Ekel-Fernsehen
Tabu-Brüche In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat es so viele Tabu-Brüche im deutschen Fernsehen gegeben, dass es schwerfällt, den einen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Grenzen des guten Geschmacks endgültig übertreten und danach immer weiter verschoben wurden. Noch schwieriger ist es zu bestimmen, wann sich eine Mehrheit nicht mehr darüber aufregte. Wann Zuschauer also mehr oder minder achselzuckend hinnahmen, dass Ekel-TV einfach (Fernseh-)Alltag ist.
Was wurde nicht diskutiert, damals im Jahr 2000, als die Container-Show „Big Brother“nach Deutschland kam! Sie stelle einen Eingriff in die Privatsphäre der Teilnehmer dar, sei ein Angriff auf die Menschenwürde. Es folgte Staffel um Staffel – und weitaus bedenklichere Formate. Was wurde über „Deutschland sucht den Superstar“ diskutiert – und wie in der Castingshow Kandidaten lächerlich gemacht werden! Staffel 1 lief 2002, für 2020 ist Staffel 17 geplant. So richtig regt sich längst keiner mehr darüber auf. Ist Fernseh-Deutschland abgestumpft?
Mag sein. Dass im „Dschungelcamp“(unser Foto) Promis Känguru-Hoden, Buschschweinvaginas und Penisse essen müssen – ein Aufreger ist auch das nicht mehr, sondern gilt als (gute) Unterhaltung. Zumal so einiges, das im Internet zu sehen ist, nochmals deutlich härter, widerlicher und fragwürdiger ist.
Und dennoch werden die Grenzen auch im deutschen Fernsehen permanent weiter verschoben. In der Show „Naked Attraction – Dating hautnah“auf RTL2 präsentieren sich die Kandidaten „hüllenlos in sechs Boxen und werden Stück für Stück aufgedeckt. Alles, was die Kandidaten haben, um den begehrten Single von sich zu überzeugen, ist ihr Körper. Denn das Gesicht wird erst ganz am Schluss enthüllt“, so die Beschreibung des Senders. „Diese Show ist anders!“, bejubelt RTL2 seine Fleischbeschau.
Aber es geht natürlich krasser, das hat ProSieben kürzlich gezeigt in seiner Erfolgsshow „Das Duell um die Welt – Team Joko gegen Team Klaas“. In der sprang Moderatorin und Autorin Charlotte Roche von einer Brücke an einem Bungeeseil – das an Haken befestigt wurde, die ihr unter sichtbar großen Schmerzen in den Rücken eingesetzt worden waren. Der Sender zeigte Eingriff und Sprung in Großaufnahmen. Roche selbst hatte Bedenken, denn was wäre, wenn ihr Rücken der Belastung beim Sprung nicht standhalten und reißen würde?
Sie sprang natürlich. Und der Hashtag #Charlotteroche „trendete“auf Twitter. In der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen erreichte die Show einen Marktanteil von 15,5 Prozent und damit einen „Duell um die Welt“-Rekordwert. Neben der Kritik an den Sendern gehört damit auch das zur Wahrheit: Ekel-Fernsehen funktioniert, und genau diese Nachfrage danach wird bedient.
Was den Roche-Sprung angeht, so liegen der für ProSieben zuständigen Medienanstalt Berlin-Brandenburg bereits „eine Handvoll Beschwerden“vor. Sie wird nun die Freiwillige Selbstkontrolle Fernsehen um eine Prüfung bitten, dann deren Einschätzung für die Kommission für Jugendmedienschutz (KJM) – das ist ein Organ der deutschen Landesmedienanstalten – vorbereiten und falls nötig Sanktionen aussprechen. Etwa ein Verbot, die Show zu wiederholen. Denkbar wäre auch ein Bußgeld.
Für die KJM sind Joko und Klaas alte Bekannte. 2014 verstießen sie gleich zwei Mal gegen den Jugendmedienschutz: Joko hatte sich die Lippen zusammennähen lassen. Und beide Moderatoren tranken mit Schauspieler Matthias Schweighöfer mehrere Gläser Wodka vor der Kamera. Mal sehen, was als Nächstes kommt. Oder nein, lieber nicht!