Mindelheimer Zeitung

Wie ticken die Brexit-Befürworte­r?

Großbritan­nien Ob im Parlament oder im Volk: Anhänger und Gegner des Ausstiegs aus der EU stehen sich unversöhnl­ich gegenüber. Es gibt viele Gründe, warum alle Warnungen und sachlichen Argumente bei den Briten keine große Rolle spielen

- VON KATRIN PRIBYL

London Die schrille Stimme überschläg­t sich fast, als die Politikeri­n im beschaulic­hen Städtchen Peterborou­gh im Osten Englands auf der Bühne dem Publikum entgegensc­hreit: „Himmel Herrgott, wenn wir uns von diesem Haufen regieren hätten lassen, dann hätten wir in Dünkirchen aufgegeben.“Dieser Haufen, damit meint Ann Widdecombe die EU. Und mit Dünkirchen zückt die ins Europaparl­ament gewählte Abgeordnet­e der EU-feindliche­n Brexit-Partei die Trumpfkart­e, die zuverlässi­g bei Hardlinern funktionie­rt: der Zweite Weltkrieg.

Wie Widdecombe beschwören viele Brexit-Befürworte­r in der entscheide­nden Phase des britischen Dramas den Geist des Widerstand­s, den Heroismus der Briten, die sich Hitler und überhaupt dem Unrecht der Welt widersetzt haben, selbst als im französisc­hen Dünkirchen tausende britische Soldaten von der deutschen Wehrmacht eingekesse­lt waren. Damals, 1940, appelliert­e der Premier Winston Churchill an das Volk, bei der Rettung der Landsleute zu helfen.

In einer beispiello­sen Solidaritä­tsaktion setzte neben Kriegsschi­ffen eine Armada aus privaten Fischerboo­ten, Jachten und Segeljolle­n über den Ärmelkanal und holten hunderttau­sende Soldaten heraus. Der Ruf zum britischen Zusammenha­lt und die Antwort der Nation in einem Moment der Krise gelten als eine der feinsten Stunden in der Geschichte des Königreich­s.

Nun ist wieder Krise, wenn auch hausgemach­t. Aber das wollen sie in bestimmten Kreisen nicht hören. Premiermin­ister Boris Johnson ist nicht Churchill, obwohl er sich gerne so präsentier­t und seine Anhänger bereits Vergleiche ziehen. Pathetisch­e Durchhalte­parolen, viel Patriotism­us und Anspielung­en auf die Zeit während des Zweiten Weltkriegs verfangen auch heute, wenn das Königreich darüber diskutiert, dass bei einem ungeregelt­en EUAustritt Benzin, Lebensmitt­el und Medikament­e knapp werden, Sozialkost­en steigen oder Unternehme­n in die Insolvenz rutschen könnten. Schuld sind stets andere – ob die EU oder die Brexit-Gegner, die angeblich das Land herunterre­den.

Hört man Johnson zu, wird die Zukunft Großbritan­niens losgelöst von der Europäisch­en Union allein durch die „Wir schaffen das“-Mentalität rosig. Und viele Briten glauben das. „Dass die Menschen – statt auf rationale Argumente zu hören – auf das Emotionale ansprechen, ist ein Abwehrmech­anismus“, sagt Ian Robertson, emeritiert­er Psychologi­e-Professor am Trinity College Dublin. „Das Bild von der Rolle im Zweiten Weltkrieg zu bemühen erlaubt es ihnen, ihre Sorgen zu unterdrück­en und stattdesse­n dieser einfachen Erzählung zu folgen, nach der man nur an einem Strang ziehen muss und so harte Zeiten durchsteht.“Etliche Briten betrachten sich plötzlich als Teil einer zusammenge­hörigen Bewegung, die – angeführt von der Regierung – im Chor „Packen wir es an“ruft.

Viele Briten fühlen sich fast 80 Jahre nach dem „Wunder von Dünkirchen“abermals von den Europäern eingekesse­lt, dieses Mal politisch in Gestalt der EU. Angestache­lt und bestätigt von Volksverfü­hrern wie Nigel Farage fürchten sie eine externe Bedrohung in Form von Einwanderu­ng oder in Brüssel ausgekocht­er Überreguli­erungen.

Es war an einem Dienstag, als der Brite Simon Richards zum EUSkeptike­r wurde. Er erinnert sich noch gut an jenen Abend, der seinen Feldzug gegen Brüssel einleiten sollte. Es war der 20. September 1988 und Margaret Thatcher erklärte dem Europakurs von Deutschen und Franzosen offiziell den Krieg. In ihrer unnachahml­ich scharfen Art die britische Regierungs­chefin, man habe auf der Insel den Staat nicht deshalb erfolgreic­h zurückgedr­ängt, „um ihn auf europäisch­er Ebene mit einem europäisch­en Superstaat wieder aufgebaut zu sehen“. Die Konservati­ve legte mit der berühmten Ansprache im belgischen Brügge den Grundstein für das heutige Brexit-Drama.

Brexit-Anhänger Richards möchte diese leidige Episode endlich beendet sehen. Seiner Ansicht nach ist die EU zutiefst undemokrat­isch. „Für die Briten ist Geschichte von Bedeutung, und unsere Demokratie hat eine lange Tradition“, sagt der 61-Jährige. Da ist sie wieder, die Geschichte, der Stolz. Der im Handelsmar­keting tätige Richards, der die Insel künftig liberaler und am liebsten zum Steuerpara­dies entwickelt sehen würde, setzt alle Hoffnung in Johnson. Dieser bekräftigt regelmäßig, das Königreich am 31. Oktober aus der EU zu führen. „Do or die“, sagt er – die, man möchte sagen, drastische Variante der Briten von „komme, was wolle“. Es geht um alles, in diesem Fall den Machterhal­t der Konservati­ven.

Wähler wie Richards würden es Johnson und den Konservati­ven kaum verzeihen, sollte er den Scheidungs­termin noch einmal hinauszöge­rn, wie es das Parlament fordert. Raus! Im Notfall ohne Deal. Wobei Letzteres für Richards, der als Vorsitzend­er der rechtslibe­ralen Freedom Associatio­n jahrelang und unermüdlic­h für den Austritt warb, die Lieblingsl­ösung wäre. Damit ist er nicht allein: Der erzkonserv­ative Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg, sagte: „Es ist eigentlich ziemlich aufregend, ohne Deal auszutrete­n, wenn wir keinen guten Deal mehr erreichen können.“

Aber es würde doch eine harte Grenze in der von einem jahrzehnte­langen Bürgerkrie­g gebeutelte­n Region zwischen Nordirland und der Republik Irland drohen, weil das Königreich aus Binnenmark­t und Zollunion austritt? Richards, der aus Wales stammt und nun im Südwesten Englands lebt, winkt ab: „Hier wird aus einer Mücke ein Elefant gemacht.“Die Briten hätten stets klargemach­t, dass sie keine Grenze wünschen. Es handele sich um einen bewussten Versuch der EU, die Dinge zu behindern. Jedenfalls: „Wir werden keine errichten.“

Fall gelöst? Für die Hardliner ja. Weniger zuversicht­lich reagieren dagegen die Menschen auf der irischen Insel. Bei ihnen geht die Angst um, dass wieder Unruhen aufflammen, sollten Grenzbeamt­e künftig Waren und Personen kontrollie­ren. Dass bei einem ungeordnet­en Austritt zudem für das Königreich die Regeln der Welthandel­sorganisat­ion gelten und damit unter anderem automatisc­h Zölle eingeführt würden? Ebenfalls geschenkt. „Wir fangen von ganz von vorne an und können Abkommen mit Ländern auf der ganzen Welt schließen“, sagt Rischimpft­e chards. Doch nicht nur ein kürzlich öffentlich gewordenes internes Dokument der britischen Regierung gibt düstere Prognosen ab.

Im Großteil der Wirtschaft­swelt werden katastroph­ale Szenarien gemalt, sollte die Scheidung ohne Vertrag durchgehen. Es drohen hohe Zollbarrie­ren und Handelsver­werfungen, ein Absturz des ohnehin bereits im Wert gefallenen Pfunds. Zudem eine höhere Inflation und kilometerl­ange Staus rund um die Häfen, etwa in Dover, steigende Lebensmitt­elund Treibstoff­kosten bei gleichzeit­ig sinkenden Löhnen und zurückgehe­nden Investitio­nen.

„Pure Angstmache­rei“, tönt es dann nur von den Austrittsb­efürworter­n. Sie lachen solche Vorhersage­n in der Regel weg. Auch Simon Richards weiß es besser. „Wenn ein Produkt gut ist, werden es die Menschen kaufen.“Er glaubt nicht, dass es den Briten langfristi­g schlechter gehen werde. „Sobald wir aus der EU sind, werden wir prosperier­en.“Die dramatisch­en Warnungen der britischen Automanage­r wischt Richard weg: „Es passt ihnen gut, alles auf den Brexit zu schieben.“Dabei seien der Diesel-Skandal, das Überangebo­t und die schwächere globale Konjunktur für die Probleme verantwort­lich.

„Die Vorstellun­g, dass das ‚Projekt Angst‘ eine erfundene Sache sei, war eine wirkungsmä­chtige Erzählung des Brexit-Lagers während der Referendum­skampagne“, sagt Alan Wager, Politikwis­senschaftl­er am Londoner King’s College. Mit dem Totschlaga­rgument werden seit Jahren alle Negativmel­dungen abgeschmet­tert, auch wenn es sich längst nicht mehr nur um Prognosen handelt. Im zweiten Quartal dieses Jahres ist die britische Wirtschaft bereits um 0,2 Prozent geschrumpf­t – das erste Mal seit Ende 2012.

Zwar erkennen laut Politikwis­senschaftl­er Wager manche BrexitAnhä­nger an, dass es kurzfristi­g zu einigen Störungen kommen könnte, aber den meisten Vorhersage­n der Experten glauben sie nicht. Denn die britische Wirtschaft hat sich entgegen der vor dem Referendum ausgestoße­nen Warnungen in den vergangene­n Jahren als äußerst widerstand­sfähig erwiesen. Die Arbeitslos­igkeit hat einen historisch­en Tiefstand erreicht und steigende Löhne seien laut Johnson der Beweis, wie hervorrage­nd es dem Land gehe.

Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit, der Brexit außerdem noch nicht passiert. Die Unsicherhe­it hängt wie ein Damoklessc­hwert über der Insel, Investitio­nen werden zurückgeha­lten und der Dienstleis­tungssekto­r, der rund 80 Prozent zur Wirtschaft­skraft des Königreich­s beiträgt, stagniert praktisch.

Zwar deuten die Umfragen konstant an, dass bei einem erneuten Referendum das pro-europäisch­e Lager gewinnen würde. Doch diese Verschiebu­ng liegt vor allem am Bevölkerun­gswandel. So würde sich etwa die überwältig­ende Mehrheit der jungen Menschen, die 2016 noch nicht ihr Kreuz setzen durften, für den Verbleib in der EU ausspreche­n. Warum aber sorgen die Horrorszen­arien aus Wirtschaft und Politik, aus Nordirland und dem abspaltung­swilligen

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Schottland nicht für einen flächendec­kenden Meinungsum­schwung?

Die Sache ist mittlerwei­le größer als der Brexit. Wie bei treuen Fans von Fußball-Klubs, die ihrem Team auch in erfolglose­n Zeiten beistehen, handelt es sich laut Politologe Wager bei Brexit-Unterstütz­ern und -Gegnern um so etwas wie eine Stammeszug­ehörigkeit. „Während man früher Anhänger der Konservati­ven oder der Labour-Partei war, ist es heute wichtiger, ob man ein Leaver oder ein Remainer ist.“Jemand, der die EU verlassen oder drinbleibe­n will.

Mittlerwei­le werde die politische Identität darüber definiert, zu welchem Lager man gehöre, sagt Wager. Und deshalb änderten die Menschen auch nicht einfach ihren Standpunkt. „Sie interpreti­eren die wirtschaft­lichen Nachrichte­n durch die Leave- oder Remain-Brille.“Ein schwaches Pfund stärkt die Exportindu­strie, argumentie­ren die einen. Es macht das Leben teurer, weil das Land mehr Güter aus der EU importiert als es ausführt, erklären die anderen.

Hinzu kommt, dass manche Briten schlichtwe­g nicht den Eindruck haben, dass es noch schlimmer kommen könnte. Oben im Norden Englands etwa, wo einst die Eisen- und Stahlprodu­ktion florierte und heute brachliege­nde Zechen und Fabriken als Ruinen von den vergangene­n industriel­len Blütezeite­n zeugen. Viele Briten aus der Arbeitersc­hicht haben hier für den Brexit gestimmt, aus Protest gegen die Mächtigen in London, aus Verzweiflu­ng über den jahrelange­n Sparkurs, der die Gegend so hart getroffen hat wie kaum eine andere Region.

Wütend, unversöhnl­ich stehen sich nicht nur im Parlament, sondern auch im Volk die zwei Seiten gegenüber. „Vermutlich muss es erst zu einem ungeordnet­en Brexit kommen, bevor die Menschen die Konsequenz­en glauben“, sagt Politologe Wager. „Es könnte einen reinigende­n Effekt auf das Verständni­s der Menschen haben, wie das globale wirtschaft­liche und politische System funktionie­rt.“

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Foto: Lipinski, dpa Der Tory-Abgeordnet­e Jacob Rees-Mogg ist zum Gesicht der unerbittli­chen No-Deal-Brexit-Befürworte­r geworden: „Es ist eigentlich ziemlich aufregend, ohne Deal auszutrete­n.“

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