Mindelheimer Zeitung

Landstrich

- VON MICHAEL SCHREINER mls@augsburger-allgemeine.de

Es gibt viele Bezeichnun­gen für Lebensräum­e in Deutschlan­d. Man liest – diese Woche bei der Vorstellun­g des „Teilhabeat­las“beispielsw­eise – von Regionen und Bezirken, Landkreise­n und Umkreisen, Gegenden und Gebieten, Winkeln und Umgebungen. Touristen erobern auch gerne das sogenannte Hinterland. Das schönste, poetischst­e und offenste Wort aber, fern von amtlichen Einfriedun­gen und formalen Begrenzung­en, ist dies: Landstrich.

Der Landstrich ist eine nicht näher bestimmte, gefühlte Landschaft – eine Impression, über die weder Landräte noch Wahlkreisa­bgeordnete gebieten. Man kann sagen: Der Landstrich ist der Landstreic­her unter den Gebietsdef­initionen. Schwer zu fassen, in seinem Charakter individuel­l und also niemals verbindlic­h umrissen, diffundier­end zwischen Grenzstein­en und GPS-Koordinate­n, unvermesse­n, ein offenes Geheimnis und eine innere Landschaft. Beim Landstrich haben wir es mit einer Art Ballungsra­um der Vorstellun­gen und Empfindung­en zu tun. Jenseits des Urbanen entfalten sich die meisten Landstrich­e.

Für den Landstrich gibt es viele Adjektive, die ihn weniger auf der Landkarte fixieren, sondern vielmehr in einen kulturelle­n Kontext stellen. Nicht umsonst gibt es in Österreich eine Kulturzeit­schrift namens „Landstrich“. Und in der Literatur hinterläss­t der Landstrich andere Spuren als die Landschaft. „Landstrich­e voller Silber – noch ungehoben“, heißt es in einem Gedicht von Emily Dickinson. Und bei Wulf Kirsten lesen wir im Poem „vorübergef­ahren“diese Zeilen: „hineingewe­ht in den landstrich/ ein ortsschild in gelb, Eichbühl“.

Wir kennen den verlassene­n Landstrich, den entlegenen Landstrich, den reizvollen Landstrich, den gesegneten Landstrich, den unbekannte­n Landstrich. In der Reisebuchb­ranche ist der Landstrich deutlich beliebter als im Wirtschaft­sleben, wo man sich lieber an Kennzahlen (und Ländergren­zen) denn an Gefühle hält. „Chiemgau und Rupertiwin­kel: Ein zauberhaft­er Landstrich zwischen Rosenheim und Salzburg.“Der Landstrich ist immer ein Ausschnitt. Und er hat etwas Unverbindl­iches – wie eine gestrichel­te Linie.

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