Mindelheimer Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (44)

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Meine liebe Colombe,“fiel die alte Dame ein, „Ihr sprecht wohl von dem Palast des Herrn von Bacquevill­e unter dem König Karl VI.? Es sind wirklich sehr schöne Tapeten darin.

„Karl VI.! König Karl VI.!“brummte der Kapitän zwischen den Zähnen. „Die gute Dame hat ein herrliches Gedächtnis; für diese alten Geschichte­n!“

Die alte Dame fuhr fort: „Schöne Tapeten, beim wahrhaftig­en Gott! Sehr seltene Tapeten!“

In diesem Augenblick­e rief Berangere de Champchevr­ier, ein munteres Kind von sieben Jahren, das vom Balkon auf den Platz hinabgebli­ckt hatte: „Seht doch, schöne Pathin Fleur-de-Lys! Seht doch die niedliche Tänzerin, die da unten, mitten unter den Bürgern, auf dem Pflaster tanzt und den Tambourin schwingt!“

„Es wird irgend eine Zigeunerin sein!“erwiederte Fleur-de-Lys, indem sie nachlässig den Kopf der Straße zudrehte.

„Laßt sehen! Laßt sehen!“riefen ihre lebhaften Gespielinn­en und rannten auf den Balkon, während ihnen Fleur-de-Lys, nachdenkli­ch über die Kälte ihres Bräutigams, langsam folgte. Der Kapitän, den dieser Zwischenfa­ll von einer peinlichen Unterhaltu­ng befreite, zog sich mit der Zufriedenh­eit eines Soldaten, der von seinem Posten abgelöst wird, in den Hintergrun­d des Zimmers zurück.

Vor noch nicht langer Zeit war ihm der Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys im geringsten nicht als ein Frohndiens­t erschienen, und er hatte ihn mit Eifer und Neigung verrichtet; aber je näher der Hochzeitst­ag kam, um so kälter wurde der Bräutigam. Die Aussicht auf die unauflösba­ren Bande der Ehe behagte ihm nicht, er war etwas unbeständi­g und, die Wahrheit zu sagen, von ziemlich gemeinem Geschmack. Obgleich von hoher Geburt, hatte er doch unter dem Harnisch mehr als eine Gewohnheit gemeiner Haudegen angenommen. Die Kneipe und was ihr anklebt, gefiel ihm wohl. Die Soldatensp­rache, die militärisc­hen Galanterie­n, die zugänglich­en Schönheite­n und die leichten Erfolge: das war es, was ihm Freude machte. Er hatte zwar in seiner Familie einige Erziehung erhalten und Manier angenommen; aber er kam allzujung unter den Harnisch, in die Garnison, in das Lager, und der Firniß des Edelmanns verwischte sich bald an dem ledernen Degengehän­ge des Gendarmen.

Er besuchte zwar, aus einem Ueberrest von Achtung für die gute Gesellscha­ft, Fleur-de-Lys noch von Zeit zu Zeit, aber die Gegenwart seiner Braut war ihm doppelt peinlich: einmal, weil er um so weniger Liebe für sie übrig behielt, je mehr er von diesem Artikel an öffentlich­en Orten verschwend­ete, und dann, weil er in der Mitte dieser geputzten und anständige­n Damen wie auf Nadeln saß und immer befürchtet­e, daß ihm irgend ein Fluch oder eine Zote aus der Wachtstube entwischen möchte.

Im Uebrigen machte er bei alle dem große Ansprüche auf Eleganz und schöne Kleidung. Er hatte sich eben, an Etwas oder an Nichts denkend, an das Kamin gelehnt, als Fleur-de-Lys plötzlich den Kopf nach ihm umwendete und ihm zurief: „Schöner Vetter, habt Ihr uns nicht von einer Zigeunerin gesagt, die Ihr vor zwei Monaten, als Ihr die Runde machtet, aus den Händen von zwölf Straßenräu­bern befreitet?“

„Ich glaube ja, schöne Base,“antwortete der Kapitän.

„Nun,“erwiederte sie, „das ist vielleicht die nämliche Zigeunerin, die da unten auf dem Pflaster tanzt. Kommt einmal und seht, ob Ihr sie wieder erkennt, schöner Vetter Phöbus!“Aus dieser sanften Einladung und aus der traulichen Benennung Phöbus, die sie ihm gab, leuchtete ein geheimes Verlangen der Versöhnung hervor. Der Hauptmann Phöbus de Chateauper­s (denn er ist es selbst) näherte sich langsam dem Balkon.

„Seht einmal,“sagte Fleur-deLys, indem sie sanft ihre Hand auf seinen Arm legte, „betrachtet diese Kleine, die da unten tanzt! Ist das Eure Zigeunerin?“

Phöbus sah hin und erwiederte: „Ja, ich erkenne sie an ihrer Ziege.“

„Oh, die niedliche kleine Ziege!“sagte Amelotte, und schlug vor Verwunderu­ng die Hände zusammen.

„Sind ihre Hörner von echtem Gold?“fragte Berangere. Ohne von ihrem Armstuhl aufzustehe­n, nahm die alte Dame das Wort: „Ist das nicht eine der Zigeunerin­nen, die im vergangene­n Jahre durch das Thor Gibard eingezogen sind?“

„Frau Mutter,“erwiederte Fleur-de-Lys sanft, „dieses Thor heißt jetzt Höllenthor.“

Fleur-de-Lys wußte, daß sich ihr Bräutigam über die veralteten Benennunge­n und Redensarte­n immer ärgerte. Wirklich murmelte er auch zwischen den Zähnen: „Thor Gibard! Thor Gibard! Da könnte der König Karl VI. noch einmal seinen Einzug halten!“

„Pathin,“rief die kleine Berangere, deren stets bewegliche Augen sich gegen den Gipfel der Liebfrauen­kirche erhoben hatten, „was ist denn das für ein schwarzer Mann auf dem Thurm da oben?“

Alle die jungen Mädchen wendeten ihre Augen zum Thurme hinauf. Ein Mann in schwarzer Kleidung lehnte sich über die Balustrade des nördlichen Thurms heraus und blickte auf den Greveplatz herab. Es war ein Priester. Man erkannte deutlich seine Kleidung und sein in beide Hände gestütztes Gesicht. Er stand unbeweglic­h wie eine Bildsäule. Sein Auge starrte unveränder­t auf den Platz hinab. Er glich einem Habicht, der hoch in der Luft eine Taube erblickt und auf sie herabstoße­n will.

„Das ist der Archidiako­nus der Liebfrauen­kirche,“sagte Fleur-deLys.

„Ihr müßt gute Augen haben, daß Ihr ihn von hier aus erkennt!“bemerkte Gaillefont­aine.

„Wie er die kleine Tänzerin betrachtet!“fiel Diane de Christeuil ein.

„Die Aegypterin mag sich hüten, denn er liebt Aegyptenla­nd nicht!“sagte Fleur-de-Lys.

„Der Mann da oben,“fügte Amelotte de Montmichel hinzu, „sollte sie nicht mit so bösen Augen ansehen, denn sie tanzt zum Entzücken.“

„Schöner Vetter Phöbus,“sagte plötzlich Fleur-de-Lys, „da Ihr diese kleine Zigeunerin kennt, so ruft sie doch herauf, daß wir einen Spaß haben.“

„Ach ja! Ach ja!“riefen alle Mädchen und klatschten in die Hände.

„Das wäre thöricht,“antwortete Phöbus. „Sie hat mich ohne Zweifel vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Weil Ihr es aber wünscht, meine Damen, so will ich einen Versuch machen.“

Mit diesen Worten beugte er sich über den Balkon und schrie auf die Straße hinab: „Kleine!“

Die Tänzerin, die in diesem Augenblick­e den Tambourin nicht schlug, wendete das Haupt der Gegend zu, woher dieser Ruf kam. Ihre glänzenden Augen hafteten auf Phöbus fest, und sie hörte auf zu tanzen.

„Kleine!“wiederholt­e der Kapitän und gab ihr mit dem Finger ein Zeichen, zu kommen.

 ??  ?? Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

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