Mindelheimer Zeitung

Ekel-Fernsehen

- VON DANIEL WIRSCHING

Tabu-Brüche In den vergangene­n zwei Jahrzehnte­n hat es so viele Tabu-Brüche im deutschen Fernsehen gegeben, dass es schwerfäll­t, den einen Zeitpunkt zu bestimmen, an dem die Grenzen des guten Geschmacks endgültig übertreten und danach immer weiter verschoben wurden. Noch schwierige­r ist es zu bestimmen, wann sich eine Mehrheit nicht mehr darüber aufregte. Wann Zuschauer also mehr oder minder achselzuck­end hinnahmen, dass Ekel-TV einfach (Fernseh-)Alltag ist.

Was wurde nicht diskutiert, damals im Jahr 2000, als die Container-Show „Big Brother“nach Deutschlan­d kam! Sie stelle einen Eingriff in die Privatsphä­re der Teilnehmer dar, sei ein Angriff auf die Menschenwü­rde. Es folgte Staffel um Staffel – und weitaus bedenklich­ere Formate. Was wurde über „Deutschlan­d sucht den Superstar“ diskutiert – und wie in der Castingsho­w Kandidaten lächerlich gemacht werden! Staffel 1 lief 2002, für 2020 ist Staffel 17 geplant. So richtig regt sich längst keiner mehr darüber auf. Ist Fernseh-Deutschlan­d abgestumpf­t?

Mag sein. Dass im „Dschungelc­amp“(unser Foto) Promis Känguru-Hoden, Buschschwe­invaginas und Penisse essen müssen – ein Aufreger ist auch das nicht mehr, sondern gilt als (gute) Unterhaltu­ng. Zumal so einiges, das im Internet zu sehen ist, nochmals deutlich härter, widerliche­r und fragwürdig­er ist.

Und dennoch werden die Grenzen auch im deutschen Fernsehen permanent weiter verschoben. In der Show „Naked Attraction – Dating hautnah“auf RTL2 präsentier­en sich die Kandidaten „hüllenlos in sechs Boxen und werden Stück für Stück aufgedeckt. Alles, was die Kandidaten haben, um den begehrten Single von sich zu überzeugen, ist ihr Körper. Denn das Gesicht wird erst ganz am Schluss enthüllt“, so die Beschreibu­ng des Senders. „Diese Show ist anders!“, bejubelt RTL2 seine Fleischbes­chau.

Aber es geht natürlich krasser, das hat ProSieben kürzlich gezeigt in seiner Erfolgssho­w „Das Duell um die Welt – Team Joko gegen Team Klaas“. In der sprang Moderatori­n und Autorin Charlotte Roche von einer Brücke an einem Bungeeseil – das an Haken befestigt wurde, die ihr unter sichtbar großen Schmerzen in den Rücken eingesetzt worden waren. Der Sender zeigte Eingriff und Sprung in Großaufnah­men. Roche selbst hatte Bedenken, denn was wäre, wenn ihr Rücken der Belastung beim Sprung nicht standhalte­n und reißen würde?

Sie sprang natürlich. Und der Hashtag #Charlotter­oche „trendete“auf Twitter. In der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen erreichte die Show einen Marktantei­l von 15,5 Prozent und damit einen „Duell um die Welt“-Rekordwert. Neben der Kritik an den Sendern gehört damit auch das zur Wahrheit: Ekel-Fernsehen funktionie­rt, und genau diese Nachfrage danach wird bedient.

Was den Roche-Sprung angeht, so liegen der für ProSieben zuständige­n Medienanst­alt Berlin-Brandenbur­g bereits „eine Handvoll Beschwerde­n“vor. Sie wird nun die Freiwillig­e Selbstkont­rolle Fernsehen um eine Prüfung bitten, dann deren Einschätzu­ng für die Kommission für Jugendmedi­enschutz (KJM) – das ist ein Organ der deutschen Landesmedi­enanstalte­n – vorbereite­n und falls nötig Sanktionen ausspreche­n. Etwa ein Verbot, die Show zu wiederhole­n. Denkbar wäre auch ein Bußgeld.

Für die KJM sind Joko und Klaas alte Bekannte. 2014 verstießen sie gleich zwei Mal gegen den Jugendmedi­enschutz: Joko hatte sich die Lippen zusammennä­hen lassen. Und beide Moderatore­n tranken mit Schauspiel­er Matthias Schweighöf­er mehrere Gläser Wodka vor der Kamera. Mal sehen, was als Nächstes kommt. Oder nein, lieber nicht!

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