Der Grat ist schmal
Auch Du also, Plácido? Schwere Vorwürfe treffen den weltweit beliebten ehemaligen Tenor- und heutigen Bariton-Star. Übergriffig soll der gebürtige Spanier vor Jahrzehnten gewesen sein – so wie auch die berühmten Dirigenten James Levine hinsichtlich junger Männer und Charles Dutoit sowie Daniele Gatti hinsichtlich von Frauen.
Bei den Salzburger Festspielen gilt erst einmal zu Recht die Unschuldsvermutung, weswegen Domingo
dort nicht ausgeladen wird bei Verdis Oper „Luisa Miller“. In den USA ist man schon deutlich strenger: Große Institutionen haben bereits Engagements aufgekündigt. Wissen sie wirklich mehr? Bedenklich bleibt, dass sich etliche Frauen übereinstimmend in der Klage geäußert haben und dass Domingos Reaktion in Teilen wie ein halbherziges Dementi klingt.
Doch dies kann und darf noch keine Verurteilung sein: Der Grat zwischen Charmeur und Draufgänger beziehungsweise zwischen Schwerenöter und sexuellem Erpresser kann schmal sein. Auf welchen Wegen genau ist Domingo gewandelt? Was belastet ihn, was entlastet ihn? Wir wissen es nicht. Und wahrscheinlich werden wir es nie genau erfahren – weil es abhängig ist auch von der Situation und der Einschätzung des Gegenübers beziehungsweise des Opfers. Und weil es mittlerweile – siehe die Fälle Harvey Weinstein und James Levine – vertragliche Beilege-Abkommen mit oder ohne Abstandssummen gibt. Dann bleibt die Klärung (oder versuchte Klärung) womöglich einfach offen.