Mindelheimer Zeitung

Schlaf gut, Ludwig

Porträt Auf den Tag genau vor 150 Jahren wurde der Grundstein für Schloss Neuschwans­tein gelegt. Nachtwächt­er Horst Zimmermann hütet das berühmtest­e Erbe des Märchenkön­igs. Wenn es dunkel wird, beginnt seine Zeit. Die Geschichte eines fasziniere­nden Kontr

- VON ANDREAS FREI

Schwangau Rumms! Horst Zimmermann hat gerade Tür Nummer eins ins Schloss fallen lassen, da haut er schon den ersten Spruch raus: „Der Ludwig und ich, wir sind das Dream-Team.“

Das kann ja heiter werden. Es wird heiter, so ernst die ganze Sache hier auch ist.

Nicht falsch verstehen: Horst Zimmermann ist kein Königstreu­er, kein Schwärmer, schon gar kein verträumte­r Sonderling. Der Baum von einem Mann bewacht das berühmtest­e Erbe des Märchenkön­igs so, wie man es von einem erfahrenen Sicherheit­sprofi erwarten darf. Zuverlässi­g, aufmerksam, penibel. Da versteht er keinen Spaß. Nebenbei jedoch sehr wohl.

Das mit dem Dream-Team muss man so verstehen: Nichts war König Ludwig II. wichtiger als die Abgeschied­enheit auf Schloss Neuschwans­tein, dessen Grundstein auf den Tag genau vor 150 Jahren gelegt wurde. Irgendwann fand er die Ruhe nur noch in der Dunkelheit. Fortan arbeitete er nachts durch, bis acht in der Früh.

Horst Zimmermann, 60, aus Füssen, Angestellt­er des weltweit tätigen Sicherheit­skonzerns Dussmann, ist auch so ein Ruhesuchen­der. Sagt er jedenfalls. Seit dem Jahr 2000 arbeitet er im Schloss, seit vier Jahren macht er nur noch die Nachtschic­ht. Insgesamt sind sie zu viert.

Einst nannte man solche Leute Nachtwächt­er. Neudeutsch heißt das Security. Zimmermann fängt abends um acht an – und hört, wie einst Ludwig, morgens um acht auf.

Freunde des Mystischen werden jetzt kombiniere­n: Uiihh, diese Gemeinsamk­eiten, und dass da jede Nacht die Aura, das Erbe, ja der Geist des einen auf die stattliche Präsenz des anderen treffe. Zimmermann sieht die Parallelen mit Humor. Dream-Team eben.

An diesem Tag waren natürlich wieder die Touristenm­assen im Haus, jetzt im Sommer sind es meist um die 6000. Führungen im Fünfminute­ntakt: Wohnräume, Thronund Sängersaal, Grotte und Küche, Sprachenge­wirr, nach einer halben Stunde: vielen Dank und auf Wiedersehe­n; ach ja, der Souvenir-Shop noch – so kennen Besucher Bayerns gefragtest­e Sehenswürd­igkeit.

Horst Zimmermann kennt ein anderes Neuschwans­tein.

Kurz nach 20 Uhr. Draußen dämmert es, als Tür Nummer eins erledigt ist und der Sicherheit­smann seine erste Tour startet. Bis zum Morgen wird er noch mehrmals die Runde machen, immer eine andere Route, nie zur selben Zeit wie am Vortag, aber immer vom Keller bis zum Dachboden, 286 Stufen, auch Winkel, die kein Tourist je zu Gesicht bekommen wird. Einmal ganz durch – das heißt was auf Neuschwans­tein.

Auf Rundgang Nummer eins kontrollie­rt er Fenster und Türen, überprüft technische Anlagen und dass die Räume menschenle­er sind; was gerade umso wichtiger ist, wo das Schloss generalsan­iert wird und viele Restaurato­ren und Handwerker im Haus sind. Ungebetene Gäste hat er auch schon erwischt, vor sechs Jahren mal. Ein russisches Paar war im Ritterbau hängen geblieben, absichtlic­h oder versehentl­ich, „na ja“, erzählt Zimmermann, „das Ganze war am Ende harmlos“. Jenseits der Mauern hat er auch schon ein Pärchen beim Liebesspie­l aufgespürt. Den Augen dieses Mannes entgeht nichts.

Schon im Keller peilt Zimmermann die ersten Stechstell­en an. Das sind kleine Markierung­en an Türrahmen, an die er ein handygroße­s Gerät hält. Es macht „Piep“und registrier­t per Infrarot, dass Zimmermann genau zu dieser Zeit diesen Ort überprüft hat. Das ist wichtig für die Dokumentat­ion. Dazu: einmal Tür aufsperren, reinschaue­n, hier checken, da checken, Tür zu. So geht es von Stechstell­e zu Stechstell­e, vorbei an Regalen und Baumateria­l, durch hell erleuchtet­e Gänge wie dunkle Gewölbe, in denen Zimmermann seine Taschenlam­pe anknipsen muss.

Es dauert nicht lang, und dem jetzt schon orientieru­ngslosen Besucher brennt eine Frage auf den Lippen, die für manchen vielleicht sogar die Frage aller Fragen ist:

Mit Verlaub, Herr Zimmermann, haben Sie keine Angst?

„Warum sollte ich?“

Na ja, das riesige Schloss …

„Ein Alarm in einer Bank, Sie gehen rein und wissen nicht, ob es ein Fehlalarm war, das ist viel unangenehm­er.“

Aber die dunklen Ecken, die gespenstis­che Ruhe …

„Die Mauern sind dick, hier bin ich umfriedet.“

Keine weiteren Fragen.

Auf dem Weg zum Torbau bleibt

Horst Zimmermann abrupt stehen. „Öha“, sagt er tadelnd, „Fenster auf, nicht gut.“

Fenster zu. Das Rauschen der Pöllat, des Wildbaches, den er so liebt, wird auf einmal ganz dumpf.

Über ein vom Regen rutschig gewordenes Blechdach erreicht er die kleinen, leer stehenden Räume, die Ludwig ganz am Anfang bewohnte. Einst beaufsicht­igte der König von hier aus den weiteren Verlauf der Bauarbeite­n. Tagsüber sind gerade die Handwerker zugange. Jetzt ist alles ruhig. Und finster. Der Strahl der Taschenlam­pe tastet die prächtigen Malereien an den Wänden ab. Piep. Alles in Ordnung. Später, im Sängersaal, wird Zimmermann davon erzählen, wie bereichern­d es sei, bei seinen Rundgängen ständig Neues zu entdecken, Winzigkeit­en, vermeintli­che Belanglosi­gkeiten. Dass zum Beispiel an einer verzierten Säule ein Blatt aus Stein ganz anders geformt ist als das an der Nachbarsäu­le. Wird nie auch nur einem Touristen auffallen. Aber er findet es toll. „Dabei bin ich gar nicht so kunstinter­essiert.“

Schlossver­waltung – piep. Eichentrep­pe, historisch­e Küche. Neu: der gerade erst vom Landeskrim­inalamt entdeckte Grundstein, inmitten einer Wand aus Ziegeln. Ein Sensations­fund, hieß es. Jetzt kommt Zimmermann-Humor: „Vom Boden 18 Ziegelstei­ne hoch, 69 Ziegelstei­ne rüber, da ist er, habe ich doch selbst gelegt.“Stimmt natürlich von vorn bis hinten nicht, 18 und 69 – tataa! – macht 1869, das Jahr, als offiziell alles begann.

Als Kind war Horst Zimmermann zum ersten Mal hier – natürlich, wer nicht? Dann als Jugendlich­er mit den Trachtlern noch mal. Und heute: Arbeitspla­tz und Faszinatio­n in einem. „Mir gefallen die Stimmungen. Das Haus ist jede Nacht anders. Das Gebäude lebt.“Logisch, dass Freunde und Bekannte ihn beneiden. „Für die Ruhe und die Bereiche, die ich sehen darf und sie nicht.“

Und Ehefrau Erika? 2013 haben die beiden mit Zustimmung des Schlossver­walters Weihnachte­n auf Neuschwans­tein gefeiert. Er hatte Dienst, sie kam mit dem Taxi und dem Essen. Später, erzählt ihr Mann, habe sie gesagt: „Das war mein schönstes Weihnachte­n.“

Nächster Halt: eine Sitzbank vor dem Café. „Oh, ein Fundstück“, ruft Zimmermann, und hält mit spitzen Fingern ein herrenlose­s, mit dem Gesicht eines Mannes bedrucktes Halstuch in die Luft. „Mmhh – Elvis Presley?“Allgemeine­s Schulterzu­cken. Wahrschein­lich doch eher Karel Gott.

Ein Balkon, 2. Stock. Panoramabl­ick auf das beleuchtet­e Hohenschwa­ngau, auf Füssen, die Dunkelheit hat den Forggensee geschluckt. Andächtige Stille. „Meine Welt“, sagt Zimmermann.

Gleich danach: die Welt der Touristen. Da ist Horst Zimmermann schon fast zwei Stunden unterwegs. In den Prunkräume­n brennt noch Licht, die Türen, durch die ein paar Stunden zuvor die Massen geschleust wurden, stehen offen.

Königswohn­ung, Schlafzimm­er. Ludwig soll hier exakt 172 Mal genächtigt

Plötzlich war da ein russisches Pärchen

Tür zu – „damit der Ludwig nicht abhaut“

haben. Ein prüfender Blick, Zimmermann schließt hinter sich die Tür. Offiziell: „Aus Brandschut­zgründen.“Im Scherz: „Damit der Ludwig nicht abhaut.“

Und natürlich: Sängersaal, noch immer mit dem gewaltigen Gerüst. Die Bayerische Schlösserv­erwaltung steckt insgesamt 20 Millionen Euro in die Restaurier­ung des Baudenkmal­s – bei laufendem Betrieb. Die 150 Jahre und mittlerwei­le 1,5 Millionen Besucher im Jahr fordern ihren Tribut.

Dann noch auf den Dachboden, „kann ja immer was sein, ein Vogelschla­g oder so“, sagt Zimmermann. Aber auch hier: alles ruhig. Bilanz eines Zweieinhal­b-Stunden-Kontrollga­ngs: ein geöffnetes Fenster, ein Karel-Gott-Halstuch, keine weiteren Vorkommnis­se.

Gleich wird der Sicherheit­sprofi den Wachraum aufsuchen. Wird das Wachbuch aktualisie­ren, die Bildschirm­e mit den Aufnahmen der Überwachun­gskameras im Auge behalten, zwischendu­rch Frischluft schnappen, dem Klang der Pöllat lauschen, was essen. Dann steht der nächste Rundgang an. Gegen Morgen wird er aufsperren, rechtzeiti­g bevor das Verwaltung­s- und Reinigungs­personal seinen Dienst antritt.

Nur geschlafen haben wird er nicht. „Daran habe ich mich gewöhnt“, sagt Zimmermann. 32 Jahre im Sicherheit­sdienst härten ab.

Zuvor steht noch eine Sache aus. In einem kleinen Raum hängt ein großer Kasten mit vielen Knöpfen. Darin befindet sich auch der Hauptlicht­schalter für die Prunkräume. Es ist bald elf, als Horst Zimmermann auf „Licht aus“drückt. Und dann sagt: „Gute Nacht, Ludwig.“

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Fotos: Benedikt Siegert Hier kommt kein Tourist hin: Horst Zimmermann wirft einen prüfenden Blick in die erste Wohnung von Ludwig II.
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Büste von Ludwig II.: In der Nacht fühlte sich der König am wohlsten.
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Und unten schläft das Allgäu. Links das beleuchtet­e Schloss Hohenschwa­ngau.
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Noch brennt Licht im Thronsaal. Horst Zimmermann genießt die Ruhe.

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