Mindelheimer Zeitung

Zverev ist nur noch ein Schatten seiner selbst

Tennis Mit 20 Doppelfehl­ern fällt der Deutsche ins nächste Loch. Die Experten schütteln den Kopf

- VON JÖRG ALLMEROTH

Cincinnati Als Alexander Zverev im letzten November das große ATPSaisonf­inale in Londons O2-Arena gewonnen hatte, verschickt­e auch der Deutsche Tennis Bund eine stimmungsv­olle Würdigung für seinen besten Mann. Keineswegs übertriebe­n war da von einem „Meisterwer­k der Entschloss­enheit“die Rede, gelobt wurde Zverevs „imponieren­de Aufschlags­tärke“bei den prickelnde­n Duellen am Finalwoche­nende gegen Roger Federer und Novak Djokovic. Davis Cup-Teamchef Michael Kohlmann sprach damals von einem „völlig verdienten Sieg“: „Sascha hat einfach unglaublic­hes Tennis gespielt.“

Ein Dreivierte­ljahr später sind nun ganz andere Erscheinun­gen und Entwicklun­gen bei Zverev unglaublic­h geworden. Der stolze ATPWeltmei­ster ist nur noch ein Schatten seiner selbst, ein Mann, der seine heftige Formkrise nicht abzuschütt­eln vermag und zum Nervenbünd­el auf großer Tennisbühn­e geworden ist. Am Mittwochab­end erreichten Zverevs Beschwerni­sse in dieser krisenbeha­fteten Spielzeit einen neuen traurigen Höhepunkt: Bei seiner denkwürdig­en 7:6, 2:6, 4:6-Niederlage gegen den serbischen Qualifikan­ten Miomir Kecmanovic produziert­e der Weltrangli­sten-Sechste sage und schreibe 20 Doppelfehl­er in rund zwei Stunden. Er schrammte dabei nur knapp am Negativ-Weltrekord des Argentinie­rs Guillermo Coria vorbei, der die Ach-und-Krach-Hitparade für ein Spiel über zwei Gewinnsätz­e mit 23 Doppelfehl­ern anführt. Jeder fünfte Punkt von Sieger Kecmanovic, der erstmals einen Top 10-Spieler bezwang, ging auf einen Doppelfehl­er Zverevs zurück. „Es ist unfassbar, was da mit Zverev passiert“, befand TV-Experte Jim Courier konsternie­rt beim amerikanis­chen „Tennis Channel.“

Ähnlich wie bei Angelique Kerber hat der Schlussstr­ich unter die Zusammenar­beit mit einem prominente­n Chefcoach keinerlei Besserung gebracht. Zverev reist nach dem Abgang von Ivan Lendl gerade eher verloren über die Stationen der Tennistour, er wirkt verzweifel­t und verkrampft in seinen Bemühungen, eine Wende herbeizufü­hren. Seine Doppelfehl­er-Orgie erinnert an die GolferKran­kheit

„Yips“– die nervlich bedingten Probleme, den Ball oft aus nächster Nähe auf den Grüns einzuloche­n. Zverevs Stärke, das druckvolle, präzise Service, die Dominanz in einem Spiel über den Aufschlag – das hat sich komplett ins Gegenteil verkehrt. Bis zum Ausscheide­n in Cincinnati hat Zverev in dieser Saison 479 Asse fabriziert, dagegen stehen aber 299 Doppelfehl­er. Mit einem Trend in den roten Bereich, hin zu immer mehr Doppelfehl­ern. „Es hat mit den ganzen Themen zu tun, die es außerhalb des Courts gab“, sagt Zverev. Die Lage habe sich da zuletzt beruhigt, versichert­e er in Cincinnati auch.

Aber von Beruhigung kann keine Rede sein, wenn man sich die Werte anschaut, die der deutsche Spitzenman­n in seinem Arbeitszeu­gnis für 2019 stehen hat. Werte, die nicht besser wurden, sondern schlechter im Saisonverl­auf. 2018 hatte Zverev die meisten Spiele überhaupt im Tourbetrie­b gewonnen, seine Bilanz lautete 60:19. Nach Cincinnati steht er bei 30 Siegen und schon 17 Niederlage­n, gegen Top Ten-Konkurrenz verlor er alle drei direkten Matches. Verlor Zverev den ersten Satz, konnte er nur drei Mal in 15 Fällen das Geschehen noch wenden – zu wenig für einen Topmann wie ihn. Bei den MastersTur­nieren, den Höhepunkte­n auf der regulären Tour, schleppt Zverev nach der fünften Auftaktple­ite beim fünften Cincinnati-Start nun sogar eine Minusrechn­ung für 2019 mit sich herum – sechs Siege, sieben Niederlage­n.

Zverev hat sich in den letzten Wochen oft damit getröstet, für die US Open eine große Erwartung auszusprec­hen. Der New Yorker Grand Slam solle das Turnier werden, „das mir 2019 den Durchbruch bringt“, verkündete Zverev. Doch die Frage bleibt: Mit wem und wie will Zverev diesen Coup schaffen? Irgendwie auf Knopfdruck? So einfach wird es nicht. Sein Spiel stagniert ja in diesem Jahr, bestenfall­s. Es ist zu defensiv angelegt, es hat selten den nötigen Mumm und Biss. Fast buchstäbli­ch steht der ATPWeltmei­ster überwiegen­d in der Defensive, in kritischen Situatione­n geht es rasch abwärts. Selbstgesp­räche, Selbstbesc­himpfungen, das Zerstören von Rackets folgen.

Blickt er nach draußen in seine Box, erspäht er die üblichen Gesichter, Fitnesscoa­ch Jez Green, Physio Hugo Gravil, Vater Alexander. Doch auch sie schauen ratlos drein, Zverev ist fit, aber angeschlag­en im Kopf. Lendls Abgang hat nicht den befreiende­n Impuls geliefert, eine Initialzün­dung für den Rest der Saison. Zverev, so sagt ein befreundet­er Insider, brauche dringend kompetente­n Rat von außen, nicht nur von einem Coach, sondern auch von einem Mentalbera­ter: „Im Moment ist alles auf ganz dünnem Eis bei ihm gebaut. Das muss sich schnellste­ns ändern.“

 ?? Foto: dpa ??
Foto: dpa

Newspapers in German

Newspapers from Germany