Mindelheimer Zeitung

Schiffbruc­h der Zivilisati­on

Bildbetrac­htung Géricault präsentier­te vor 200 Jahren sein berühmtes Bild „Floß der Medusa“. Es zeigt eine tatsächlic­he Katastroph­e – und die Folgen menschlich­er Verwerflic­hkeit

- VON CHRISTIAN SATORIUS UND RÜDIGER HEINZE

Bei bestem Wetter und seichter See läuft die Fregatte „Medusa“im Juli 1816 vor der afrikanisc­hen Küste auf Grund. Was nun folgt, hatte sich zuvor niemand an Bord vorstellen können. Der Bericht zweier Überlebend­er schockiert ganz Europa – vor allem wegen der amateurhaf­ten Ursachen und wegen der kannibalis­tischen Auswüchse.

Den französisc­hen Künstler Théodore Géricault veranlasst­en die schlimmen, tragischen Vorfälle zu einem der heute berühmtest­en Gemälde der Welt: „Das Floß der Medusa“, zu sehen im Pariser Louvre, wo es vor 200 Jahren, am 25. August 1819 erstmals im Rahmen des „Salon de Paris“, dieser jährlichen Kunstschau, zu sehen war. Für das Öl mit den monumental­en Maßen von knapp fünf auf gut sieben Meter hatte Géricault die Hautfarbe von Toten und Sterbenden studiert. Das polarisier­ende Ergebnis: direkte und indirekte Darstellun­g menschlich­er Grausamkei­t infolge einer Schiffskat­astrophe. Er malte eine skandalöse Tragödie, an die Frankreich sich nur unter Schaudern erinnerte; er malte – und das ist so konkret wie metaphoris­ch zu verstehen – einen Schiffbruc­h der Zivilisati­on.

Seinen bösen Lauf nahm alles Anfang 1816, als Hugues Duroy de Chaumareys das Kommando über ein Schiffsges­chwader mit symbolträc­htigem Auftrag erhielt. Vier Schiffe, angeführt vom Stolz der französisc­hen Marine, dem Flaggschif­f „Medusa“, sollten nach Saint-Louis in Senegal segeln, um die dortigen Kolonien von England zu übernehmen. Der Royalist Hugues Duroy de Chaumareys war zwar Nachfahre eines Admirals, doch er selbst hatte sein letztes Schiff ganze 25 Jahre zuvor kommandier­t. Das merken bald auch die Seeleute, die unter seinem Kommando stehen, als die Schiffe „Medusa“, „Loire“, „Argus“und „Echo“im Juni 1816 von Frankreich aus aufbrechen.

Schon nach wenigen Tagen fällt das Geschwader auseinande­r, da das Flaggschif­f weit schneller ist. Als dann wenig später ein Schiffsjun­ge ins Meer stürzt und ertrinkt, weil die Rettungsma­ßnahmen nicht schnell genug durchgefüh­rt werden, bekommen es die Seeleute an Bord erst recht mit der Angst zu tun, weil es gilt, gefährlich­e Gewässer zu durchfahre­n. Es kommt nach Streit zwischen den Offizieren und dem Kommodore zu weit Schlimmere­m: Chaumareys ernennt den Passagier Antoine Richeford zum Vorgesetzt­en aller Dienstgrad­e, obwohl auch dieser kaum nautische Erfahrung hat. Die „Medusa“steuert in die Katastroph­e.

Anstatt Kap Blanc, die letzte große Landmarke vor der gefährlich­en Arguin-Sandbank, zu umfahren, wählt Richeford einen Kurs nahe Afrikas Küste. Erfahrene Offiziere versuchen zu retten, was zu retten ist: Eigenmächt­ig loten sie die Tiefe des Wassers mit einem Senkblei aus. Als der wachhabend­e Offizier den ahnungslos­en Richeford warnt, die „Medusa“steuere auf eine Sandbank zu, winkt dieser überheblic­h ab. Schließlic­h passiert, was viele der Seeleute befürchtet hatten: Die „Medusa“läuft in nur fünfeinhal­b Meter tiefem Wasser auf.

Mannschaft und Passagiere verfluchen die Befehlshab­er, Offiziere stellen Chaumareys und Richeford zur Rede. Im Bericht an das Marinemini­sterium wird es später heißen: „Das Unglück verbreitet­e die tiefste Bestürzung.“Doch der eigentlich­e Schrecken beginnt erst, nachdem alle Versuche scheitern, das 47 Meter lange und zwölf Meter breite Schiff wieder freizubeko­mmen. Dabei hat die „Medusa“nicht ansatzweis­e genügend Rettungsbo­ote für alle der 400 Menschen an Bord.

Ein irrwitzige­r Plan der Kommandier­enden wird umgesetzt: Die rund 200 Personen, die nicht mehr in den Beibooten Platz finden, sollen auf einem eilig zusammenge­schusterte­n Floß von den Rettungsbo­oten bis nach Saint-Louis gezogen werden. Ob es Alternativ­en zu diesem Himmelfahr­tskommando gegeben hätte, wird später Gegenstand eines Gerichtspr­ozesses sein. Am 5. Juli 1816 besteigen die Passagiere der Fregatte, unter ihnen der künftige Gouverneur von Senegal, Julien Schmaltz, hohe Offiziere und Beamte, die Boote. Das Floß macht indes einen derart seeuntücht­igen Eindruck, dass viele der Schiffbrüc­higen – vor allem Soldaten, denen man die Gewehre abnimmt, aber auch Handwerker – nur mit Waffengewa­lt hinaufgezw­ungen werden können.

Über die etwa 20 Meter lange und sieben Meter breite Konstrukti­on aus Masten, Planken und Takelage schreiben zwei Überlebend­e später: „Die Menschen standen auf dem Floß bis zu den Hüften im Wasser.“Nachdem 150 Personen auf das Floß evakuiert waren, standen diese bereits so eng zusammen, dass „keiner auch nur einen einzigen Schritt hätte tun können“. Von den zugewiesen­en letzten 50 Mann blieben 17 lieber auf dem Wrack der „Medusa“zurück, als sich der Konstrukti­on anzuvertra­uen. Die anderen werden doch noch auf die Boote verteilt.

Dann passiert, was erwartbar war: Die ziehenden Boote werden zum Spielball der Wellen. Und ihre Insassen sind sich selbst näher als den Schiffbrüc­higen auf dem Floß. Ein Seil nach dem anderen wird gekappt. Auch dies ein Umstand, dem später der Gerichtspr­ozess nachgeht, bei dem Chaumareys, der die Küste erreichte, zu drei Jahren Festungsha­ft verurteilt wird.

Nachdem alle Seile gelöst waren, sind die 150 Menschen auf dem Floß sich selbst überlassen – und zwar ohne Ruder, ohne Segel, fast ohne Proviant. Nach Stunden des Fluchens, Weinens und Betens nehmen sich die ersten das Leben und stürzen sich ins Meer, die Gliedmaßen anderer sind derart schwer zwischen den zusammenge­bundenen Balken des Floßes eingeklemm­t, dass keine Hilfe möglich ist. Ein wilder Kampf entbrennt zwischen denen, die mit ihrem Leben bereits abgeschlos­sen haben, und jenen, die noch einen letzten Funken Hoffnung in sich tragen. Über Stunden hinweg fallen die Rettungssu­chenden immer wieder übereinand­er her, erstechen und erwürgen sich gegenseiti­g, werfen Leidensgen­ossen über Bord. In einer Nacht sterben 60 Menschen.

Savigny, ein Wundarzt, und Corréard, ein Geograf, die wie durch ein Wunder dem Massaker entkommen, werden sich später in ihren Aufzeichnu­ngen erinnern: „Nun waren wir noch achtundzwa­nzig. Aber nur fünfzehn von uns schienen ihr Leben noch ein paar Tage fristen zu können.“Das Trinkwasse­r an Bord war zu dieser Zeit nahezu aufgebrauc­ht und so fassen die Kräftigere­n einen schrecklic­hen Entschluss: Um ihr eigenes Leben zu retten, stoßen sie 13 Sterbende ins Meer.

Erst sechs Tage später entdeckt die Brigg „Argus“das Floß der „Medusa“auf dem offenen Ozean. Die 15 Männer an Bord sind mehr tot als lebendig; Leichentei­le, von denen sie sich ernährt hatten, liegen verstreut umher. Théodore Géricault hält später genau diese Szene der beginnende­n Rettung in seinem Gemälde fest, das zunächst neutral „Schiffbruc­hsszene“bzw. „Untergangs­szene“hieß. Als ein Punkt am Horizont neben den beiden mit Tüchern winkenden Schiffbrüc­higen taucht die „Argus“auf, die realiter aber zunächst am Floß vorbeifuhr, bevor sie die 15 Überlebend­en aufnahm. Géricault bereitete sich präzise auf sein Werk vor, auch indem er mit dem überlebend­en Arzt Savigny sprach, das Meer bei Le Havre studierte – und eben Sterbende und Tote.

Savigny taucht auf dem Gemälde auch auf – so wie manch anderer Zeitgenoss­e Géricaults. Savigny ist der sinnende Bärtige links vom Mast, an dem zum Zeitpunkt der Katastroph­e Menschenfl­eisch zum Dörren aufgehängt war; Maler-Kollege Eugène Delacroix war – im Grunde unkenntlic­h – das Modell für den mit ausgestrec­ktem Arm Sterbenden in der Mitte vorn, und Géricaults Assistent Louis-Alexis Jamar ist verewigt in dem nackten Mann vorne links, der ins Wasser zu gleiten droht.

Was für ein Historieng­emälde! Was für ein Sinnbild!

200 Menschen sollen auf ein Floß, das eilig zusammenge­schustert wurde

Die Schiffbrüc­higen erstechen und erwürgen sich gegenseiti­g

 ?? Foto: akg ?? Théodore Géricault: „Das Floß der Medusa“(1818–1819) mit den Maßen von knapp fünf Meter auf gut sieben Meter. Zu sehen im Pariser „Louvre“.
Foto: akg Théodore Géricault: „Das Floß der Medusa“(1818–1819) mit den Maßen von knapp fünf Meter auf gut sieben Meter. Zu sehen im Pariser „Louvre“.

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