden wir auf einer anderen Ebene den Hebel, die Vernunft in Kraft zu setzen? Gegenüber Märkten, die die Gesellscha­ften zersetzen, gegenüber einer Warenwelt, die die Umwelt ausplünder­t – gegenüber vermeintli­chen Freiheiten also, die sich gegen die eigentlich­e Freiheit zu wenden beginnt? Auf welcher Ebene kann der Mensch sich für Maximen entscheide­n und sie zugleich als allgemeine­s Gesetz bejahen?

Diese Vernunft ist Sache des Bürgers, des Wählers, muss Sache der Politik sein. Und darum gibt es zwei Zeit-Erscheinun­gen, die gerade in diesem eigentlich­en Sinn der Vernunft schaden. Es ist eine politische Landschaft, die sich selbst nur nach dem Funktionie­ren ausrichtet, die den Wettkampf zwischen Maximen und Haltungen scheut, vor Moral zurückschr­eckt. Sie mutet dem Bürger

Wenn auch Politik den Gesetzen des Konsums folgt

die Freiheit nicht zu und nimmt sie sich dadurch selbst. Und es ist in der Gegenricht­ung der Mensch, der im Zeitalter des Individual­ismus auch von der Politik nur das passende Angebot auf seine eigenen Neigungen und Interessen fordert. Der als Konsument auf Staat und Gesellscha­ft blickt und nicht als Bürger. Er entzieht sich selbst der moralische­n Frage und fordert von den Regierende­n keine Freiheit zur Verantwort­ung. Es ist die beidseitig­e Gefahr der Unmündigke­it.

Doch zur Erlangung dieser Mündigkeit gehört in der multimedia­l durchdrung­enen Gesellscha­ft eben auch die verantwort­ungsbewuss­te Vermittlun­g. Wenn Kants erste, für alles weitere essenziell­e Frage lautet: Was kann ich wissen? Dann ist das allzu oft aber nicht mehr das Prinzip, nach dem Nachrichte­n ausgewählt und aufgenomme­n werden. Auch hier hat sich in Zeiten des Internets stärker als je zuvor das ReizReakti­on-Schema durchgeset­zt. Es geht um Vorlieben, Neigungen, Konsum. Um Aufwand und Ertrag, um Kosten und Nutzen in ihrer umfassende­n Messbarkei­t. Aufklärung ist etwas anderes. Und dabei wäre sie in Zeiten so großer Umwälzunge­n und zukunftswe­isender Richtungse­ntscheidun­gen von besonderer Bedeutung. Denn wir sind nur zur Vernunft befähigt – vernünftig sind wir dadurch noch lange nicht.

 ?? Illustrati­on: Smetek, Science Photo Library, akg ?? Kant in Pop: Taugt der Aufklärer auch noch fürs 21. Jahrhunder­t?
Illustrati­on: Smetek, Science Photo Library, akg Kant in Pop: Taugt der Aufklärer auch noch fürs 21. Jahrhunder­t?
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany