Landstrich
Es gibt viele Bezeichnungen für Lebensräume in Deutschland. Man liest – diese Woche bei der Vorstellung des „Teilhabeatlas“beispielsweise – von Regionen und Bezirken, Landkreisen und Umkreisen, Gegenden und Gebieten, Winkeln und Umgebungen. Touristen erobern auch gerne das sogenannte Hinterland. Das schönste, poetischste und offenste Wort aber, fern von amtlichen Einfriedungen und formalen Begrenzungen, ist dies: Landstrich.
Der Landstrich ist eine nicht näher bestimmte, gefühlte Landschaft – eine Impression, über die weder Landräte noch Wahlkreisabgeordnete gebieten. Man kann sagen: Der Landstrich ist der Landstreicher unter den Gebietsdefinitionen. Schwer zu fassen, in seinem Charakter individuell und also niemals verbindlich umrissen, diffundierend zwischen Grenzsteinen und GPS-Koordinaten, unvermessen, ein offenes Geheimnis und eine innere Landschaft. Beim Landstrich haben wir es mit einer Art Ballungsraum der Vorstellungen und Empfindungen zu tun. Jenseits des Urbanen entfalten sich die meisten Landstriche.
Für den Landstrich gibt es viele Adjektive, die ihn weniger auf der Landkarte fixieren, sondern vielmehr in einen kulturellen Kontext stellen. Nicht umsonst gibt es in Österreich eine Kulturzeitschrift namens „Landstrich“. Und in der Literatur hinterlässt der Landstrich andere Spuren als die Landschaft. „Landstriche voller Silber – noch ungehoben“, heißt es in einem Gedicht von Emily Dickinson. Und bei Wulf Kirsten lesen wir im Poem „vorübergefahren“diese Zeilen: „hineingeweht in den landstrich/ ein ortsschild in gelb, Eichbühl“.
Wir kennen den verlassenen Landstrich, den entlegenen Landstrich, den reizvollen Landstrich, den gesegneten Landstrich, den unbekannten Landstrich. In der Reisebuchbranche ist der Landstrich deutlich beliebter als im Wirtschaftsleben, wo man sich lieber an Kennzahlen (und Ländergrenzen) denn an Gefühle hält. „Chiemgau und Rupertiwinkel: Ein zauberhafter Landstrich zwischen Rosenheim und Salzburg.“Der Landstrich ist immer ein Ausschnitt. Und er hat etwas Unverbindliches – wie eine gestrichelte Linie.