Darf man Kinder vegan ernähren?
Gesundheit Keine Zähne, Untergewicht, dünne Knochen: Der Fall eines völlig fehlentwickelten Babys schockiert viele Menschen. Wie Ärzte und eine vegane Mutter die Sache beurteilen
Augsburg Die zweijährige Amalia hat sich schon im Bauch ihrer Mutter vegan ernährt. Für Bianca Wimmer, 32 Jahre alt und aus Dillingen an der Donau, war bereits in der Schwangerschaft klar, dass ihre Kleine ohne tierische Produkte aufwachsen soll.
Keinen Moment habe sie in dieser Frage gezögert, sagt die Frau, die selbst seit mehr als vier Jahren nur Pflanzenprodukte isst. „Ich glaube nicht, dass ein Kind durch eine Gelbwurst oder ein Wienerle einen Entwicklungsschub macht“, sagt sie sarkastisch. Wimmer ist sich sicher: Als gelernte Erzieherin, die in einer Krippe arbeitet, würde sie merken, wenn ihr Kind an ernährungsbedingten Mangelerscheinungen litte.
Ein Paar aus Australien hingegen hat den Zustand seines Babys eineinhalb Jahre lang ignoriert. Die Eltern entgingen knapp einer Haftstrafe wegen Vernachlässigung. Sie hatten ihre Tochter von Geburt an streng vegan ernährt. Mit eineinhalb Jahren kam das Mädchen von Krämpfen geschüttelt in eine KliEs hatte den Entwicklungsstand eines drei Monate alten Babys – keine Zähne, viel zu dünne Knochen und kaum fünf Kilo Körpergewicht.
Verlässliche Statistiken dazu, wie viele Kinder in Bayern und Deutschland vegan aufwachsen, gibt es nicht. Kinder- und Jugendärzte würden aber „zunehmend häufiger“Familien betreuen, die sich und ihre Kinder vegetarisch oder vegan verköstigen, heißt es aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin (DGKJ).
Mediziner im Freistaat halten sich zurück mit einer Einschätzung, ob ein Speiseplan ganz ohne tierische Produkte für Babys empfehlenswert ist. Fest stehe, so teilt es der Verband mit: Je mehr das Lebensmittelsortiment eingeschränkt sei, desto größer werde das Risiko von Nährstoffdefiziten – und damit von Entwicklungsproblemen, Blutarmut oder neurologischen Störungen. Kinder mit solchen Mangelerscheinungen werden im Augsburger Universitätsklinikum, einem der größten Krankenhäuser Deutschlands, etwa ein bis zwei Mal im Jahr behandelt. „Meist ist eine schwere Anämie, also Blutarmut, das auffallendste Symptom“, sagt Sprecherin Ines Lehmann. Bei veganer Ernährung sei besonders die Versorgung mit Vitamin B12 kritisch. Denn das kommt fast nur in tierischen Produkten, allem voran in Fleisch, vor – und es spiele bei der Blutbildung eine Rolle. Wenn Eltern ihr Kind mit der Ernährungsweise in Gefahr bringen, könnten Ärzte das Jugendamt einschalten. Doch in der Regel seien Mütter und Väter nach einer Aufklärung im Krankenhaus einsichtig. Deshalb habe das Klinikum bisher noch nie Alarm geschlagen.
Kinderärzte warnen dennoch vor Gesundheitsrisiken. Sie beschwören vegane Eltern, ihrem Kind fehlende Nährstoffe wie B12 „unbedingt“anderweitig zuzuführen. Bianca Wimmer informiert sich nicht bei Ärzten. Sie nutzt Internetquellen für vegane Ernährung von Babys und tauscht sich viel mit Gleichgesinnten aus. So fühle sie sich verlässlich innik: formiert. Für den B12-Haushalt kaufe sie veganen Joghurt oder Pflanzenmilchdrinks mit zugesetztem Vitamin. Mit zwei Jahren stillt sie Amalia noch. Muttermilch empfehlen Ernährungswissenschaftler zum Nährstoffausgleich genauso wie Christian Vagedes, Vorsitzender der Veganen Gesellschaft Deutschland. Wer sein Kind vegan ernähre, müsse genau darauf achten, dass die Nahrung alle wichtigen Nährstoffe enthalte. Muttermilch hält Vagedes für „unerlässlich“und wirft den australischen Eltern Unwissenheit vor. Der Essensplan des kranken Babys bestand aus neun Lebensmitteln: Obst, Haferflocken, Kartoffeln, Reis, Tofu, Brot, Erdnussbutter, Reismilch – und als Snack Rosinen. Die Dillinger Mutter ärgert sich, wenn sie das hört: „Wenn ein Veganer einen Fehler macht, machen alle Fehler: So kommt das in der Öffentlichkeit an.“
Heute, mit drei Jahren, erholt sich das Mädchen aus Sydney bei einer Tante. Die Frau sagte im Prozess: „Es ist, als ob ihr Körper Kalorien speichert – für den Fall, dass sie sie in Zukunft noch einmal braucht.“
Der Essensplan muss akribisch überwacht werden