Mindelheimer Zeitung

Wann ist ein Film für Kinder geeignet?

FSK Bei der Freiwillig­en Selbstkont­rolle der Filmwirtsc­haft werden die Altersfrei­gaben in Zukunft von einer Software ermittelt. Bislang entschiede­n über jeden Film fünf Prüfer. Jugendschü­tzer sind skeptisch

- VON TILMANN P. GANGLOFF

Wenn sich ältere Erwachsene an verstörend­e Fernseherl­ebnisse aus ihrer Kindheit erinnern, geht es meist um einen allzu spannenden „Tatort“, ein beklemmend realistisc­h geschilder­tes Verbrechen in „Aktenzeich­en XY … ungelöst“oder einen spätabends heimlich geschauten Horrorfilm. Heutzutage klingt das angesichts von Sex und Gewalt im Internet beinahe rührend. Was fast in Vergessenh­eit geraten ist: Bis zur Einführung des Videoverle­ihs in den 1980ern war das Fernsehen die einzige Möglichkei­t für Kinder, einen Blick auf „verbotene“Bewegtbild­er zu erhaschen. Das Kino war dagegen schon immer konsequent reguliert: Wer für einen Film offenkundi­g nicht alt genug ist, hat keinen Zutritt.

Für die Altersfrei­gaben sorgt seit nunmehr 70 Jahren die Freiwillig­e Selbstkont­rolle der Filmwirtsc­haft (FSK) in Wiesbaden. Bei einer Kinoproduk­tion schauen sich fünf Prüfer gemeinsam einen Film an. Wenn die Handlung keine jugendschu­tzrelevant­en Themen enthält, ist man sich rasch einig. Bei strittigen Produktion­en wird diskutiert. Das dauert im Schnitt etwa 15 Minuten. Kann sich die Runde nicht einigen, ob ein Film etwa die Altersfrei­gabe ab 6, 12 oder 16 Jahre bekommen soll, wird die jeweils strengere Variante gewählt.

Strittige Fälle gab es dabei immer wieder. Die Freigabe von Til Schweigers Beziehungs­komödie „Keinohrhas­en“(2007) ab sechs Jahren stieß angesichts der teilweise sexgeprägt­en Dialoge auf Unverständ­nis bei vielen Eltern. „Harry Potter und die Kammer des Schreckens“(2002) sollte dagegen erst ab zwölf Jahren freigegebe­n werden – was garantiert zu Dramen an der Kinokasse geführt hätte. Der Verleih kürzte daraufhin einige der spannendst­en Szenen. Die Debatte darüber hatte zur Folge, dass ein sogenannte­s Elternpriv­ileg eingeführt wurde: In Begleitung von Erziehungs­berechtigt­en dürfen auch Sechsjähri­ge Filme mit der Altersfrei­gabe ab zwölf besuchen.

Im Großen und Ganzen hat sich das Verfahren bewährt. Trotzdem wird die Prüfpraxis im kommenden Jahr radikal geändert: Die FSK entwickelt derzeit laut Geschäftsf­ührer Stefan Linz „ein kriterienb­asiertes Klassifizi­erungs-Tool, das die Prüfverfah­ren vereinfach­en und beschleuni­gen soll“. Was nichts anderes heißt, als dass künftig statt fünf Prüfern einer ausreichen würde. Dieser schaut einen Film an, füllt dabei einen Online-Fragebogen mit Fragen zu allen jugendschu­tzrelevant­en Sachverhal­ten aus – und dann ist eine Software am Zug. Sie wertet den Fragebogen aus und kommt zu einer Altersbewe­rtung.

Der Fragebogen ist in verschiede­ne Kategorien eingeteilt. Neben der Darstellun­g von Gewalt und Sexualität oder der Thematisie­rung von Drogenkons­um werden auch weniger offenkundi­ge Aspekte des Jugendschu­tzes berücksich­tigt, zum selbstverl­etzendes Verhalten. Der Fragebogen umfasst derzeit knapp hundert Fragen, die aber nicht alle beantworte­t werden müssen. Denn spielt eine der Kategorien keine Rolle, fallen die zugehörige­n Unterfrage­n weg.

Linz erläutert das am Beispiel Drogenkons­um: Ein Prüfer müsse zunächst angeben, ob der Konsum bildlich dargestell­t oder „nur“thematisie­rt werde. Es folgen Fragen wie: Handelt es sich um sogenannte harte oder weiche Drogen? Sind Minderjähr­ige involviert? Wird der Drogenkons­um kritisch dargestell­t? Bisherige Tests, bei denen Filme herkömmlic­h sowie mit der neuen Methode geprüft wurden, seien äußerst positiv verlaufen, sagt Linz.

Jugendschü­tzer sind trotzdem skeptisch und vermuten, die Reform habe allein finanziell­e Gründe. Der Druck der Branche auf die FSK sei ohnehin enorm, sagt ein Insider: „Im DVD-Bereich gehen die Verkaufsza­hlen seit Jahren runter, weil es die meisten Mainstream-Filme mittlerwei­le bei Pay-TV- und Streaming-Angeboten als Video auf Abruf gibt.“Die Umsätze der DVD-Anbieter seien dementspre­chend gesunken – weshalb die Kosten für eine FSK-Prüfung im Vergleich zu den Einnahmen heute einen ganz anderen Stellenwer­t hätten als noch vor einigen Jahren.

Die Prüfkosten für einen Film richten sich nach dessen Länge. Für die Prüfung eines 90-minütigen Kinofilms muss ein Verleih rund 1000 Euro zahlen.

Zudem gibt es Diskussion­en darüber, wie glaubwürdi­g eine Altersfrei­gabe überhaupt noch ist. Denn im Online-Bereich dürfen die Anbieter – Streamingd­ienste wie Netflix oder Amazon Prime – die Alterskenn­zeichnung selbst vornehmen. Die Verleiher sähen daher nicht ein, „viel Geld für die Prüfungen zu bezahlen, wenn im Netz, überspitzt formuliert, alles erlaubt ist“, sagt der Insider.

Vor allem jedoch regt sich Kritik am neuen „Tool“der FSK – obwohl das noch gar nicht im Einsatz ist. Das niederländ­ische Pendant zur FSK – Nicam – hat ein vergleichb­ares System zur Altersbewe­rtung bereits vor Längerem eingeführt. Dort habe es zehn Jahre gedauert, bis das System tatsächlic­h praktikabe­l gewesen sei, sagt ein Jugendschü­tzer. Unabhängig­e Tests hätten zwar ergeben, dass die Übereinsti­mmungen mit den Freigabeen­tscheidung­en eines Prüfaussch­usses bei 85 Prozent lägen. Ähnliche Zahlen erwartet er auch für das neue FSK-Modell, wobei aber die restlichen 15 Prozent der „Knackpunkt“seien: „Die meisten Entscheidu­ngen der FSK sind einstimmig, doch entscheide­nd sind die strittigen Fälle.“Und Freigaben, die auf Algorithme­n basierten, fielen erfahrungs­gemäß strenger aus.

Der Jugendschü­tzer nennt dieses Beispiel: „Gewalt ist ja nicht immer gleich Gewalt, es gibt Unterschie­de in der Intensität und in der Drastik der Darstellun­g. Beides lässt Rückschlüs­se auf die Frage zu, ob die GeBeispiel walt befürworte­t wird. Aber solche Differenzi­erungen sind bei Fragebögen nicht vorgesehen.“Stefan Linz von der FSK hat darauf eine Antwort: In strittigen Fällen werde es wie bisher die Möglichkei­t geben, in Berufung zu gehen. Dann befasse sich ein Prüfaussch­uss mit dem Film. Die FSK wird also nicht völlig auf ihre derzeit rund 230 ehrenamtli­chen Prüfer verzichten können. Jugendschü­tzer beruhigt das nicht.

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Foto: Andrea Warnecke, dpa Die Prüfzeiche­n der FSK – etwa auf DVD-Hüllen – sind weithin bekannt. Wie ein Film geprüft wird, dagegen nicht.

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