„Auf die Fresse geben ist besser als auf die Fresse kriegen“
Autobiografie Politik mal handfest: Wolfgang Kubicki hat ein Buch geschrieben. Und Sigmar Gabriel stellt es vor
Berlin Die Neuzeit dokumentiert sich zwei Meter rechts vom Podium. Das Schild „All Gender Restroom“im ehrwürdigen Musiksaal der Ullstein-Buchverlage verweist auf Unisex-Toiletten. Links daneben nehmen zwei Männer Platz, deren politische Karriere in der alten Zeit begann, als es nur Toiletten für Frauen und Männer gab und letztere selbstverständlich noch im Stehen pinkelten: Wolfgang Kubicki und Sigmar Gabriel. Letzterer ist bekanntlich SPD-Politiker und er ist an diesem sonnigen Berliner Nachmittag gekommen, um das Buch seines Duzfreundes von der FDP vorzustellen.
Kubicki und Gabriel sind der Öffentlichkeit bekannt als Männer, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Und wer an diese Buchvorstellung diesbezügliche Erwartungen hat, wird überhaupt nicht enttäuscht. „Sagen, was Sache ist“ist der Titel des Buches und Motto dieses Nachmittages gleichermaßen. „Auf die Fresse geben ist besser als auf die Fresse kriegen“, sagt Kubicki etwa, und Gabriel nickt zustimmend. „Nach dem Fußball war der Kampf nicht zwangsläufig zu Ende“, wird er später ergänzen.
Da reden die beiden von ihrer Jugendzeit, die sie etwa in der gleichen niedersächsischen Region verbrachten. Kubicki wurde 1952 in Braunschweig geboren und wuchs dort auf, Gabriel (Jahrgang 1959) in Goslar. Harte Zeiten waren das, wenn man den beiden Männern so zuhört, und Gabriel sagt über Kubicki: „Wenn man das Buch liest, dann hat man den Eindruck, du seiest so etwas wie ein Straßenkind gewesen.“Der Bundestagsvizepräsident findet dieses Bild stimmig: „Wir waren Straßenkinder, uns wurde nichts geschenkt, wir mussten uns durchbeißen.“Das habe er wohl mit Gabriel gemeinsam, „deshalb mögen wir uns auch wohl so sehr“, sagt Kubicki noch und man kann sich ihn und Gabriel für einen kurzen Moment gut vorstellen, wie sie auf der Straße handfest ihre Interessen durchsetzen. „Ich galt auch als prügelfreudig. Jedenfalls bis zum 16. Lebensjahr, danach hat sich das gegeben“, erzählt Kubicki.
Die beiden Politik-Recken bleiben an diesem Nachmittag nicht dem Gestern verhaftet, sie haben auch eine Meinung zur Neuzeit. Ob sie es nun sinnvoll finden, dass es in der Definition mehr als zwei Geschlechter gibt, sagen Kubicki und Gabriel nicht. Aber sie lassen ziemlich deutlich durchblicken, dass es ihrer Meinung nach mittlerweile zu viele Schwächlinge gibt, und dies vor allem in den eigenen Reihen. „Ich glaube, dass Politik heute mehr Straßenkinder braucht, die sich auskennen in der Welt“, sagt Gabriel und sein Gegenüber pflichtet dem mühelos bei. „Es ist so gekommen, dass wir viele Abgeordnete haben, denen es an Lebenserfahrung fehlt“, sagt Kubicki. Wenn die Voraussetzung für den Abgeordnetenberuf sei, „dass sie Abitur haben, ein abgebrochenes Studium und keinen Beruf, dann stimmt etwas nicht.“
Gabriel hat eine Erklärung, warum sich so viele Luschen im Reichstagsgebäude versammeln. Der Werkbank-Arbeiter kandidiere erst gar nicht mehr für den Bundestag, „weil er weiß, oder es zumindest ahnt, dass er vom Parteiestablishment verachtet wird“, sagt der ehemalige Vizekanzler, Umwelt-, Wirtschafts- und Außenminister und fordert von den Parteien eine stärkere Personalplanung, wie sie jedes Unternehmen mache. „Wir müssen stärker schauen, wer in die Politik geht“, sagt Gabriel.
Die beide schimpfen dann auch noch auf die Medien, sie kritisieren markig den Umgang mit der AfD, einmal fällt bei Kubicki beinahe das „Sch…“-Wort. Hinter diesen testosterongesteuerten Macker-Sprüchen steht aber auch eine gehörige Portion Nachdenklichkeit von zwei Politikern, die viel fürs Land getan und nun Sorge haben, dass da einiges den Bach runtergehen könnte.
Gabriel will sich aus der aktiven Politik ganz zurückziehen, er hat bereits angekündigt, dass er nicht mehr kandidieren wird. Kubicki wird es in der Politik möglicherweise auch nicht mehr lange machen, und schon jetzt beschleicht den Zuschauer das Gefühl, dass es dann zwei authentische Typen weniger geben und der Politik etwas fehlen wird. Geredet wird im deutschen Parlament zwar viel, aber „Sagen, was Sache ist“, das trauen sich ja in der Tat immer weniger Politiker.