Erst studieren und dann in der Pflege arbeiten
Wissenschaft An der Hochschule Kempten soll das ab dem nächsten Jahr möglich sein. Experten versprechen sich davon viele Vorteile
Kempten Im Allgäu fehlen – wie überall in Bayern – zahlreiche Pflegekräfte. Auch deswegen gibt es nun das Bestreben, Pflegeberufe zu akademisieren. Will heißen: Statt einer klassischen Ausbildung soll auch ein Studium möglich sein. Unter anderem in Kempten wird derzeit ein solcher Pflege-Studiengang konzipiert. Im Wintersemester 2020/21 soll nach Wunsch des bayerischen Wissenschaftsministers Bernd Sibler (CSU) der erste Jahrgang an den Start gehen. Die Verantwortlichen an der Hochschule sind sich nicht sicher, ob dieser Zeitplan einzuhalten ist.
Muss es denn heute immer ein Studium sein? Diese Frage wird nicht selten gestellt. „Darum geht es gar nicht“, sagt Professorin Veronika Schraut, Pflegewissenschaftlerin an der Hochschule Kempten und selbst examinierte Altenpflegerin. „Die Gesellschaft und die Krankheitsbilder verändern sich, viele Patienten haben gleich mehrere Leiden“, sagt Schraut. Zudem werden Pflegeberufe immer komplexer, auch die technischen und bürokratischen Anforderungen steigen. „Wir brauchen gut ausgebildete Pflegekräfte, die auch kritische Fälle behandeln und den Umgang damit eigenverantwortlich entscheiden können“, sagt Schraut.
Genau das unterscheide den neuen Studiengang auch von bisherigen Hochschul-Ausbildungen im Gesundheitsbereich: Es gehe nicht um Management oder Pädagogik. Die praktische Ausbildung spielt neben der theoretischen und damit wissenschaftlichen Komponente eine zentrale Rolle. Neben der Arbeit am Patienten könnten sich die künftigen akademischen Kräfte unter anderem auch um die Entwicklung von Pflegekonzepten und die Anleitung von Hilfskräften sowie Angehörigen kümmern. Hilfs- und Betreuungskräfte mit geringer Ausbildung, ist sich Veronika Schraut sicher, werde es künftig noch mehr als bisher geben. Allein schon, um die immer größer werdende Zahl an Patienten versorgen zu können. „Diese Menschen machen ihre Arbeit meist sehr gut, brauchen aber eine entsprechende Anleitung mit fachlipassende chem Hintergrund“, sagt Veronika Schraut.
Bislang haben in Deutschland weniger als ein Prozent der Pflegekräfte einen Studienabschluss. Der deutsche Wissenschaftsrat empfiehlt im Gesundheitsbereich laut Schraut aber eine Akademisierung von zehn bis 20 Prozent. „Auf diese Weise sollen zusätzliche junge Menschen für die bedeutende Pflegearbeit gewonnen werden, zumal es dadurch ja auch weitere Entwicklungsperspektiven geben wird.“
„Die klassische Ausbildung bleibt aber weiterhin enorm wichtig und sollte nicht in den Hintergrund rücken“, sagt Yvonne Spöcker, Sprecherin der „Arbeitsgemeinschaft der Pflegeeinrichtungen in Kempten und Umgebung“. Die Einführung des Studiengangs hält sie dennoch für sehr sinnvoll. „Die Pflege befindet sich im Wandel, da wird noch viel passieren“, erläutert sie. Es brauche einen Personalmix und der Studiengang könne helfen, die Pflege weiterzubringen. Auch könne er dazu beitragen, das Image dieser Berufe aufzubessern.
Ein Jahr hat die Hochschule nun Zeit, den Studiengang zu konzipieren. „Das ist sportlich“, sagt Präsident Professor Wolfgang Hauke. Dass Kempten den Zuschlag bekommen hat, haben die Beteiligten aus einer Pressemitteilung des bayerischen Wissenschaftsministeriums erfahren. „Wir freuen uns und hoffen, dass möglichst bald die Zuweisung von Stellen und finanziellen Mitteln erfolgt“, sagt Hauke.
Ob der Pflegestudiengang wirklich schon im Wintersemester 2020/21 startet, da ist man sich bei der Fakultät für Soziales und Gesundheit noch nicht ganz sicher. „Ich weiß nicht, ob das so schnell geht. Die Entwicklung ist eine große Aufgabe und die Qualität hat Vorrang“, sagt Veronika Schraut. Es gelte, Kooperationen mit Pflegeschulen, Kliniken und anderen Pflegeeinrichtungen im ganzen Allgäu zu schließen. Zudem müsse man Räume für praktische Übungen finden. Unklar sei auch noch, welche Qualifikationen für das Lehrpersonal nötig sind, um Praxisanleitungen zu geben.
Derzeit werde auch überlegt, bestehende Hochschul-Standorte wie Memmingen zu integrieren. Eine solche Einbindung wünscht sich auch der Memminger CSU-Landtagsabgeordnete Klaus Holetschek, Mitglied im Ausschuss für Gesundheit und Pflege. Er freut sich, dass Kempten den Zuschlag für den neuen Studiengang bekommen hat: „Das allein löst das Problem in der Pflege zwar nicht, ist aber ein wichtiger Beitrag.“Demnächst treffen sich die Verantwortlichen der Hochschule, um den zeitlichen Rahmen und die nächsten konkreten Schritte zu besprechen.
„Die Gesellschaft und die Krankheitsbilder verändern sich.“Professorin Veronika Schraut