Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (37)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Sie wurde wieder schön, denn aus einem alten Mädchen wird eine junge Mutter. Das alte Unwesen fing wieder an, man besuchte Chantefleurie, und von dem Sündengeld, das sie verdiente, schaffte sie nichts Anderes an, als Spielsachen, Zuckerwerk und Putz für ihr Kind; an sich dachte sie nicht, und kaufte sich nicht einmal eine Bettdecke. Die kleine Agnes war aber auch ein schönes Kind und herausgeputzt wie eine Prinzessin. Unter Anderem hatte sie niedliche Schühchen, wie der König selbst sie nicht schöner haben kann. Ihre Mutter hatte sie selbst gestickt und allen Fleiß darauf verwendet. Es waren die niedlichsten rosenfarb’nen Schuhe, die man nur sehen kann, nicht größer als mein Daumen.
Die junge Agnes hatte aber nicht nur einen niedlichen Fuß, sondern war auch das niedlichste Geschöpf von der Welt. Ihre Mutter wurde täglich toller in sie vernarrt, und konnte nicht aufhören, mit ihr zu spielen, zu kosen, sie aus- und anzukleiden,
sie zu bewundern und zu loben.“
„Die Geschichte ist recht artig,“sagte Gervaise, „aber wo bleiben die Zigeuner?“„Jetzt kommt es,“erwiederte Mahiette. „Eines Tages kamen Reiter von ganz besonderer Art zu Rheims an. Es waren Landstreicher und Diebe, die unter der Anführung ihres Herzogs und ihrer Grafen das Land durchzogen. Sie waren schwarzbraun, hatten krause Haare und trugen silberne Ringe in den Ohren. Die Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Ihr Gesicht war noch schwärzer, und ihre gezöpften Haare hingen wie Roßschweife über den Rücken hinab. Ihre Kinder, wenn sie ihnen zwischen den Beinen herumkrochen, glichen wahren Affen. Und kurz, es war ein Heidenvolk. Sie kamen schnurgerade aus Aegypten und waren über Polen nach Rheims gekommen. Der Pabst hatte sie Beichte gehört und ihnen zur Buße auferlegt, sieben Jahre lang hinter einander durch die Welt zu ziehen, ohne je in ein Bett zu liegen. Sie nannten sich auch büßende Brüder und stanken. Es scheint, daß sie ehedem Sarazenen waren und an Jupiter glaubten. Sie kamen nach Rheims und sagten: Gut Glück im Namen des Königs von Algier und des Kaisers von Deutschland! Da man sie nicht in die Stadt ließ, lagerten sie sich vor dem Thor, und ganz Rheims strömte hinaus, sie zu sehen. Sie blickten einem in die Hand und wahrsagten wunderbare Dinge. Sie waren im Stande gewesen, dem Erzverräther Judas zu prophezeien, daß er Pabst werden würde. Es gingen auch allerlei Gerüchte über diese Leute, daß sie Kinder gestohlen und Menschenfleisch gegessen hätten. Ueberhaupt war es ein Diebsgesindel; aber das ist wahr, daß sie Einem Sachen sagten, die einen Kardinal in Verwunderung setzen könnten. Die Mütter brüsteten sich mit ihren Kindern, seit die Zigeunerinnen aus ihrer Hand alle Arten von Wundern entziffert hatten, die auf heidnisch und griechisch hineingeschrieben waren. Die Eine bekam einen Kaiser, die Zweite einen Pabst, die Dritte einen Kapitän zum Mann. Die arme Chantefleurie war auch neugierig; sie hätte gerne gewußt, ob ihre schöne, kleine Agnes nicht eines Tages Kaiserin von Armenien oder etwas dieser Art werden würde. Sie trug daher das Kind zu den Zigeunern; diese bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Lippen und hatten besonders eine große Freude an seinen kleinen Händchen und Füßchen. Das Kind fürchtete sich vor den schwarzen Gesichtern und weinte. Um so vergnügter war die Mutter über das Glück, das die Zigeunerinnen ihrer Agnes prophezeit hatten: sie sollte eine der schönsten und tugendhaftesten Königinnen werden. Sie kehrte ganz stolz mit der kleinen Königin in ihre Hütte zurück. Am anderen Morgen schlich sie sich, als das Kind noch schlief, zu einer Nachbarin, um ihr zu erzählen, daß eines Tages ihre Agnes von dem König von England und dem Erzherzog von Aethiopien bei Tafel bedient werden solle. Als sie zurückkam, fand sie die Thüre offen und das Kind war verschwunden; einer seiner kleinen niedlichen Schuhe lag auf dem Boden. Sie stürzte aus dem Hause, rannte mit dem Kopf gegen die Mauer und jammerte laut: Mein Kind! Mein Kind! Wer hat mir mein Kind geraubt? Die Straße war einsam, ihre Hütte stand vereinzelt; Niemand konnte ihr etwas sagen. Sie durchrannte alle Straßen der Stadt, außer sich, rasend, schrecklich, wie ein Raubthier, das seine Jungen verloren hat. Keuchend, athemlos, ein irres Feuer in den Augen, das ihre Thränen trocknete, furchtbar anzuschauen, klopfte sie an Thüren und Fenster und forderte ihr Kind. Sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: Mein Kind! Mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wer mir mein Kind wiedergibt, dessen Magd will ich sein, die Magd seines Hundes, er soll mir das Herz aus dem Leibe reißen! Sie begegnete dem Pfarrer von Saint-Remy und rief ihm zu: Bist Du ein Mann Gottes, so gib mir mein Kind wieder und ich will Dein Feld mit meinen Nägeln pflügen! Es war ein herzzerreißender Anblick, und ich habe einen sehr hartherzigen Mann gesehen, Meister Pouce la Cabre, den Prokurator, der weinte. Ach! die arme Mutter! Am Abend kehrte sie in ihre verlassene Hütte zurück. Während ihrer Abwesenheit hatte eine Nachbarin zwei Zigeunerweiber hineinschleichen sehen, die einen Pack unter dem Arme trugen; sie kamen bald wieder heraus, schlossen die Thüre und flohen eilends davon. Später hatte man in dem Haufe eine Art Kindergeschrei gehört. Freudigen Muthes eilte die Mutter die Treppe hinauf, stürzte in das Zimmer und fand, statt ihres niedlichen Kindes, ein kleines, häßliches, hinkendes, buckliges und einäugiges Ungeheuer, das auf dem Boden kroch. Sie wendete ihre Augen mit Abscheu weg und rief: Oh, die garstigen Zauberer haben mein armes Kind in diese scheußliche Mißgeburt verwandelt! Man mußte den kleinen Zwerg schnell aus ihren Augen entfernen, um sie nicht wahnwitzig zu machen. Das Kind war ein junges Ungeheuer, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte; es war etwa vier Jahre alt und stammelte eine Sprache, die keine menschliche war. Die Chantefleurie hatte sich auf den kleinen Schuh geworfen, das Einzige, was ihr von ihrem Kinde übrig geblieben war. Sie blieb lange unbeweglich, stumm, ohne einen Lebenshauch, so daß man sie für todt hielt. Plötzlich zitterte sie am ganzen Körper, bedeckte ihre Reliquie mit wüthenden Küssen und brach in einen Strom von Thränen aus. Oh, mein Kind! Mein schönes kleines Kind! Wo bist du? rief sie jammervoll aus und rang die Hände. Wir weinten Alle mit, und ich muß noch weinen, wenn ich nur daran denke. Plötzlich erhob sie sich und lief durch die Gassen der Stadt unter dem gräßlichen Geschrei: In das Lager der Aegypter! In das Lager der Aegypter! Laßt uns die Zauberer verbrennen! Die Zigeuner waren über alle Berge, es war stockfinstere Nacht und man konnte sie nicht verfolgen. »38. Fortsetzung folgt