Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (28)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale.
Wie geht es denn,“fragte Claude Frollo weiter, „mit Eurem königlichen Kranken?“
„Wenn er nur seinen Arzt besser bezahlte,“erwiederte der Doktor mit einem Seitenblick auf seinen Gefährten.
„Meint Ihr, Gevatter?“sagte dieser.
Dies war das erste Wort, das der Unbekannte hören ließ.
„Don Claude,“sprach der Leibarzt, „ich habe Euch einen Collegen gebracht, den Euer wissenschaftlicher Ruf begierig machte, Euch zu sehen.“
„Der Herr ist ein Gelehrter?“fragte der Archidiakonus und warf einen durchdringenden Blick auf ihn. Er begegnete unter den Augbraunen des Unbekannten einem nicht minder stechenden Auge, als das seinige war. So weit sich beim düsteren Scheine der Lampe erkennen ließ, war der Fremde etwa 60 Jahre alt, von mittlerer Größe und kränklichem, leidendem Aussehen. Der Unbekannte nahm nun selbst
das Wort und sagte in ernstem Tone zu dem Archidiakonus: „Ehrwürdiger Meister, Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen und ich bin gekommen, Euch um Rath zu fragen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der nicht werth ist, die Schuhriemen der Gelehrten aufzulösen. Ich heiße Gevatter Tourangeau.“
Sonderbarer Name für einen Edelmann! dachte der Priester. Inzwischen fühlte er, daß ihm ein Wesen von ernstem und kräftigem Gepräge gegenüberstehe. Der Instinkt seiner hohen Einsicht ließ ihn errathen, daß unter der Pelzmütze, die der Gevatter Tourangeau trug, ein nicht minder fähiger Kopf stecke. Das spöttische Lächeln, das die Gegenwart des Doktors Jacques Coictier bei ihm erweckt hatte, verschwand allmählig von seinen Lippen.
Ernst und schweigend, die Stirne in der flachen Hand, setzte er sich in seinen großen Lehnstuhl. Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens gab er den beiden Gästen ein Zeichen, sich zu setzen.
„Ihr kommt, mich um Rath zu fragen, Meister,“sagte er zu dem Unbekannten, „und worüber?“
„Ehrwürdiger,“erwiederte der Gevatter Tourangeau, „ich bin krank, sehr krank. Man hält Euch für einen großen Aesculap, und ich möchte ein medizinisches Gutachten von Euch haben.“
„Arzneikunde!“sagte der Archidiakonus und zuckte die Achseln. „Gevatter Tourangeau, drehet Euern Kopf, und Ihr werdet meine Antwort dort auf die Mauer geschrieben finden.“
Der Gevatter Tourangeau wendete das Haupt seitwärts und las folgende in die Mauer gegrabene Inschrift: Die Arzneiwissenschaft ist die Tochter der Träume.
Der Leibarzt hatte schon die Frage seines Begleiters mit Verdruß vernommen; diese Antwort des Archidiakonus mußte seinen Aerger noch erhöhen. Er neigte sich zum Ohre des Gevatters Tourangeau und flüsterte ihm leise zu: „Ich hatte Euch ja vorhergesagt, daß er ein Narr sei.“
„Dieser Narr könnte sehr leicht Recht haben, Doktor Jakob,“erwiederte der Gevatter Tourangeau mit einem bitteren Lächeln.
„Wie es Euch gefällig ist,“versetzte der Leibarzt trocken.
Hierauf wendete er sich an den Archidiakonus mit den Worten: „Ihr habt ja gleich ausgefegt, Don Claude Frollo, und seid mit Hippokrates eben so bald fertig, als ein Affe mit einer Haselnuß. Die Arzneiwissenschaft ein Traum! Wißt Ihr, daß Euch die Apotheker steinigen werden, wenn sie das erfahren. Ihr läugnet also den Einfluß der Tränke auf das Blut, und des Balsams auf das Fleisch! Ihr läugnet jene ewige Pharmacie der Blumen und der Metalle, welche man die Welt nennt, ausdrücklich geschaffen für jenen ewigen Kranken, der Mensch heißt.“
„Ich läugne,“erwiederte kalt der Archidiakonus, „weder die Pharmacie noch die Kranken, sondern den Arzt.“
„Es ist also nicht wahr,“fuhr der Doktor heftig fort, „daß die Gicht eine innerliche Flechte ist, daß man eine Schußwunde durch Auflegung einer gebratenen Maus heilt, daß ein in alte Adern eingegossenes junges Blut den Körper verjüngt? es ist nicht wahr, daß zweimal zwei vier macht, und daß der Emprostathonos auf den Opistathonos folgt?“
„Es gibt gewisse Dinge, über die ich nach meiner Weise denke,“antwortete trocken der Priester.
Der Leibarzt wurde roth und blaß vor Zorn.
„Ruhig, Doktor Jakob, der Archidiakonus ist unser Freund,“sagte der Gevatter Tourangeau.
„Ein Narr ist er!“murmelte der Arzt zwischen den Zähnen.
„Ihr seid mir da gewaltig in die Quere gekommen, Meister Claude,“fuhr der Gevatter Tourangeau fort. „Ich hatte zwei Konsultationen an Euch zu stellen: die eine meine Gesundheit, die andere meine Constellation betreffend.“
„Lieber Herr,“versetzte der Priester, „wenn das Eure Absicht war, so hättet Ihr Euch die Mühe ersparen können, meine Schneckentreppe heraufzusteigen. Ich glaube weder an Arzneiwissenschaft, noch an die Astrologie.“
„Wirklich!“rief der Gevatter Tourangeau verwundert aus.
Der Leibarzt zwang sich zu einem gewaltsamen Lachen.
„Jetzt werdet Ihr einsehen,“sagte er leise zu seinem Begleiter, „daß er ein Narr ist, er glaubt nicht an Astrologie!“
„Wie kann man sich nur einbilden,“fuhr Claude Frollo fort, „daß jeder Strahl eines Sterns ein Faden sei, der sich an das Haupt eines Menschen knüpft?“
„Und woran glaubt Ihr denn?“rief der Gevatter Tourangeau aus.
Der Priester blieb einen Augenblick unschlüssig, dann sprach er mit einem düstern Lächeln: „Credo in Deum.“
„Dominum nostrum,“fügte der Gevatter Tourangeau hinzu, indem er das Zeichen des Kreuzes machte. „Amen!“sagte der Arzt. „Ehrwürdiger Meister,“fuhr der Gevatter fort, „es freut mich von Herzen, Euch so gläubigen Gemüths zu finden; aber seid Ihr denn bis zu diesem Punkte der Gelehrsamkeit gelangt, daß Ihr nicht mehr an die Wissenschaft glaubt?“
„Nein,“erwiederte der Priester, und ein Strahl der Begeisterung glänzte in seinem Auge, „nein, ich läugne die Wissenschaft nicht. Ich bin nicht durch die zahllosen Verzweiflungen der dunkeln Höhle des Wissens gegangen, ohne in weiter Ferne ein Licht, eine Flamme, den Wiederschein der leuchtenden Werkstätte zu erblicken, wo die nie rastende Weisheit Gott in seinem Mittelpunkt aufgefunden hat.“
„Welche Wissenschaft aber,“fragte der Gevatter Tourangeau, „haltet Ihr für wahr und sicher?“„Die Alchymie.“
„Die Alchymie,“schrie der Leibarzt, „hat allerdings ihren guten Grund, aber warum verleumdet Ihr die Medicin und die Astrologie?“
„Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Menschen! Ein Nichts, Eure Wissenschaft des Himmels!“sprach der Priester mit gebietendem Wesen.