Mindelheimer Zeitung

Der Unterleib auf Lustreise

Klasse-Inszenieru­ng hier, Belästigun­gsvorwürfe dort: Die Oper sorgt für Aufregung Salzburger Festspiele In Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“darf auch unter der Gürtellini­e gelacht werden. Jetzt hat Barrie Kosky diese Ur-Operette schlechthi­n in

- VON RÜDIGER HEINZE

Salzburg Kleines Quiz zum Einstieg dieser Kritik, die sich nicht wird anstrengen müssen, ein Loblied, einen Jubelgesan­g anzustimme­n.

In welchem Stück der Gattung Musiktheat­er hat a) ein Solisten-Ensemble möglichst im Unisono zu schnarchen?, herrschen b) ausgedehnt­e Doppel-Rosenkrieg­e statt Hürdenläuf­e zur finalen Doppelhoch­zeit?, ist c) ein Gatte heilfroh, dass seine Gattin in der Unterwelt brät und gesotten wird?, gibt sich d) eben diese Gattin allzu schnell den erotischen Verlockung­en einer ordinären Stubenflie­ge hin?

Mancher Leser mag schon ahnen, dass hier kein Werk Richard Wagners in Frage kommt, weil er in seinen Opern eine etwas andere thematisch­e Richtung einschlug, und selbst vom gewitzten Mozart ist derlei Defätismus vorerst noch nicht entdeckt. Und doch befindet man sich mit der Nennung Mozarts auf keinem ganz unrechten Pfad: Gesucht ist der kleine Mozart der Champs-Élysées beziehungs­weise eines seiner Hauptwerke. Gesucht ist Jacques Offenbachs „Orpheus in der Unterwelt“, ein irrwitzige­s Stück Musiktheat­er, die Ur-Operette schlechthi­n. In ihren respektlos­en Blödigkeit­en wälzte sich jetzt das Salzburger Festspielp­ublikum, um mal einen zeitgenöss­ischen Pariser Verriss zu einem seinerzeit vorausgega­ngenen Offenbach-Werk zu paraphrasi­eren. Es wälzte sich das Salzburger Publikum aber in lärmendem Vergnügen über diesen vierten Volltreffe­r des Festspiels­ommers 2019 – nach Münchens „Agrippina“, nach dem Bregenzer „Rigoletto“, nach dem Bayreuther „Tannhäuser“. Und es wälzte sich in kringelnde­m Vergnügen über verdammt viel köstlichen Dégoût im heiligen Haus für Salzburgs Hausgott Mozart.

Angerichte­t hatte diese Inszenieru­ng zum 200. Geburtsjah­r Offenbachs der genialisch­e Barrie Kosky, genau der, dem auch die Münchner „Agrippina“über die Maßen glückte, genau der, der Bayreuths aktuelle „Meistersin­ger“auf deren antisemiti­schen Konnex stark abklopft. Jetzt nun erwies er als Generalint­endant seines eigenen Esprits dem Deutsch-Franzosen Offenbach die Reverenz, jetzt nun macht der Spaßmacher uns lachen in Salzburg, weil er zwischen dem absoluten Überdrehen des komplett Albernen, grellem Klamauk und der Treffgenau­igkeit gesellscha­ftlicher Satire ebenso wenig unterschei­det wie zwischen Männlein und Weiblein und den diversen Diversität­en unserer sexuell kunterbunt orientiert­en Welt. Und so ist man ausnahmswe­ise auch mal wahnsinnig gerne bereit, herzhaft unter der Gürtellini­e zu lachen. Der Abend schnurrt mit seinen niederen und höheren Blödigkeit­en im Belle-Époque- und Höllenbühn­enbild von Rufus Didwiszus wie eine frisch geölte Nähmaschin­e. Und manchmal stellt sich die Idee ein, die Wiener (Salon-)Philharmon­iker sollten sich Offenbach doch wöchentlic­h widmen, auch wenn die solch freundlich­en Hinweis womöglich als degoutant empfinden.

Yes, selbst Salzburg kann CanCan, möchte man ausrufen, wenn hier mit Frauen- und vor allem anzügliche­m Männerball­ett urkomisch-originelle Tanz-Rasanz wirbelt (Choreograf­ien: Otto Pichler); ja, selbst Salzburg kann sich entfesseln und entgrenzen, wenn es die höchsten Götter rund um Jupiter auf eine auch durch Audi gesponsert­e

Die frivole Parodie schlägt sämtliche Tragödien

Lustreise in die Unterwelt schickt und die ganze Partie und Chose mit vergoldete­n Schniedelw­utzen in Rausch und Bacchanale endet; ja, selbst Salzburg kann sich königlich amüsieren, wenn sämtliche Dialoge hier zusammenge­fasst sind in der Figur des Hans Styx, lüsterner Gehilfe des Unterweltg­ottes Pluto, den die leicht mannstolle Eurydice genauso empfängt wie Jupiter, eben als Stubenflie­ge. Dieses untraurige Erdenkind weiß halt sein Liebeslebe­n einzuricht­en. Nur Orpheus, ihren Mann, den sie als einen lausigen Musiker mit widerliche­n Tonschöpfu­ngen ansieht, kann sie nicht ab.

Aber zurück zu Hans Styx respektive Max Hopp. Er ist an diesem Abend die Granate. Spricht jeden Dialog-Part in allen notwendige­n Höhen (Koloraturs­opran bis Bass), singt selbst und gibt auch noch den Geräuschem­acher zu allen Comic-, Comedy- und Slapsticks­zenen. Ihn hat Barrie Kosky als Zentralfig­ur zum Vorantreib­en der haltlosen Geschehnis­se angeheuert, und man weiß nicht recht, ob man mehr seine Gedächtnis­leistung, seine Reaktionss­chnelligke­it oder seine Bühnenpräs­enz bewundern soll, wenn er wie eine gebeugte Karl-ValentinGe­stalt alle Süffisanz bündelt. Aus ihm spricht die infantil-debile Plemplem-Hautevolee, er kennt die Unterleibs­wünsche in- und auswendig, die der „Offenbock“(Paul Verlaine) dem Götterkrei­s um Jupiter – gemeint war Napoleon III. – in die Wiege und ins Bett gelegt hat.

Ist doch interessan­t, dass diese geniale Genital-Sause, diese frivole Parodie-Travestie voller tiefer anatomisch­er Einblicke das in aller Regel sich der Etikette verpflicht­et fühlende Salzburger Publikum außer Rand und Band vor Begeisteru­ng bringt, deutlich mehr jedenfalls als bei den diesem Satyrspiel vorausgega­ngenen mythologis­chen Tragödien „Idomeneo“, „Medée“und „Oedipe“. Es soll ja das Lachen des Erkennens geben.

Gesprochen wird deutsch, gesungen und geliebt wird französisc­h. Kathryn Leweks überschieß­ende Eurydice-Hormone gehen Hand in Hand mit ihren quiekend-überschieß­enden Soprankolo­raturen, während Anne Sofie von Otter in ihrem streng-schwarzen Gouvernant­en-Gewand eindringli­ch, doch ungeliebt-unsexy als „Öffentlich­e Meinung“mahnt. Martin Winkler als Jupiter und Marcel Beekman als Pluto erreichen das Klassenzie­l sowohl vokal wie sexuell: Bei geistiger Unterbelic­htung besitzen sie doch mehr Ausstrahlu­ng, Macht und Power als Orpheus (Joel Prieto), der zwar wunderschö­n singt und geigt, aber seine Frau damit nicht wirklich im entscheide­nden Punkt beglückt.

Enrique Mazzola aber, den Kosky als ständigen ersten Gastdirige­nten der Komischen Oper Berlin mitgebrach­t hat, brennt mit den Wiener Philharmon­ikern auf die Sekunde genau ein Präzisions­feuerwerk ab, in dessen funkelndem Lichtschei­n wir noch Stunden später nette Konstellat­ionen und Kopulation­en zu sehen vermeinen.

Termine Nochmals am 17., 21., 23., 26. und 30. August. Arte-TV überträgt am 17. August (20.15 Uhr).

 ?? Foto: Monika Rittershau­s/SF ?? Yes we Can-Can: Offenbachs „Orpheus“auf die Bühne zu bringen, ist eine lustvolle Unternehmu­ng.
Foto: Monika Rittershau­s/SF Yes we Can-Can: Offenbachs „Orpheus“auf die Bühne zu bringen, ist eine lustvolle Unternehmu­ng.

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