Wie oft rasten Angeklagte aus?
Justiz In Prozessen verlieren Menschen immer wieder die Nerven. Ein spektakulärer Fall wird derzeit in Augsburg verhandelt. Dort wurde sogar der Gerichtssaal umgebaut
Augsburg Solche Bilder gibt es im Strafjustizzentrum nur selten. Ein Angeklagter, der an Händen und Füßen gefesselt ist und über dem Kopf eine Spuckhaube tragen muss. Eine stabile Glasscheibe, die den Angeklagten von der Richterbank trennt. Haidar A., 26, ist auch kein gewöhnlicher Angeklagter. Er ist angeklagt, weil er während einer Gerichtsverhandlung einem Polizisten die Pistole entreißen und fünf Richter sowie den Staatsanwalt erschießen wollte. So dramatisch wie im Fall von Haidar A. spitzt sich die Lage in bayerischen Gerichtssälen nur selten zu – dass Angeklagte ausrasten, gibt es aber immer wieder.
Die Zahl der Ausraster vor Gericht bewegt sich nach Einschätzung der bayerischen Justiz seit Jahren in einem ähnlichen Bereich. Bayernweite Zahlen werden nach Angaben des Justizministeriums dazu zwar nicht erhoben. Größere Probleme an den Gerichten seien aber aktuell auch nicht bekannt, sagt eine Sprecherin des Ministeriums auf Anfrage. Ähnlich schätzt es Simone Bader ein, Pressesprecherin am Augsburger Amtsgericht und Vorsitzende des örtlichen Richtervereins. Ausraster gebe es meist dann, wenn ein Betroffener emotional besonders belastet sei – nicht nur in Strafprozessen, sondern auch bei Verfahren, bei denen es zum Beispiel um das Sorgerecht für Kinder geht.
Am Augsburger Landgericht gab es vor rund zwei Jahren kurz hintereinander mehrere Vorfälle im großen Schwurgerichtssaal. Neben dem mutmaßlichen sechsfachen Mordversuch durch Haidar A. gab es nur kurz zuvor noch eine zweite Eskalation. Ein gerade zu einer Gefängnisstrafe von sechseinhalb Jahren verurteilter Angeklagter warf seinen Stuhl in Richtung der Richter. Eine Justizwachtmeisterin und zwei Kollegen stürzten sich auf den 21-jährigen Angeklagten, einen afrikanischen Asylbewerber, und überwälihn unter Einsatz von Pfefferspray. Die Richter bestraften den Stuhlwurf bei der Verhandlung wenige Monate später als versuchte Körperverletzung und die leichten Verletzungen, die zwei Justizwachtmeister bei der Rangelei erlitten, als vorsätzliche Körperverletzung. Die Quittung: Er muss 16 Monate länger im Gefängnis bleiben. Als Reaktion darauf wurde im Schwurgerichtssaal umgebaut. Die Angeklagten sitzen nun wieder auf einer festen Anklagebank aus Holz. Sie können keine Stühle mehr als Waffe nutzen.
Einlasskontrollen gibt es in Bayern inzwischen an allen Gerichten, seitdem ein Angeklagter im Januar 2012 in Dachau einen Staatsanwalt erschossen hat. Der Täter hatte damals unbemerkt eine Pistole in den Gerichtssaal mitgebracht.
Dass ein Angeklagter eine sogenannte Spuckhaube tragen muss, versuche man als Richter zu vermeiden, sagt Simone Bader. Das sei das letzte Mittel, wenn ein Angeklagter nicht zur Räson zu bringen sei. Eine Spuckhaube werde nur dann genutzt, wenn ein Angeklagter bereits durch Spucken aufgefallen sei und es trotz Ermahnung wieder tue. So ist es auch bei Haidar A. Er hatte schon in der ersten Gerichtsverhandlung in Richtung der Richter gespuckt. Damals hatte ihn das Schwurgericht zu fast 13 Jahren Haft verurteilt, weil er versucht hatte, einen Mitbewohner in einem Asylheim mit einem Messer zu enthaupten. Weil er mit dem Urteil nicht einverstanden war, rastete er aus – und griff dabei auch nach der Dienstwaffe. Als er nun beim Prozess wegen dieses Vorfalls wieder spuckte – in Richtung der Pressefotografen – ordnete die Vorsitzende Richterin Sandra Mayer an, dass ihm die Haube aus düntigten nem Stoff übergezogen wird. Als er danach sagte, er verspreche, sich jetzt korrekt zu verhalten, entgegnete sie: „Sie hatten Ihre Chance.“
Die Hauben, die man für rund fünf Euro auch im Internet kaufen kann, wurden im Jahr 2016 auch bei der bayerischen Polizei eingeführt. Alle Dienststellen seien damit ausgestattet, sagt eine Sprecherin des Innenministeriums. Ob die Beamten sie auch im Streifenwagen dabei haben, entscheide jedes Präsidiums selbst. Die Spuckschutzhaube sei nur dann zugelassen, so die Sprecherin, wenn aufgrund der Verhaltensweise des Betroffenen ein entsprechender Angriff zu erwarten sei. Ein rein präventiver Einsatz sei nicht erlaubt. Die Erfahrungen der Polizeibeamten seien überwiegend positiv. Meist beruhigten sich die Personen relativ schnell wieder, wenn man ihnen die Haube angelegt habe.