Mindelheimer Zeitung

Tod einer Tramperin

Prozess An einem Sommeraben­d 2018 steigt Sophia Lösche in den Lkw eines Marokkaner­s. Sie kommt nie zu Hause an. Das Verbrechen wird von rechts instrument­alisiert, Angehörige erhalten wüste Drohungen. Und da ist die Frage: Hätte die Polizei früher reagiere

- VON FABIAN HUBER

Bayreuth Sperbes-West, Fränkische Schweiz. Ein Autobahn-Rastplatz, wie es ihn tausendfac­h gibt. Urlauber bei der Brotzeit, rotes Toilettenh­äuschen, metallene Sanitäranl­agen, Sticker an der Wand. Auf dem siebtletzt­en Lkw-Stellplatz klappt ein Mann mit freiem Oberkörper den Beifahrers­itz um, verkriecht sich in seine Schlafkabi­ne und zieht den Vorhang des Fahrerhäus­chens zu.

Dieser Stellplatz an diesem unscheinba­ren Ort ist Teil einer Geschichte, deren Kapitel umso düsterer werden, je tiefer man in sie eintaucht. Sie handelt von Menschen, die bei der Suche nach einer ihrer Liebsten von der Polizei enttäuscht werden. Vom hetzerisch­en Sog der Rechten. Vor allem: von einem schrecklic­hen Verbrechen. Es ist die Geschichte der Tramperin Sophia Lösche und ihrer Reise in den Tod.

Der 14. Juni 2018 ist ein milder Donnerstag­abend. Sophia, eine 28-jährige Germanisti­k-Studentin mit sonnigem Lächeln, hat noch ein Seminar an ihrer Uni in Leipzig, dann will sie in die Heimat nach Amberg fahren. Ihr Vater feiert am nächsten Tag Geburtstag.

Sie stellt sich an die Tankstelle am Autohof Schkeuditz-West, ein bekannter Tramper-Ort. Sophia fuhr von hier oft per Anhalter, vor allem mit Eva K., ihrer besten Freundin. „Es war eine Mischung aus Geld sparen, Leute kennenlern­en und Abenteuerl­ust. Man hat immer eine gute Story erlebt beim Trampen“, erzählt sie unserer Redaktion.

Sophia spricht einige Autofahrer an – vergeblich. Dann kommt Boujemaa L., 42, auf sie zu, genannt Bob, ein Lkw-Fahrer aus Marokko auf dem Weg zurück zum Speditions­sitz in Tanger. Die beiden unterhalte­n sich mit Händen und Füßen, Englisch und ein paar Brocken Arabisch. Anderthalb Stunden vor dem Aufeinande­rtreffen hat L. sein erigiertes Glied fotografie­rt und am Vortag auf einem Parkplatz zwei Frauen vor der Toilette abgelichte­t. Das werden später Handyauswe­rtungen ergeben. Sophia steigt in den blauen 40-Tonner, Modell Renault T460. Um 18.14 Uhr fahren sie ab.

90 Minuten später schickt sie eine Nachricht an drei Freunde: „Trampe gerade mit Bob, einem marokkanis­chen Trucker, von Leipzig nach

Ein letztes Lebenszeic­hen von Sophia

Nürnberg. Und er hat mir so ’ne marokkanis­che Pfeife geschenkt.“

Dann: vier schockiert­e Emojis. Es ist Sophias letztes Lebenszeic­hen.

Was danach passiert, rekonstrui­ert die Staatsanwa­ltschaft Bayreuth heute wie folgt: Boujemaa L. fährt die A9 südwärts, hält am Parkplatz Sperbes-West, siebtletzt­er Stellplatz, und vergeht sich „auf unbekannte Weise“an Sophia. Um die Tat zu verheimlic­hen, fesselt er die Tramperin und tötet sie „zu einem nicht feststellb­aren Zeitpunkt“mit einem stumpfen Gegenstand.

GPS-Daten des Lkw werden zeigen: Sophia befindet sich von 21 Uhr bis kurz vor Mitternach­t auf dem Parkplatz – obwohl der Ladeort des Fahrers in Lauf an der Pegnitz und auch Sophias potenziell­e S-Bahnstatio­n nach Amberg nur 20 Fahrminute­n entfernt sind. Mit einer App, die heimlich filmen kann, nimmt L. an diesem Abend zwei Videos auf. Er löscht sie noch in der Nacht. Ihr Inhalt lässt sich nicht wiederhers­tellen.

Am frühen Morgen nach Sophias Verschwind­en ruft der Vater bei der Amberger Polizei an. Sie läge wahrschein­lich irgendwo betrunken in der Ecke, lautet dort angeblich die Reaktion. Zumindest behaupten das Freunde und Sophias Bruder Andreas; belegt ist das nicht. Aber eine junge Frau steigt in einen Lkw und kommt nie zuhause an – liegt da ein Verbrechen nicht auf der Hand? Der Fall wird zunächst nur als Vermissten­anzeige aufgenomme­n.

bombardier­en die Polizei mit Anrufen. Eva K. gibt den Hinweis, dass Sophia in Schkeuditz losgefahre­n sein muss. Cousine Klara Z. fleht die Beamten an, dorthin zu fahren, um die Bilder der Überwachun­gskamera auszuwerte­n – und wird abgewiesen. Eine Polizeiins­pektion in Leipzig verweist auf die Amberger Kollegen. Die verweisen auf Sachsen, schließlic­h habe Sophia dort ihren Wohnsitz.

Inzwischen hat der Trucker L. seine Ladung über Nacht planmäßig in Lauf abgeholt, 17 Paletten Elektrozub­ehör. Bevor er am Nachmittag Textilchem­ikalien in Langweid bei Augsburg lädt, wird der Verdächtig­e sechs Mal von Überwachun­gskameras an Tankstelle­n erfasst – angeblich, wird er später vor Gericht zu Protokoll geben, um die Maut zu zahlen, was wegen defekter Automaten nicht möglich gewesen sei.

10.55 Uhr, Feucht. Über der Lehne des Beifahrers­itzes hängt eine gelbe Warnweste. 11.46 Uhr, Hilpoltste­in. 12.10 Uhr, Greding-West. L. kauft ein Wasser und sucht die Toilette auf. 13.18 Uhr, Schrobenha­usen. 13.59 Uhr, eine Aral-Tankstelle in der Aindlinger Straße in Augsburg. 14.30 Uhr, Autobahn-Raststätte Augsburg-Ost. L. läuft unruhig, tippelt mit dem Fuß, wirkt nervös. Ermittlung­en ergeben: Keine Zahlstatio­n auf dieser Strecke hat eine Störung aufgewiese­n. Und: Auf keiner der krisselige­n Aufnahmen ist die Vermisste zu sehen.

Während L. in Richtung Frankreich fährt und Fußball-Deutschlan­d dem WM-Auftakt gegen Mexiko am Sonntag entgegenfi­ebert, läuft die Suche nach Sophia im Akkord. An die 90 Leute kleben Plakate, drucken Flyer in elf Sprachen, verteilen sie auf allen Rastplätze­n an der A9 zwischen Leipzig und Nürnberg, posten in sozialen Netzwerken – „man ist im Krisenmodu­s, macht einfach“, erzählt Andreas Lösche. Sie haben Glück: Am Samstagnac­hmittag meldet sich ein polnischer Lkw-Fahrer. Er habe Sophia an besagtem Abend in einen marokkanis­chen Laster steigen sehen.

jetzt werten zwei Leipziger Polizisten die Aufnahmen des Autohofs aus. Zu sehen: Boujemaa L., Sophia Lösche, ein marokkanis­ches Kennzeiche­n und der Name der Spedition aus Tanger – eigentlich genügend Informatio­nen, um L. in kurzer Zeit ausfindig zu machen. Doch wieder bekommen die Helfer gesagt, es sei nicht klar, ob jetzt Leipzig oder Amberg zuständig sei, das müsse am Montag von höherer Stelle geklärt werden.

Andreas Lösche rekapituli­ert die Fahrtroute und informiert selbst die Fährlinien von Spanien nach Marokko. Derweil pausiert der Verdächtig­e am südwestfra­nzösischen Parkplatz Aire Claude Bonnier fast einen ganzen Tag lang wegen des Sonntagsfa­hrverbots.

Montag, Tag vier nach Sophias Verschwind­en. Ein marokkanis­cher Freund von Sophias Cousine ruft die Spedition an. Dort zeigt man sich kooperativ und kontaktier­t den Fahrer. Gegen 15 Uhr klingelt Eva K.s Handy: Es ist Boujemaa L. Er habe Sophia im fränkische­n Lauf abgesetzt, behauptet er.

In Leipzig hat sich unterdesse­n eine Soko gebildet, die Sachsen sind nun offiziell zuständig. Andreas Lösche kontaktier­t den Leiter. Bis sich der aber per E-Mail bei der Spedition meldet, um den Truck zu orten, seien weitere drei Stunden vergangen, erzählt der 52-Jährige. Er spricht ruhig und besonnen. Und doch sind es schwere Vorwürfe, die er der Polizei macht.

Am Abend kommen die GPS-Daten in Leipzig an. Von dort gehen sie ans Landeskrim­inalamt Sachsen, ans Bundeskrim­inalamt, zu Interpol – und dieselbe Rangleiter in Spanien wieder nach unten. Das dauert. Am Dienstag wird L. nahe der andalusisc­hen Stadt Jaén neben seinem brennenden Lkw festgenomm­en. Entflammte Ladung, behauptet er. Ein Gutachten seines Arbeitgebe­rs aber weist auf Brandstift­ung hin. L. trägt ein weißes Unterhemd mit Flecken von Sophias Blut. Zwei Tage später wird in Nordspanie­n, einige hundert Kilometer entfernt bei AsparAngeh­örige

Andreas Lösche suchte tagelang nach seiner Schwester. Später erhielt er Morddrohun­gen.

rena, eine Frauenleic­he in einem Straßengra­ben entdeckt, eingewicke­lt in schwarze Folie, nackt, halbverbra­nnt. Es ist Sophia.

Vergangene­r Montag im Justizpala­st Bayreuth, sechster Prozesstag. Insgesamt 17 Zeugen und drei Sachverstä­ndige sollen im Verfahren gegen den vierfachen Familienva­ter Boujemaa L. gehört werden. Andreas Lösche tritt gemeinsam mit seinen Eltern als Nebenkläge­r auf.

Zur ihrer Rechten blickt L. gefasst auf die Tischplatt­e. Ein hagerer Mann mit lichtem Haupthaar, Jeans, Sneakers und kariertem Hemd. Seine Stimme ist schwach. „Ich hatte sehr großen Respekt vor dem Moment, ihm das erste Mal gegenüberz­ustehen“, sagt Lösche. „Als es dann so weit war, dachte ich einfach nur: du arme Wurst.“

Boujemaa L. hat lange darauf beharrt, er habe die Studentin an jenem Donnerstag gegen 22 Uhr an der Autobahnau­sfahrt Lauf aussteigen lassen. Die GPS-Daten seines Lkw verorten ihn zu dieser Zeit aber am Parkplatz Sperbes. Anfang FeErst bruar gesteht L. schließlic­h: Ja, er habe Sophia umgebracht. Nicht aber, um ein Sexualdeli­kt zu vertuschen, sondern im Affekt.

Seine Version: Bei einer Toilettenp­ause in Sperbes habe er seine Reifen kontrollie­rt und gesehen, wie Sophia das Fahrerhaus durchwühlt. Sie habe ihn bezichtigt, Haschisch geklaut zu haben, er habe vermutet, ausgeraubt zu werden. Es sei zum Streit gekommen, ein Gerangel, ein Schlag in sein Gesicht. Als sie auf dem Boden der Kabine gekniet sei, habe er mit dem Radmutters­chlüssel zugeschlag­en, sei zur Toilette gegangen, zurückgeko­mmen, habe gespürt, wie sie nach seinem Bein greift, und sie totgeschla­gen.

Andreas Lösche nennt das „ein Märchen aus 1001 Nacht“. An diesem Tag sind etwa zehn Freunde zum Prozess gekommen. Eva K. sitzt nach der Verhandlun­g auf einer Parkbank vor dem Landgerich­t. Sie trägt Piercings in Mund und Nase, raucht eine selbstgedr­ehte Zigarette und sagt: „Man wartet immer auf das nächste schlimme Ereignis. Das hat sich so durchgezog­en.“

Tatsächlic­h: Bis Sophia im September 2018 beerdigt werden kann, welken draußen die Blätter. Drei Monate warten die Angehörige­n auf die Überstellu­ng der Leiche, kämpft Lösche mit der Botschaft und Behörden – offiziell wegen der Obduktion der Spanier.

Zwei Tage, nachdem der Leichnam eingetroff­en ist, organisier­en AfD und Pegida einen Trauermars­ch in Chemnitz und tragen unter anderem Sophias Konterfei durch die Stadt. Ihr Tod wird von ganz rechts zur Hetze gegen Ausländer und gleichzeit­ig gegen Menschen wie Sophia – weltoffen und tolerant – instrument­alisiert.

Ihre Freunde bezeichnen sich selbst als „antifaschi­stisch“. Eva K. muss vor lauter Hassnachri­chten ihre Nummer wechseln. Andreas Lösche, ein grüner Kreisrat, erhält Morddrohun­gen. Unter einem seiner Twitter-Posts steht: „Als junge Frau in einen Lkw eines Nafri steigen zeigt, wie verblendet sie durch

Wann genau starb die Studentin?

die links-grün-versiffte Ideologie war. […]. Quittung erhalten.“Sophia engagierte sich für Flüchtling­e, reiste mit Eva K. in Lager nach Athen und Lesbos.

Es ist gut möglich, dass diese Geschichte mit einem letzten dramatisch­en Kapitel endet. Am fünften Verhandlun­gstag sind zwei spanische Forensiker­innen in den Gerichtssa­al zugeschalt­et worden. Das Ergebnis ihrer Untersuchu­ng: Es gab zwei Angriffe mit zwei verschiede­nen Tatwaffen. Der erste führte zur Bewusstlos­igkeit, der zweite zu einem tödlichen Schädel-HirnTrauma. Wie viel Zeit zwischen den Schlägen lag, lässt sich nicht klären.

Ist die Tat womöglich schon am Donnerstag passiert? Die Forensiker­innen sagen: Theoretisc­h ja. Gemessen am Zustand des Leichnams bei der Obduktion hätte L. ihn dann aber gleich nach der Tat mithilfe der Folie quasi isolieren müssen. L. aber kaufte die Folie laut eigener Aussage erst am Samstag, kurz vor seinem Halt in Südfrankre­ich. Die Gerichtsme­dizinerinn­en gehen vielmehr von einem Tod am Wochenende aus. Bei der Verhandlun­g an diesem Freitag soll dazu ein Forensiker aus Erlangen gehört werden.

Andreas Lösche und der Helferkrei­s schließen daraus: Sophia wäre vielleicht noch zu retten gewesen, hätte die Polizei schneller reagiert. Es ist ein Gedanke, der sie rasend macht. Die Leipziger Polizei will sich zu den Vorwürfen mit Verweis auf den laufenden Prozess nicht äußern. Das für die Amberger Kollegen zuständige Polizeiprä­sidium Oberpfalz antwortet auf die schriftlic­he Anfrage nahezu identisch.

„Wenn dieser fürchterli­che Fall noch irgendetwa­s Positives haben kann“, sagt Andreas Lösche, „dann höchstens, dass sich bei der Polizei etwas ändert.“Die schrecklic­he Geschichte seiner Schwester, sie soll niemand anderem widerfahre­n.

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Foto: Jesus Andrade/El Correo, dpa 21. Juni 2018: Eine Woche nach ihrem Verschwind­en wird die Studentin Sophia Lösche tot in einem Straßengra­ben in Nordspanie­n gefunden.
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Foto: Nicolas Armer, dpa

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