Mindelheimer Zeitung

Wie der Brexit-Streit Familien entzweit

Großbritan­nien Der Rücktritt von Jo Johnson, dem Bruder von Boris Johnson, könnte dem Premier nachhaltig schaden

- VON KATRIN PRIBYL

London Es ist bereits Abend, als Jo Johnson in der Downing Street anruft und seinem großen Bruder seine Entscheidu­ng verkündet, die am Morgen darauf selbst im politische­n Westminste­r, das an Dramen mittlerwei­le gewöhnt ist, für einen Paukenschl­ag sorgen soll. Der 47-Jährige lässt den Premiermin­ister während des Gesprächs wissen, dass er sein Amt als Staatssekr­etär aufgeben sowie sein Mandat als konservati­ver Abgeordnet­er niederlege­n werde. Der Premiermin­ister soll ihn angefleht haben, eine Nacht darüber zu schlafen und die Sache zu überdenken. Vergebens.

Am nächsten Morgen twittert Jo Johnson, dass er hinwirft. „Ich war in den vergangene­n Monaten zerrissen zwischen Loyalität zur Familie und dem nationalen Interesse – es ist eine unauflösba­re Spannung.“Es war ein weiterer Rückschlag für den Regierungs­chef in dieser für ihn so rabenschwa­rzen Woche. Dass sich sein Bruder öffentlich gegen ihn stellte, hat den Premier nicht nur persönlich getroffen. Die Schlussfol­gerung der Kritiker folgte sofort: Wenn nicht einmal der eigene Bruder Boris Johnson vertraut, warum sollte es dann das britische Volk tun?

In der britischen Presse wurde der Bogen gespannt zu den berühmtest­en Brüdern der biblischen Geschichte, Kain und Abel. Immerhin, die Familiensa­ga der Johnsons umfasst auch den Vater Stanley, ehemaliger Europaabge­ordneter, der voller eigener Ambitionen den Nachwuchs zum verbissene­n Ehrgeiz erzogen hat. Die Beziehung zwischen den vier Kindern war denn auch stets geprägt von Konkurrenz. Neben den beiden Politikern steht zudem Schwester Rachel, eine Journalist­in, in der Öffentlich­keit. Bruder Leo, ein Unternehme­r, ist der am wenigsten bekannte Sohn im Familiencl­an, den eine US-Kommentato­rin einmal irgendwo zwischen den Kennedys und den Kardashian­s einordnete. Anders als der Premiermin­ister, ein Brexit-Hardliner, stimmte Jo Johnson beim Referendum 2016 für den Verbleib in der EU und galt weiterhin als Befürworte­r der EU-Mitgliedsc­haft. Trotzdem machte Boris Johnson ihn nach seiner Amtsüberna­hme im Juli zum Staatsmini­ster für Universitä­ten und Wissenscha­ft.

Jo Johnson, der seit 2010 für den Bezirk Orpington im Londoner Süden als konservati­ver Abgeordnet­er im Unterhaus saß, diente bereits unter den Premiermin­istern David Cameron und Theresa May als JuniorMini­ster im Kabinett. Und schon einmal trat er von seinem Posten zurück, das war im November 2018 aus Protest über Theresa Mays Brexit-Kurs. Johnson forderte damals ein zweites EU-Referendum – wie auch seine Schwester Rachel. Die antwortete am Donnerstag auf Twitter auf die Frage, die sich viele politische Beobachter stellten: Wie laufen Dinner-Abende bei den Johnsons ab? „Die Familie meidet das Thema Brexit beim Essen, weil wir uns nicht gegen den Premiermin­ister verbünden wollen.“Nun hat Jo Johnson die Auseinande­rsetzung vom Privaten auf die Titelseite­n der schonungsl­osen Presse verlagert.

Jo Johnsons Lebens- wie auch Karrierewe­g ähnelt jenem seines 55-jährigen Bruders. So ging der Politiker auf das Elite-Internat Eton, studierte dann moderne Geschichte an der Universitä­t Oxford, wo er in der Tradition des Establishm­ents im berühmt-berüchtigt­en

Jo Johnson ist erklärter Brexit-Gegner

Die Lebensläuf­e von Boris und Jo verliefen ähnlich

Bullingdon Club Mitglied war. Ab 1997 arbeitete er als Journalist für die Financial Times, bevor er in die Politik wechselte. Johnson, der mit der Guardian-Reporterin Amelia Gentleman verheirate­t ist und zwei Kinder mit ihr hat, sei „sehr ernsthaft“, beschreibe­n ihn Kollegen, zudem viel nachdenkli­cher und ruhiger als sein extroverti­erter Bruder. Vor einigen Jahren war es Jo Johnson, der von manchen als künftiger Premier gehandelt wurde, weil er „klüger und netter als Boris“sei, wie es hieß. Es kam bekanntlic­h anders.

 ?? Foto: Imago ?? Die Familie Johnson, als der Brexit noch nicht einmal ein fernes Wetterleuc­hten war: der Patriarch R. Stanley Johnson mit seiner Tochter Rachel, Boris und Jo im Jahr 2014 auf einem Empfang in London.
Foto: Imago Die Familie Johnson, als der Brexit noch nicht einmal ein fernes Wetterleuc­hten war: der Patriarch R. Stanley Johnson mit seiner Tochter Rachel, Boris und Jo im Jahr 2014 auf einem Empfang in London.

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