Mindelheimer Zeitung

War der Mega-Betrug gar keine Straftat?

Cum-Ex Finanzjong­leure haben den Fiskus geprellt. Ob sie bestraft werden, ist noch offen

- VON MICHAEL STIFTER

Bonn Sie haben ein ebenso raffiniert­es wie dreistes Betrugssys­tem entwickelt. Sie haben alleine den deutschen Staat um 31,8 Milliarden Euro geprellt. Mit diesem Geld hätte man mindestens vier Mal den Berliner Großflugha­fen bauen können. Hätte. Denn in Wahrheit sickerte das Geld durch ein Geflecht aus Wertpapier­geschäften in die Taschen gieriger Spekulante­n. Und jetzt kommt die zynische Pointe dieser Gangsterst­ory: Die Justiz muss erst einmal klären, ob der größte Steuerraub in der Geschichte Europas überhaupt illegal war. Seit Mittwoch stehen zwei Männer in Bonn vor Gericht. Ihnen drohen bis zu zehn Jahre Gefängnis. Die früheren Aktienhänd­ler sind die Ersten, die im sogenannte­n „Cum-Ex-Skandal“zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Die mafiösen Geschäfte, die den beiden Briten vorgeworfe­n werden, sind extrem komplizier­t – und das war genau der Sinn der Sache. Im Zentrum stehen Gewinne, die börsennoti­erte Unternehme­n einmal pro Jahr an ihre Aktionäre ausschütte­n. Diese Erträge heißen Dividenden – und müssen versteuert werden. Über die bezahlte Kapitalert­ragsteuer bekommen Anleger eine Art Quittung von der Bank. Wer viel an der Börse investiert, macht aber naturgemäß nicht nur Gewinne, sondern auch Verluste. Diese kann man unter dem Strich mit den Gewinnen verrechnen – und bekommt dann für zu viel bezahlte Steuern eine Erstattung vom Staat. So weit, so einfach, so legal.

Kriminell wird es erst, als Finanzjong­leure eine Gesetzeslü­cke nutzen und Aktien wie auf einem Karussell so schnell hin und her verkaufen, dass am Ende keiner mehr nachvollzi­ehen kann, wem die Papiere an jenem Tag gehörten, als die Dividenden ausgeschüt­tet wurden. Das Ergebnis: Fälschlich­erweise bekommt nicht nur der tatsächlic­he Aktienbesi­tzer eine Bescheinig­ung über die ordnungsge­mäß entrichtet­e Kapitalert­ragsteuer, sondern auch viele andere Investoren. Sie lassen sich also Steuern zurückerst­atten, die sie in Wahrheit nie bezahlt haben. Die Lizenz zum Gelddrucke­n.

In ganz Europa werden die Finanzbehö­rden so bis Ende 2011 um mehr als 55 Milliarden Euro betrogen. Die beiden Männer, die unter anderem für die Hypoverein­sbank gearbeitet haben und denen nun der Prozess gemacht wird, haben mit 447 Millionen Euro nur einen Bruchteil dieses Schadens angerichte­t. Dass ihr Fall so großes Aufsehen erregt, liegt daran, dass sie als Kronzeugen Licht in das düstere Gebaren bringen und andere mögliche Täter belasten wollen. Damit könnten sie die schwierige juristisch­e Aufarbeitu­ng des Megabetrug­s ins Rollen bringen. Der Ausgang des Verfahrens gilt als wegweisend für hunderte andere Beschuldig­te.

Das Gericht will bis Januar die Frage beantworte­n, ob die Geschäfte auf Kosten des Steuerzahl­ers „nur“dreist oder tatsächlic­h Straftaten waren. Dabei geht es auch um die Rolle der Banken. Die Branche zittert. Denn der Staat will sich die ergaunerte­n Milliarden von beteiligte­n Instituten zurückhole­n.

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