Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (31)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
So war, in den ersten sechstausend Jahren der Welt, seit der entferntesten Pagode Hindostans bis zur Kathedralkirche von Köln, die Architektur die große Schrift des menschlichen Geschlechts. Dies ist so wahr, daß nicht bloß jedes religiöse Symbol, sondern auch jeder menschliche Gedanke in diesem unermeßlichen Buche sein Blatt und sein Denkmal hat.
Jede Civilisation beginnt mit der Theokratie und endigt mit der Demokratie. Dieses Gesetz der Freiheit, das auf die Einheit folgt, ist in der Architektur verzeichnet. Die Baukunst vermag mehr, als bloß Tempel zu bauen, die priesterliche Mythe und Symbolik auszudrücken, die geheimnißvollen Gesetzestafeln ihren steinernen Blättern in Hieroglyphen einzuverleiben. In jeder menschlichen Gesellschaft tritt ein Augenblick ein, wo das geheiligte Symbol sich abnützt und durch den freien Gedanken verwischt wird, wo der Mensch sich der Macht des Priesters entzieht,
wo die wuchernde Philosophie an der Religion nagt; in diesem Augenblicke könnte sich dann die Architektur nicht mehr dem neuen Zustande des menschlichen Geistes weihen, ihre Blätter blieben leer, ihr Werk wäre mangelhaft, ihr Buch unvollständig. Dem ist aber nicht so.
Das Mittelalter, in welchem wir klarer sehen, weil es uns näher liegt, mag uns zum Beispiel dienen. Während seiner ersten Periode, als die Theokratie ein neues Europa schuf, als der Vatikan über den Trümmern des heidnischen Roms die Elemente eines christlichen Roms um sich her sammelte, als das Christenthum aus den Trümmern der untergegangenen Civilisation eine neue hierarchische Welt aufbaute, deren Schlußstein das Priesterthum war, erstand auf den Ruinen der griechischen und römischen Baukunst jene geheimnißvolle römische Architektur, Schwester der theokatischen Gebäude Aegyptens und Indiens, unvertilgbares Emblem des reinen Katholicismus, unverwischbare Hieroglyphe der päbstlichen Einheit. Der Hauptgedanke jener Zeit ist in dem düstern römischen Styl verzeichnet. Man fühlt darin überall die unbegrenzte Gewalt, die Einheit, das Unergründliche, das Unbedingte, Gregor VII. Ueberall der Priester, nirgends der Mensch, überall die Kaste, nirgends das Volk!
Jetzt kommt die Zeit der Kreuzzüge. Sie ist eine große vollsthümliche Bewegung, und jede Bewegung, die sich über ganze Völker erstreckt, was auch ihre Ursache und ihr Zweck sein mag, entwickelt am letzten Ende den Geist der Freiheit. Ein neuer Zeitpunkt der Geschichte entwickelt sich. Wir treten in die stürmische Periode der Jacquerien und der Liguen ein. Die Macht wird erschüttert, die Einheit zersplittert. Die Feudalität will mit der Theokratie theilen; dann kommt das Volk und eignet sich den Löwenantheil zu. Quia nominor leo. Dem Priesterthum entsprießt das Adelthum, dem Adelthum das Bürgerthum. Europa’s Anblick hat sich geändert, mit ihm der Anblick der Architektur. Zugleich mit der Civilisation hat sie das Blatt gewendet, und der neue Geist der Zeit findet sie bereit, unter seiner Eingebung zu schreiben. Sie hat aus den Kreuzzügen das Bogengewölbe mitgebracht, die Völker, die Freiheit. Während Rom allmählig in sich zerfällt, geht die römische Architektur unter. Die Hieroglyphe verläßt die Kathedralen, um die Burgen des Adels mit prangenden Wappen auszumalen. Die Liebfrauenkirche selbst, dieses ehemals so dogmatische Gebäude, jetzt von der Bürgerschaft, von der Gemeinde, von der Freiheit eingenommen, entgeht der Gewalt des Priesters und fällt dem Künstler anheim. Der Künstler baut sie nach seiner Weise. Um das Mysterium, um die Mythe, um den Glauben ist es jetzt geschehen. Laune und Phantasie richten ihr Reich auf. Dem Priester gehört der Raum der Kirche und der Altar, dem Künstler die vier Mauern. Das Buch der Baukunst gehört nicht mehr dem Priesterthum, der Religion, dem römischen Stuhle an, sondern der Einbildungskraft, der Dichtkunst, dem Volke. Daher die reißenden und unzählbaren Umwandlungen jener nur 300 Jahre alten Architektur, die um so ausfallender sind nach der einer Stockung ähnlichen Unbeweglichkeit der römischen Baukunst, die sechs bis sieben Jahrhunderte zählt. Die Kunst schreitet mit Riesenschritten einher. Volkstümliches Genie und Originalität besorgen den Dienst, den sonst die Bischöfe thaten. Jedes vorübergehende Geschlecht beschreibt ein Blatt des neuen Buches, wischt auf den Giebeln der Kathedralen die alten römischen Hieroglyphen aus, und kaum erblickt man noch unter dem neuen Symbol hie und da die alte Glaubenslehre. Das volksthümliche Gewand läßt kaum errathen, daß hier die Gebeine der Religion begraben liegen. Kaum kann man sich einen Begriff von den Freiheiten machen, welche jetzt die Architekten gegen die Kirche selbst sich erlauben. Hier zügellose Haufen von Mönchen und Nonnen, schmählich zusammengekuppelt. Dort des Allvaters Noah erster Rausch und seine Folgen, weiter ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und das Glas in der Hand, seiner christlichen Gemeinde unter die Nase lachend! In dieser Epoche bestand für den in Stein geschriebenen Buchstaben eine Freiheit, die der jetzigen Freiheit der Presse ganz vergleichbar ist. Es war die Freiheit der Architektur.
Diese Freiheit ging sehr weit. Bisweilen stellte ein Portal, eine Façade, eine ganze Kirche, einen symbolischen Sinn dar, der dem bestehenden Kultus ganz fremd, sogar feind war. Schon im dreizehnten Jahrhundert schrieb Wilhelm von Paris, im fünfzehnten Nicolaus Flamel solche aufrührerische Blätter in Stein. Sanct Jakob am Schlachthause war eine vollständige Oppositionskirche.
Der menschliche Gedanke hatte damals keine andere Freiheit als diese, und sprach sich sonst nirgends aus, als in jenen Büchern, die man Gebäude nannte. Wäre er auf Papier geschrieben gewesen, so würde ihn die Hand des Henkers auf öffentlichem Platze verbrannt haben. Da ihm nur der einzige Weg offen war, sich Luft zu machen, so betrat er ihn von allen Seiten. Daher jene unermeßliche Anzahl von Kathedralen in Europa, so groß, daß man es kaum glauben kann, selbst wenn man sie gezählt hat. Alle materiellen, alle intellektuellen Kräfte der Staatsgesellschaft kehrten sich dem nämlichen Punkte zu: der Architektur. Unter dem Vorwande, Gott Kirchen zu bauen, entwickelte sich die Kunst in erstaunlicher Weise.
Wer damals mit einem poetischen Geiste geboren war, wurde Architekt; das in den Massen zerstreute, auf allen Seiten von der Feudalität, wie von einer Testudo eherner Schilde, unterdrückte Genie entwickelte sich, da es keinen anderen Ausgang fand, in der Baukunst, und seine Iliaden nahmen die Form von Kathedralen an. Alle anderen Künste gehorchten und dienten der Baukunst. »32. Fortsetzung folgt