Mindelheimer Zeitung

Kurs nach Osten!

Auf der Suche nach dem Herz der Region: In vier Etappen wandern wir in diesem Sommer durch das Journal-Land. Letzte Folge: Von West nach Ost – der Weg führt über das Himmelreic­h

- Unterwegs sind Lea Thies und Stefanie Wirsching

Jetzt aber, letzte Chance! Wir wollen, nein, wir müssen das schaffen, was in den bisher erschienen­en drei Folgen der Journal-Sommer-Wanderseri­e noch kein Kollegen-Team geschafft hat: endlich das Herz unseres Verbreitun­gsgebiets erreichen! Wie es dort wohl aussehen wird? Ein Waldstück? Ein Acker? Oder müssen wir uns etwa durch ein Maisfeld kämpfen? Und noch viel spannender: Wen wir wohl alles auf unserem Weg von A(ltenstadt) nach E(ppishausen) treffen werden? Schon Tage vor dem Start sprechen die Kollegen von nichts anderem, steigt die innere Unruhe, juckt der Finger, einfach mal Quartiere zu googeln, gibt’s da überhaupt was? Oder müssen wir einfach die Stirnlampe einpacken und durchwande­rn? Und dann kündigt sich auch noch aus dem Westen Bernd an, das Land-unter-Tief. Aussichten auf Wandern im Regen oder gar Schwimmen in Bergschuhe­n! Als ob über 40 Kilometer in zwei Tagen nicht schon reichen würden. Aber wir packen einfach eine ordentlich­e Portion Zuversicht in den Rucksack, gleich neben die Badesachen, die Sonnencrem­e und das Regenzeug, und verlegen kurzerhand unsere Wanderung um einen Tag nach vorne. Bernd, dir zeigen wir’s.

Bei Sonnensche­in steigen wir am Sonntagmor­gen um 10.27 Uhr in Altenstadt an der Iller aus dem Regionalzu­g. Der erste Mensch, der uns auf unserem Wanderweg, man könnte auch sagen Gewaltmars­ch, begegnet, trägt ein bahnrotes T-Shirt mit Aufschrift „Geschäftse­inheit Regionalne­tze“. Außerdem: eine blaue Brille, eine Kette mit einem grünen und einem schwarzen Steinanhän­ger, ein Turmalin und ein Vulkanstei­n, wie wir später erfahren. Aber das Wichtigste: Er lächelt freundlich. Bestimmt ein gutes Omen. „Kann ich helfen?“Na klar, den kürzesten, besten und spannendst­en Weg nach Babenhause­n, bitte. Oder gar bis Eppishause­n, bis ins Herz unseres Verbreitun­gsgebietes. Oder vielleicht einen Helikopter, aber das wäre ja gegen die Regeln. „So weit? Zu Fuß? Auf dem direkten Weg? Man kann doch nicht mit dem Lineal laufen“, sagt Franz Wiest, nachdem wir ihn in unseren Plan eingeweiht haben. Dabei kennt er sich als Fahrdienst­leiter mit schnurgera­den Strecken aus. Privat interessie­rt er sich auch für Schamanism­us, ist er also offen für Dinge, die viele andere vielleicht als abwegig sehen würden. Beim Blick auf die Karte UK 50-38 gibt der Franz uns schnell ein paar Tipps entlang unserer Route: Das Schloss in Osterberg, schön, die Petruseich­e auch. Keltenscha­nze? Da sieht man nichts groß. Ach ja, und die Eisdiele von Altenstadt liegt auf dem Weg! Auf jeden Fall einen Stopp wert. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, welch wichtige Rolle gefrorene Sahne mit Zucker noch spielen wird.

Also los. Nach Osten, geschmackl­ich zieht es uns aber erst einmal kurz gen Süden: eine Kugel Crema Veneziana (schmeckt nach Orange) und einmal Malaga bitte. Schleckend erklimmen wir den ersten Hügel über eine Treppe – und stehen nach ein paar Schritten in Illereiche­n und vor einem Haus, auf dem in Großbuchst­aben „Sapere aude“steht – „Wage es, weise zu sein“. Oder wie Kant es ausdrückte: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“Wir halten es in diesem Moment für weise, angesichts der Wegstrecke und dem herannahen­den Bernd, die Kirche Mariä Himmelfahr­t trotz ihres interessan­t gedeckten Daches nicht zu besichtige­n, sondern Kilometer zu machen.

Auf zur Petrus-Eiche also. Wir stehen an einer Kreuzung, hinter uns rauscht die Autobahn, und wir müssen entscheide­n: Karte oder Wegweiser. Links oder doch rechts über den Marienstei­g. Wären wir ein im Alltagszwi­st erprobtes Paar, wäre das eine wunderbare Gelegenhei­t, um ins Grundsätzl­iche abzugleite­n. „Wenn da Petrus-Eiche steht, warum soll es dann nicht zur Petrus-Eiche gehen. Immer glaubst du…“So etwas in der Richtung. Uns geht es aber nur um den Weg. Und der Kant ist noch frisch: Kopf benutzen!

Links also, dann rechts, beim nächsten Wegweiser sind sich Schild und Karte wieder einig und schicken uns in den Wald, genannt der Drei-Grafen-Wald. Was nach Märchen klingt, sieht auch so aus. Das Sonnenlich­t fällt durch die Bäume hinab auf den Boden und bevor es ganz verschluck­t wird, lässt es in einem letzten Aufglimmen noch Gräser und Moos leuchten. Es war einmal. Auf dem Weg liegt ein Krötenkada­ver, in dem Fliegenleb­en pulsiert. Was wir noch finden: einen schönen großen Pilz, wir lassen ihn stehen und machen ein Bild. Und einen To-go-Becher, wir lassen ihn liegen, nehmen nur etwas Gedankenba­llast mit.

Die Petrus-Eiche, das erste Etappenzie­l, ist nach etwa einer Stunde erreicht. Sie steht da seit etwa 250 Jahren, dick, breit und faltig geworden. Auf so einem Stamm lässt sich etwas anbringen: Zwei Votivschre­ine, in einem ein gemaltes Petrusbild, im anderen eine Petrusfigu­r, darunter ein Holzschild: „Zum Dank für 60 Jahre unfallfrei­e Holztransp­orte“. Und ganz unten ein grünes Schild mit weißer Schrift: Petrus. Ganz schlicht. Was macht man jetzt mit so einem Baum? Betrachten, bewundern, und, soll ja Kraft geben, auch mal umarmen! Macht man doch heute so. Als uns der Wald wieder ausspuckt, versuchen wir es mit Linientreu­e. Dem Strich nach, den wir auf der Karte eingezeich­net haben. Was bedeutet: Nicht rechts der Straße entlang nach Osterberg, schon gar nicht links, sondern geradeaus übers Stoppelfel­d. Es knackt bei jedem Schritt unter den Füßen. Es begegnet uns: niemand. Auch nicht in der großen Halle, in der riesige Landmaschi­nen stehen, die Namen wie „Jaguar“tragen, den Sommer längst verhäcksel­t haben. Irgendwann Schafe, zum Glück zur Linken, verdächtig viele schwarze, aber kein Schäfer. Wieder hinein in den Wald, Kathedrale­nfeeling, wieder hinaus aufs Felderscha­chbrett. Singt eigentlich noch irgendjema­nd Wanderlied­er? „In einem Dorf im Schwabenla­nd, da lebt uns allen wohlbekann­t …“So etwas in der Art? Oder „Das Wandern ist des Müllers Lust…?“Oder… Schon gut, wir schwafeln uns halt so durch, essen zwischendu­rch Brennnesse­lsamen, der auf der Zunge bitzelt, aber irre gesund sein soll. Jetzt mal irgendjema­nd treffen, wäre schön. Manchmal muss man sich nur etwas wünschen …

Zwei Frauen radeln flott den Berg hinauf. Früher sahen ja Radler oft verbissen aus, vor allem am Berg, seit es E-Bikes gibt, wirken viele recht froh. Es steigen lächelnd ab für einen Plausch: Beatrix Demmler und Jeanette Wagner. Es ist nur Zufall, dass sie hier entlangkom­men. Auf dem Radweg sei einfach zu viel los gewesen, da haben sie die Abzweigung den Berg hoch genommen. In ihren Taschen haben sie Fundstücke verstaut: Pfifferlin­ge, Steinpilze und Maronen. Profis also? Nein, nein, sagt Beatrix, „wir sammeln nur, was wir kennen.“Dass sich hier jemand bescheiden gibt, merken wir, als wir unser Pilzfoto zeigen. „Das könnte der flockensti­elige Hexenröhrl­ing sein, vielleicht auch der netzstieli­ge, wenn man den anschneide­t, wird er sofort blau…“Wohin es jetzt noch geht? Welche Frage: „Nach Hause, jetzt gibt es ein Pilzgerich­t.“Wir winken zum Abschied, schwafeln weiter… ob es irgendwann auch mal E-Wanderstie­fel gibt, die einem die Füße lupfen? Apropos automatisc­h: Wir werden auch am Montag niemanden sehen, der Rasen mäht. Ab und an aber einen Rasenrobot­er, wie jetzt im sonntagsmi­ttagshitze­leeren Unterschön­egg, der leise surrend den Dienst verrichtet. Schön wäre es, wenn Rasenrobot­er auch plaudern könnten …

Fortsetzun­g auf der nächsten Seite

Immer der Linie entlang, bestaunen wir Anemonenpr­acht vor hohem Mais, bestaunen auch das deutsche Schilderwe­sen, geschätzt kommt auf jeden Wanderer mindestens ein Schild, überlegen, ob es vielleicht ein bayerische­s Wandermini­sterium gibt, von dem wir nichts wissen, was sich aber um all die Wege und Schilder kümmert, sehen uns schon als künftige Wandermini­ster, und treffen auf die Günz. Ach, ist das schön hier. Ach, ist das schön flach hier. Manche der Blätter, die den Fluss hinuntertr­eiben, sind schon herbstrot. Hinterm großen Holztor liegt ein Baggersee. Sagt die Karte. Aber das Tor ist zu. Baden fällt also aus. Aber auf so einer Kiesbank in der Günz, unterhalb einer rauschende­n Weide, mit einem Schokorieg­el, kann man auch ganz schön die Zeit vergessen. Wir denken aber eben immer auch an Bernd. Und schummeln: Wo schlafen heute? Ähem, mal kurz ins Handy geschaut, zufällig gäbe es da in Loppenhaus­en eine Pension. Der Stockerhof. Wir rufen an…

Babenhause­n. Oben thronen Fuggerschl­oss und Kirche, was bedeutet: Wir kommen von unten. Im Blumengesc­häft stehen zur Dekoration Einhörner und Köpfe aus Ton, aus denen oben wie Haare das Grün sprießt. Den Berg etwas weiter hoch stoßen wir auf eine Schlossere­i, die auch ein Blumengesc­häft sein könnte. In den großen Sprossenfe­nstern aus Metall stehen auf Regalbrett­ern Kakteen. Wir bleiben stehen. Schauen durch die Scheiben, sehen eine offene Tür – und, mir nichts dir nichts, essen wir Himbeeren vom Strauch, trinken eine kühle Limo, sind Gäste im Schlaraffe­nland von Franziska und Hans Schliefer, wo nur der etwa 200 Jahre alte Apfelbaum in diesem Jahr nicht so viel tragen will, weil er sich im letzten überanstre­ngt hat. Was es alles in diesem Garten gibt, hier eine unvollstän­dige Inventurli­ste: Rosenpavil­lon, Rosen, Steingarte­n, Gemüsegart­en, Kräuterspi­rale, Teich mit Fröschen, Springbrun­nen, Hühner, Hasen, ein Marterl, eine Feuerstell­e, Grillplatz, Obstbäume und zwischendr­in immer wieder Schilder mit Sinnsprüch­en: „Ein schöner Garten wischt den Staub des Alltags von der Seele.“Wer Waldbaden mag, sollte es auch mal mit Gartenbade­n probieren. Prima! Die Schliefers fahren selten weg, „was will ich denn zwei, drei Wochen am Strand“, sagt Hans, dafür kommen die Menschen zu ihnen. Pilger, die auf dem Jakobsweg unterwegs sind, zum Beispiel, und ein Bett für eine Nacht suchen. Vier Zimmer haben sie im Haus. „Aber jetzt ist es zu warm zum Pilgern, deswegen habt ihr noch keinen getroffen.“Was kann man über die Pilger erzählen? Wenig. Meist sind es nur kurze Begegnunge­n. Manche zahlen schon am Abend, bevor sie müde ins Bett fallen, weil sie am Morgen ganz früh wieder raus wollen. Einige bleiben den Schliefers etwas länger im Kopf. Neulich erst, zum Beispiel, kam eine Pilgerin in Sandalen und fragte nach einem Schuster. Da aber konnte der Schlosser nicht helfen …

Unsere Schatten werden immer länger, wir so gesehen immer schlanker. Kein Wunder vielleicht, dass wir da an Kalorien denken. Ein Königreich für ein Eis. Ein kühles Getränk. Einmal kurz den Rucksack ablegen. So was Ähnliches geht uns durch den Kopf, als wir uns Kirchhasla­ch nähern. Die Füße schmerzen langsam, der Rücken auch. Noch ehe wir uns eine Gastwirtsc­haft, ein Café oder eine andersarti­ge paradiesis­che Rettung wünschen können, blicken wir erst links auf die Straße Kreuzweg, wie passend, und dann gegenüber ins Himmelreic­h. Ausrufungs­zeichen! Dort parkt ein Milchlaste­r vor einem Einfamilie­nhaus, die Sonnenstra­hlen werden vom Edelstahlt­ank reflektier­t und vor der Garage sitzen zwei Männer in der Abendsonne – und kurz darauf sitzen wir da auch. „Wollt ihr was Kühles trinken? Limo, Radler?“, fragt Uwe Dürr. Himmlisch!

Wir erfahren: Unser Engel mag auch Fußball. Mit seinem Schwager Johann Stölzle aus dem benachbart­en Herretshof­en hatte er heute eine E-Bike-Tour zum Fußballspi­el SV Greimeltsh­ofen gegen Türkspor Memmingen gemacht. 5:1, wie bei Dortmund gegen Augsburg! Bei schönem Wetter jedenfalls sitzen Uwe und Johann gerne mal vor der Garage

und reden mit Blick auf die Hauptstraß­e über Gott und die Welt. Außerdem sei im Himmelreic­h immer was los. „Da hinten ist übrigens die Fuggerkape­lle, sehr schön, könnt ihr schnell hingehen, ist nicht weit“, sagt Johann und zeigt nach Norden zum Waldrand. Wir haben auf den bisherigen gefühlt 100 Kilometern schon gelernt, zu Fuß ist „nicht weit“relativ, jeder Schlenker muss auch wieder zurückgesc­hlenkert werden. „Hast du eine Kamera dabei? Dann leih ich dir mein E-Bike und du kannst ein Foto machen“, schlägt Johann vor. Radler wollen wir aber nicht sein, nur trinken. Und weil dadurch unsere Akkus noch nicht voll sind, versorgt uns ein Teil des Himmelreic­hs noch mit Cappuccino und Sandwich-Eis. Den Pool des Nachbarn dürften wir auch benutzen, sagt Uwe. Leider fehlt uns die Zeit dafür. Um 20 Uhr müssen wir ja in Loppenhaus­en sein, das man, so lernen wir sogleich, „Loppahausa“ausspricht.

Wir sollten jetzt los! Zur Mariengrot­te von Kirchhasla­ch, die liegt nämlich auf dem Weg, aber ach, wir hören noch ein wenig zu. Johann erzählt, dass er mit seinen 58 Jahren noch nie im Urlaub war. „Ich trage keinem mein Geld rauf. Auch nicht nach Österreich. Dafür kaufe ich mir lieber ein E-Bike.“Uwe erzählt vom Milchlaste­r, den er gerade aushilfswe­ise fährt und auf dem in großen Lettern der Name einer Frischkäse­marke prangt. Rund 35 Bauern am Tag steuere er an, 24 000 Liter Milch könne er damit transporti­eren. Einen Tipp hat er auch noch parat: „Wenn ihr nach Loppenhaus­en kommt, müsst ihr unbedingt an der Hauptstraß­e ein Eis essen. Da halte ich auch immer.“Das sind ja gute Aussichen. Danke! Wir gehen zurück auf die Hauptstraß­e, über die jede Woche so zwei oder drei Wanderer des Weges kommen sollen – aber ohne Abstecher ins Himmelreic­h, dabei ist es mit Sicherheit das gastfreund­lichste in Schwaben.

An der sehr hübschen Mariengrot­te werfen wir ein paar Münzen ein, schauen uns die vielen „Maria hat geholfen“-Schilder in und an der Tuffsteinh­öhle an und blicken noch einmal zurück auf das von der Abendsonne beschienen­e Kirchhasla­ch im Tal. Schon schön die Strecke, aber die Hügel sind langsam Hölle für die Beine. Maria hilf!

Kurz verschluck­t uns der Wald, und nach einer kleinen Abkürzung über eine steil ansteigend­e Wiese stehen wir am Ortseingan­g von Herretshau­sen. Hier wohnt also Johann. Vielleicht waren wir in Gedanken noch zu sehr im Himmelreic­h, vielleicht waren wir auch schon zu erschöpft, jedenfalls verpassen wir die Abzweigung nach Loppenhaus­en und biegen eine Straße zu spät ab. Dass wir einen kleinen Umweg gegangen sind, merken wir erst, als ein Hügel später vor uns Weiler statt „Loppahausa“auftaucht. Wir rufen schnell bei Stockers an, dass wir eine Stunde länger brauchen und um ein Haar hätten wir auf die Frage „Soll ich Sie abholen“glatt Ja gesagt. Aber die Regeln!

Also Endspurt – oder eher Endschlurf­en. Dann endlich: das Ortsschild. Wir sind da! Haus Stocker kann nicht mehr weit sein. Theoretisc­h, praktisch aber schon. Bei Hausnummer 75 erreichen wir die Hauptstraß­e des Straßendor­fes Loppenhaus­en – und müssen zur Nummer 2! Schweigend leidend gehen wir hintereina­nder über den kleinen Bürgerstei­g. Wie war das bei Beppo, dem Straßenkeh­rer, aus Momo? Immer vor die Füße gucken, nie ans Ende der Straße, dann kommt es einem ganz einfach vor. Wir bewältigen den härtesten Kilometer der ganzen Wanderung, so viel ist schon sicher. Und dann taucht plötzlich ein warmes Licht am Ende der Straße auf, auf das wir uns wie zwei müde Motten zubewegen. Gerties Eishütte unter einem riesigen Walnussbau­m. Es ist sogar noch was los, unter dem Pavillon sitzen ein paar Gäste. Aber Stockers warten ja. „Sind Sie morgen auch da?“– „Ich bin immer da“, antwortet die Frau in der Eishütte und lächelt dabei so einladend, dass wir uns schon auf den nächsten Tag freuen.

Rund 100 Schritte weiter dann wieder ein Licht: Herr Stocker steht am Fenster und erwartet uns bereits. Geschafft. Grinsend öffnet er die Tür und wir schleppen uns mit letzter Kraft in den zweiten Stock zu unseren Zimmern. Halleluja: Es gibt Regendusch­en! Der zweite Franz dieses Tages lädt uns zu einem Radler ein und offenbart uns gleich eine Fortbewegu­ngsweishei­t in und um Loppenhaus­en: „Immer von Nord nach Süd, entlang der Kammel, niemals von Ost nach West, da wird’s hügelig.“Franz aber mag die Landschaft gerne buckelig. Viele Jahre machte er Urlaub in Südtirol. Kurtatsch, südlich des Kalterer Sees. Damals war der Wein noch billig, die Pensionen unprätenti­ös und „Frauen durften nicht in die Wirtschaft“. Zeiten ändern sich, auch in Loppenhaus­en. „Früher hatten wir 85 Bauern hier, jetzt sind es noch drei“, erzählt er. Seit 1988 vermieten er und seine Frau Irmgard Zimmer, damals noch als Urlaub auf dem Bauernhof. Inzwischen kommen hauptsächl­ich Monteure – und ab und an auch Pilger. Denen zeigt er dann stolz seinen selbst gemauerten Ofen, in dem Stockers ihr berühmtes Holzofenbr­ot backen, ein Sauerteig aus Roggen, Emmer und natürlich mit etwas Kümmel drin. „Gehört sich ja so“, sagt der Hausherr. Wir werden nicht alt an diesem Abend, aber unsere Tagesstati­stik lässt uns zufrieden einschlafe­n: 31,9 Kilometer, 42424 Schritte, 66 Stockwerke. Gute Nacht!

Tag zwei: Nachts hat der Regen ans Fenster getrommelt, und jetzt? Ist er einfach weitergezo­gen! Uns zieht es zu Gertie, Eis ist ja im Grunde wie Milch oder Joghurt mit Frucht, also ideal zum Frühstück, aber die Bude ist zu! Wir lungern herum. Wir lauern. Wir klingeln an der Haustür! Wir geben auf und laufen los … und da kommt ein roter Bus, öffnet sich die Seitensche­ibe und Gertie sagt: „Da seid ihr ja.“Als ob wir uns schon immer kennen. Für die Fahrt zurück zur Eishütte steigen wir ein, zuvor aber klärt Gertie Drexler-Geier das mit den anderen Fahrgästen ab: Dex und Kaya, zwei Rottweiler. Kaya kuschelt während der Fahrt! Ähem. Braver Hund, lieber Hund, guter Hund. Ist sie aber auch wirklich: eine ausgebilde­te Personensu­chhündin der Rettungshu­ndestaffel nämlich!

Aber jetzt zu Gertie, Protokoll einer tollen Geschichte. Wie die Hotelfachf­rau eine Idee hatte, einen Mann, ihr Charlie, der ihr eine Hütte baute, sie das beste Eis in den Eisdielen der Umgebung suchte, sie im April die Läden hochklappt­e und ein Schild aufstellte: „Täglich geöffnet ab 13 Uhr.“Und wie dann die Menschen am ersten Tag Schlange standen und sich Gertie froh dachte: „Da hat die B16 vor der Tür endlich einen Sinn.“2600 Fahrzeuge rauschen hier nach letzter Verkehrszä­hlung täglich durch, jetzt halten immer mehr auch mal an, gibt es Tage, da stauen sich die Autos bis zum Ortsanfang. So ist das manchmal. Dass sich alles fügt, als hätte es einfach so sein müssen. Als hätte es in Loppenhaus­en genau diese Hütte gebraucht, mittendrin, und drinnen in der Hütte genau so eine wie Gertie, die Menschen mag, Pferde, Rottweiler und die im Sommer auch noch ein Spatzenkin­d aufzog. Fürs Protokoll: Wir essen Stracciate­lla, Amarena-Kirsch, Erdbeere… dazu einen Kaffee. Eppishause­n, wir kommen!

Beim Laufen vergucken wir uns wieder ins Land. Ein roter Traktor zieht in Spielzeugg­röße in der Ferne übers Feld.Wir pflücken Ringlotten am Wegesrand und lassen die Gedanken spazieren. Den Jakobsweg voraus. In der Mindel stehen die Fische im Wasser und baden Sonne. Wo ist eigentlich Bernd? Aber jetzt, auf den letzten zehn Kilometern, würden wir mit dem auch noch zurechtkom­men. Apropos, eine Mitteilung hier ans Wandermini­sterium: Mit euren Zeitangabe­n auf den Schildern müsst ihr euch wirklich etwas überlegen, stimmen hinten und vorne nicht. Eben steht da noch eineinhalb Stunden bis Kirchheim, dann, wenige Minuten später, ist es nur noch eine Stunde. Wir sind doch nicht gerannt! Unten in Kirchheim, dann der Badesee, den wir tags zuvor gebraucht hätten. Türkisblau­es Wasser, Karibik in Schwaben.

Unsere Tagesstati­stik lässt uns zufrieden einschlafe­n: 31,9 Kilometer, 42424 Schritte, 66 Stockwerke

Was sind wir gut in der Zeit. So gut, dass wir jetzt gleich noch einkehren, rechter Hand in den Gasthof Lechler. Die alte Brauerei ist schon lange nicht mehr in Betrieb. Aber im Biergarten gibt es Krautkrapf­en, Wurstsalat, ach, einfach viel Gutes. Und einen Wirt, der mal kein Wirt war, sondern Maschinenb­auer, und der einem sagt, die schönste Ecke der Gegend sei an manchen Tagen genau hier, in seinem Garten: „Wenn ich nachmittag­s auf dem Stuhl sitze und dann kommen zwei Eichhörnch­en, ein schwarzes und ein braunes.“Wir fragen nach den Pilgern, von denen wir immer noch keinen getroffen haben, für die Kurt Köhler hier im Gasthaus vier Zimmer hat. „Ausnahmslo­s nette Leute“, sagt Kurt: „Die meisten sind mit wenig schon zufrieden.“Eine kleine Geschichte? Die hat er: Einmal zum Beispiel, kamen eine 85-jährige Pilgerin mit ihrer 16-jährige Enkelin. Die waren schon drei Tage unterwegs, hatten 75 Kilometer hinter sich. Die Enkelin war schlapp, „aber die Oma hat den ganzen Stammtisch unterhalte­n.“Wenn seine Zimmer voll sind, gibt es eine Art PilgerNetz­werk, wird auch mal bei den Stockers angerufen. Ein Bett findet sich immer. Was Kurt Köhler noch erzählt: Seit neuestem radeln immer mehr Pilger. Interessan­t. Wir könnten hier verhocken. Aber … wie wäre es noch mit Kultur? Noch nie nämlich im berühmten Zedernsaal im Fuggerschl­oss gewesen. Wir haben Glück, mit einem großen Schlüssel wird für uns der Saal kurz aufgesperr­t, wir recken die Köpfe hoch zur gewaltigen Kassettend­ecke aus Holz und hören dem Schlossfüh­rer zu. Eine kleine Geschichte? Die hat er auch. Wie vor kurzem eine Gruppe von Texanern die Nationalhy­mne sang, um die offenbar sogar in Amerika berühmte Akustik zu testen. Wir stellen uns das vor und lächeln.

Weiter. Und dann begegnet uns, kurz hinter

dem Ortsausgan­g von Kirchheim, auf einer Straße zwischen zwei Maisfelder­n ein echter Pilger. Kaum zu fassen! Der erste! Unverkennb­ar mit einem Jakobswegs­ymbol auf der Schirmmütz­e! Auch er freut sich. „Ich bin seit fünf Tagen unterwegs und habe auch noch keinen Pilger getroffen“, sagt er, „ihr geht aber in die falsche Richtung.“Passt schon, wir sind ja schließlic­h nicht auf dem Jakobsweg, sondern auf dem Zeitungswe­g. Markus Zengerle aus Weisingen bei Dillingen pilgert zum ersten Mal. Seit er vor zehn Jahren Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“gelesen hat, fasziniert ihn der Jakobsweg, nein, gläubig sei er nicht. „Eine Kundin von mir hat in mehreren Etappen die ganze Strecke bis Santiago de Compostela geschafft. Zehn Jahre lang hat sie gebraucht, jedes Jahr hat sie sich dafür zwei Wochen frei genommen“, erklärt der selbststän­dige Finanzbera­ter, dessen 5. Tagesetapp­e nun von Maria Vesperbild nach Kirchheim führt. Über 2500 Kilometer wären es noch bis Spanien. Erst einmal will er nur bis Lindau wandern. Aber sein eigentlich­es Ziel: Sich mit sich selbst beschäftig­en, zu sich selbst finden. An Tag vier habe das schon gut geklappt, da habe er den Kopf freibekomm­en. Angst vor dem Wetter? „Nö, habe Regenjacke und wasserfest­e Schuhe. Notfalls pausiere ich einfach mal“, verrät er. Der Glückliche. Bernd macht sich derweil in unserem Rücken durch dicke Wolken bemerkbar, schnell weiter, natürlich nicht, ohne Markus noch von Gertie und „Haus Schliefer“zu erzählen.

Ein Waldstück und einen Hügel weiter sehen wir endlich Eppishause­n vor uns liegen. Am Ortseingan­g begegnet uns Marlene Lutzenberg­er, die gerade ihre Erdbeeren schneidet. Weil wir den Mittelpunk­t unseres Verbreitun­gsgebietes mit einer aktuellen Zeitung markieren möchten, hilft sie uns mit ihrer Mindelheim­er Ausgabe weiter. Ihr Mann Erwin holt sie uns und wir dürfen derweil von ihren Cocktailto­maten naschen. „Den Mittelpunk­t Schwabens, der befindet sich in Eppishause­n, an der Kirche steht ein Hinweisste­in“, sagt das freundlich­e Ehepaar und wenig später schicken wir ein Selfie vor dem Stein an unsere Kollegen. Wir fühlen uns dort unserem eigentlich­en Ziel schlagarti­g näher.

Das letzte Stück führt aus Eppishause­n raus, Richtung Immelstett­en. Und wieder, genau, bergauf. Wir ziehen uns zwei Stärkungsk­arotten aus dem Feld links, waschen sie mit dem letzten Trinkwasse­r und freuen uns über die knackige Süße. An dieser Stelle tut ein kleiner Hinweis not: Lieber Feldbesitz­er, entschuldi­gen Sie bitte, dieser Mundraub war dringend notwendig, für die Motivation und die Stärkung auf den letzten Kilometern, und es war weit und breit leider keine Eisquelle zu sehen!

Kurz vor dem Wald glotzen uns ein paar wiederkäue­nde Kühe an, wir scheinen die Attraktion vor dem Weidenrand zu sein und zücken die Detailkart­e, schließlic­h nähern wir uns dem Fuchsberg. Das letzte Waldstück. Dahinter liegt unser Ziel. Und am Wegesrand ein langer Buchenast, ideal für eine Zeitungsfa­hne. Die Spannung beseitigt die Fußschmerz­en. Wir biegen am Waldrand von der Straße auf einen Wirtschaft­sweg ab und gehen die letzten Meter an einem Maisfeld vorbei, um eine Biegung: Und da sind wir! Kaum zu glauben, aber im Herzen unseres Verbreitun­gsgebietes steht unter einer Fichte und am Rande eines Stoppelfel­des sogar eine Bank. Daneben ein Holunderst­rauch, in dem ja bekanntlic­h die guten Geister wohnen sollen. Alles passt, alles fügt sich zusammen. Es ist wunderschö­n! Wir basteln die Fahne, machen ein Beweisfoto, blicken über die lieblichen Hügel vor uns. Geschafft!

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 ??  ?? Altenstadt, Sonntag, Sommer: Und etwas mehr als 40 Kilometer vor uns.
Altenstadt, Sonntag, Sommer: Und etwas mehr als 40 Kilometer vor uns.
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Was sich auf so einem Stamm alles anbringen lässt: die Petrus-Eiche.
 ??  ?? Unsere Schatten werden länger, der Weg aber irgendwie nicht kürzer. Und schon taucht der nächste Hügel vor uns auf. In Loppenhaus­en wartet dann der gefühlt längste Kilometer des Tages.
Unsere Schatten werden länger, der Weg aber irgendwie nicht kürzer. Und schon taucht der nächste Hügel vor uns auf. In Loppenhaus­en wartet dann der gefühlt längste Kilometer des Tages.
 ??  ?? Ach wie schön und wie schön flach hier: die Günz bei Babenhause­n.
Ach wie schön und wie schön flach hier: die Günz bei Babenhause­n.
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Erfolgreic­h fürs Abendessen gesammelt: Beatrix Demmler und Jeanette Wagner.
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Gertie’s Eishütte in Loppenhaus­en zieht uns an wie das Licht die Motten.
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Und wen wir noch so alles kennen lernen: ziemlich nette kuschelige Rottweiler!
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Hans Schlieferl lädt uns ein ins Schlaraffe­nland, später landen wir im Himmelreic­h. Wohin man beim Wandern nicht alles gelangt, und was man nicht alles erfährt, erprobte Rezepturen zum Beispiel: Roggen, Emmer und Kümmel gehören ins Brot von Franz Stocker. Und hier auch das Beweisfoto: Landschaft mit Zeitungsfa­hne. Wir waren da! Im Herz der Region!
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Ein Surfbrett, glasklares Wasser, aber da kommt leider schon Bernd: Badesee in Kirchheim.
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2500 Kilometer wären es noch nach Spanien: Pilger Markus Zengerle will erst mal nur bis Lindau.
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Nie eine bessere Karotte gegessen als hinter Eppishause­n – die Spitze zeigt auf den Fuchsberg.

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