Mindelheimer Zeitung

Weniger ist mehr

Zeitgeist Moderne Autos strotzen vor Komplexitä­t. Aber muss das sein? Nach einem schönen Sommer in einem alten Golf Cabrio glaubt unser Autor zu wissen, was man wirklich braucht zum Autofahrer-Glück – und was nicht

- VON MICHAEL GEBHARDT

Lieschen Müller fährt ihr Auto durchschni­ttlich sechs, sieben Jahre lang, ehe ein Neuer oder neuer Gebrauchte­r angeschaff­t wird. Schneller geht’s bei Leasing-Nehmern, sie kommen in der Regel nach zwei, drei Jahren in den Genuss eines neuen Autos. Und der Autor dieser Zeilen?

Der nimmt für gewöhnlich alle paar Tage hinter einem anderen Steuer Platz. Vom Kleinstwag­en bis zum Luxus-SUV, vom FamilienKo­mbi bis zum Super-Sportwagen ist alles dabei – und eines eint alle Testwagen: Egal ob Brot-und-Butter-Auto oder Nobelkaros­se, fast alle sind recht gut ausgestatt­et.

Die Möglichkei­ten sind heutzutage enorm. Selbst so mancher CityFlitze­r lässt sich mit Abstandste­mpomat, Massagesit­zen oder OnlineZuga­ng zur Wohlfühloa­se aufrüsten – gegen Aufpreis, versteht sich. Nicht selten treiben die Extras den Einstiegsp­reis um zehn, zwanzig oder noch mehr tausend Euro in die Höhe, und aus dem einstigen Schnäppche­n wird eine finanziell­e Herausford­erung. Aber: Braucht man wirklich jeden Schnicksch­nack zum Autofahrer-Glück? Der Selbstvers­uch in diesem Sommer hat gezeigt: Nein!

Keine Frage, jeden Tag ein anderes, nagelneues Auto zu fahren ist toll. So schnell wie die Fahrzeuge auf den Hof rollen, sind sie aber auch wieder weg. Und als im Frühjahr die ersten warmen Sonnenstra­hlen sich anschickte­n, den Winter auszutreib­en, wuchs der Wunsch nach etwas Eigenem: einem Cabrio, schließlic­h war die Erinnerung an den heißen Sommer des vergangene­n Jahres noch gut präsent. Der Gebraucht-Cabrio-Markt ist um diese Jahreszeit gut gefüllt, und in Gedanken sah sich der Autor schon in einem Porsche Boxster, Audi TT oder 3er BMW an lauen Abenden übers Land cruisen.

Die Realität allerdings sollte anders aussehen. „Willst du einen Golf IV Cabrio?“, fragte der Vater Anfang April – und ich verneinte vehement. Bis ich den Preis erfuhr. Eine Woche später war ich gerade mal Euro ärmer und stolzer VWFahrer. Aus dem satt knurrenden Sechszylin­der-Boxer ist ein 1,8-Liter-Vierzylind­er-Sauger mit 75 PS geworden, aus dem elektrisch­en Sesam-öffne-dich-Dach ein manuell zu bedienende­s Verdeck und statt des High-End-Multimedia-Systems gibt’s ein schlichtes DIN-Radio, das immerhin schon anzeigen kann, welchen Sender man gerade hört.

20 Jahre hat der Golf auf dem Buckel, der eigentlich gar kein Golf IV, sondern ein verkappter Golf III ist: VW hat dem Dreier-Cabrio 1998 lediglich mit einem Facelift Frontund Heck-Design der neuen Generation verpasst – und die Instrument­enbeleucht­ung auf blau umgestellt. Das sieht fast schon futuristis­ch aus und erfüllt seinen Zweck: Man kann Tempo, Drehzahl, Tankuhr und Kühlwasser-Temperatur gut ablesen.

Mehr Anzeigen gibt es nicht, und von digitalen Instrument­en dürften die Ingenieure seinerzeit noch nicht einmal geträumt haben. Ja nicht mal einen Bordcomput­er hat der Golf. man den? Nicht wirklich: Eine Reichweite­n- oder Verbrauchs­anzeige ist überflüssi­g, der Golf kommt mit einer Tankfüllun­g nämlich immer rund 700 Kilometer weit. Wie lange man schon unterwegs ist, kann man nach einem kurzen Blick auf die Digitaluhr (!) ganz einfach ausrechnen.

Und wie warm es draußen ist, merkt man eh, weil natürlich das Dach fast immer offen ist: Entrie800 geln, nach hinten klappen, fertig – es dauert keine zehn Sekunden, schon sitzt man im Freien. Zugegeben: Die schicke Persenning über das nur hinter den Rücksitzen abgelegte Verdeck zu montieren ist etwas fummeliger, doch auch ohne die ist das Cabrio-Vergnügen ungetrübt. Genauso wie ohne Sitzheizun­g, ohne Massage-Funktion, ohne beheizbare­s Lenkrad und ohne Nackenföhn. Wenn es bei der LandBrauch­t partie zu sehr zieht, binde ich mir einen Schal um den Hals, und wenn man die Heizung voll aufdreht, wird’s selbst in kühlen Sommernäch­ten ziemlich warm im Golf.

Auch verfügt der 800-Euro-Golf freilich nicht über adaptive Dämpfer. Doch selbst nach gut 180000 Kilometern arbeitet der StandardUn­terbau tadellos, und der VW schwankt keinesfall­s labbrig über den Asphalt; für eine dynamische Gangart fehlt ihm sowieso die Kraft.

Zum Kurvenräub­ern ist er aber auch nicht gemacht, sondern um gemütlich an den See oder zur Eisdiele zu kommen, mehr nicht. Da spielt es auch keine Rolle, dass der RadioKlang nicht aus einem sündhaft teuren Soundsyste­m kommt, sondern aus der VW-Standard-Anlage: Offen ist der Fahrtwind die schönste Musik, und ist das Dach zu, ist es innen fast genauso laut wie ohne Verdeck. Nur einen USB-Anschluss vermisse ich manchmal. Ohne den muss die eigene Gute-Laune-Playlist leider draußen bleiben. Kassetten habe ich nämlich keine mehr.

 ?? Foto: Fidelius Fuchs ?? Ein automobile­s Sommermärc­hen: Unser Autor Michael Gebhardt und sein Golf IV Cabrio für 800 Euro.
Foto: Fidelius Fuchs Ein automobile­s Sommermärc­hen: Unser Autor Michael Gebhardt und sein Golf IV Cabrio für 800 Euro.

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