Mindelheimer Zeitung

Komplizier­te Dinge ganz klar und simpel erklären? Gar nicht so einfach! Leichte Sprache hilft dabei. In ihr gibt es keine Fach- und Fremdwörte­r. Wie Texte entstehen, die möglichst jeder verstehen soll – und warum das so wichtig ist

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Letztens entdeckte Maria Hütter-Songailo wieder so ein Wort, das sie nicht recht verstand. Sie strich es auf dem Papier an, mit ihrem neonorange­n Textmarker. Ein breiter, leuchtende­r Streifen liegt jetzt über den schwarzen Buchstaben: „Industrie“. Was ist das eigentlich? Tanja Blum, die den Text geschriebe­n hatte, wollte es ihr erklären – und kam ins Stottern. „Wenn man ein Wort leicht erklären soll, merkt man oft selbst, dass man es nicht zu hundert Prozent verstanden hat“, sagt sie. Aber es klappte. Heute hat Hütter-Songailo ein Bild vor Augen, wenn Sie „Industrie“liest: Fabriken, Rohstoffe, rauchende Schornstei­ne, große Lagerhalle­n.

Sie sind ein Team: Blum, Kulturwiss­enschaftle­rin, übersetzt Texte in eine leichtere Fassung und Hütter-Songailo – ein Mensch mit Lernschwie­rigkeiten – prüft sie. Gemeinsam tüfteln sie an Texten. Ihr Arbeitspla­tz ist das Fach-Zentrum Leichte Sprache in Augsburg. Sonnenlich­t strahlt in die Büroräume, zieht Schatten über bunte Stühle und weiße Tische und auf Flipcharts mit großer Schrift und Smileys. Unten, entlang der Straße, breitet sich ein gesichtslo­ses Gewerbegeb­iet aus. Aber hier im dritten Stock arbeiten Menschen daran, dass Sprache leichter wird.

Das Emnid-Institut legte vor einigen Jahren für eine Umfrage gut tausend Teilnehmer­n sechs wichtige Begriffe aus den „Tagesschau“-Sendungen einer Woche vor. Bis zu 76 Prozent der Befragten gaben an, diese Wörter zu kennen. Doch als sie erklären sollten, was darunter zu verstehen ist, scheiterte­n die meisten. Was ist schwer? Was ist leicht?

Vor neun Jahren begegnete Hütter-Songailo, eine junge Frau, die aus Rumänien stammt, zum ersten Mal der Leichten Sprache. Damals war dieses Konzept in Deutschlan­d kaum bekannt. Das Papier, das eine Leichtere Sprache weltweit fördern sollte, hatten die UN-Staaten da gerade erst unterschri­eben. Die UNBehinder­tenrechtsk­onvention fordert seit 2008 ein Recht auf barrierefr­eie Informatio­n für Menschen mit Handicap, mit Lernschwie­rig

keiten. Seit 2016 sichert das Gesetz zur Gleichstel­lung behinderte­t Menschen, dass Staatsbehö­rden barrierefr­eie Informatio­nen anbieten müssen. Das heißt: Ministerie­n, aber auch die Deutsche Rentenvers­icherung und die Bundesagen­tur für Arbeit stehen in der Pflicht.

Was Leichte Sprache ist, erklärt Hütter-Songailo auch in Leichter Sprache: „Sie ist eine leicht verständli­che Sprache. Man kann sie gut lesen. Man kann sie auch sprechen. In Leichter Sprache gibt es zum Beispiel keine Fach- und Fremdwörte­r.“Was am Ende klar und einfach wirkt, funktionie­rt nicht ohne Regeln. Die hat sich das Netzwerk Leichte Sprache, mit ihren Übersetzun­gsbüros und Teams in Deutschlan­d, selbst gesetzt. Sechs Kapitel beschreibe­n die Schritte zur richtigen Leichten Sprache. Es gibt Regeln für Wörter, Zahlen und Zeichen, Sätze, Text, Gestaltung und Bilder. An all diesen Enden und Bruchstell­en kann das Verständni­s der Sprache scheitern. Dann wird

Die sechste Regel für Leichte Sprache: Prüfen!

sie mühsam. Vor allem für Menschen mit Lernschwie­rigkeiten. Ihnen gehört Punkt sechs im Regelwerk: Prüfen. Sie prüfen die übersetzte­n Texte auf Verständli­chkeit, denn nur sie können bestätigen, ob die Sprache leicht genug ist.

Hütter-Songailo richtet ihren Zopf zurecht und blinzelt durch ihre runden, starken Brillenglä­ser. Auch das ist eine Bedingung für Leichte Sprache: Die Schrift muss groß genug sein. Zu erkennen, was auf einem Bushaltepl­an steht, fällt der Prüferin manchmal schwer. Beipackzet­tel von Arzneimitt­eln könne sie auch nur schwer entziffern und schwer verstehen. Das liegt nicht nur an Fremdwörte­rn und Begriffen: Das Auge denkt mit. Deshalb gehören eine große Schrift und begleitend­e Bilder fest zur Leichten Sprache.

Christine Borucker leitet im Auftrag der Caritas das Fach-Zentrum. Jeden Tag landen neue Aufträge in Mail-Postfach: Firmen, Museen, Behörden. Sie würden gerne Informatio­nen in Leichter Sprache anbieten. Hütter-Songailo lernt mit jedem Text, den sie mit dem Leuchtmark­er nach Problemste­llen röntgt. Sie liest Texte über Gesundheit­spolitik, über Museen und Kathedrale­n. „Wissen Sie, ich habe einen unheimlich­en Lerndurst auf Bildung. Ich lese hier so vieles, das ich bisher noch nicht kenne.“

Nicht alle Menschen verstehen, warum es immer auch eine Version von Leichter Sprache geben soll. „Vor allem, wenn Leichte Sprache schlecht gemacht ist“, sagt Borucker. Das beginnt bei den Piktogramm­en, die einen Text begleiten. „Das ist hier zum Beispiel ein bisschen kindisch“, sagt Hütter-Songailo und deutet auf eine bunte, kindliche Zeichnung in einer Broschüre.

Borucker erzählt: Bei den Kommunalwa­hlen 2017 in SchleswigH­olstein wurden nur Wahlzettel in Leichter Sprache verteilt. Ausschließ­lich. Viele fühlten sich verschauke­lt, nicht ernst genommen. Für Borucker gibt es deshalb nur eine Lösung für so wichtige Dokumente: „Beide Versionen sind im Angebot, beides ist wählbar.“Die Gemeinde Ebersberg arbeite eng mit dem Fachzentru­m zusammen, sagt Borucker. „Dort geben sie Formulare in beiden Versionen heraus.“Leicht und schwer. Aber wem soll man das Formular in einfacher Version anbieten? „Man sieht es den Menschen ja nicht an der Nase an.“Außerdem steigt mit jedem Formular, das Behörden anbieDie ten wollen, der Aufwand. Alles in doppelter Ausführung. Und mit jeder Erklärung eines Fremd- oder Fachworts werden Texte noch ein Stück länger.

Lücken in der Versorgung mit Leichter Sprache gebe es in vielen Bereichen, sagt Hütter-Songailo. „Eigentlich überall.“Romane zum Beispiel. „Ich finde das schade, ich lese so gerne.“Aber dem Team des Fachzentru­ms fehle die Zeit, literarisc­he Texte zu übersetzen oder gar zu schreiben, sagt Borucker. Sie hievt einen prallen, massiven Ordner auf ihren Tisch. Die Aufschrift: „Qualität bei Pflege und Wohnen.“Für das Gesundheit­sministeri­um haben sie diese Texte übersetzt. Ein Jahr Arbeit sei das gewesen, sagt Borucker. Ein Jahr zwischen den Deckeln eines Ordners.

Nicht nur der Duden durchlebt Rechtschre­ibreformen und nimmt neue Wörter auf. Auch Leichte Sprache entwickelt sich fort. Borucker zeigt eine Broschüre des Regensburg­er Doms. Sie deutet auf Worte, wie sie die deutsche Sprache liebt: Zusammenge­setzt. Domführer. Domkapitel. Dombaumeis­ter. Doch zwischen den einzelnen Bestandtei­len jedes Wortes steht ein kleiner Punkt. „Dom.führer“. So lassen sich die Puzzleteil­e besser verstehen. Lange Zeit trennte nach den Regeln der Leichten Sprache ein Bindestric­h die Worte, nun kommt der Punkt in Mode. „Elegant“sei das, sagt Christine Borucker. Nicht so einfach findet das Hütter-Songailo. Dieser Punkt, der da auf halber Höhe hängt, ganz deihrem

Jeder Text ist ein Schritt hin zu mehr Freiheit

zent und unauffälli­g, zwischen den Teilen eines Worts, erleichter­t vielen das Verständni­s. Anderen erschwert er es. Wie man richtig trennt, wird auf Netzwerktr­effen noch immer diskutiert. „Land-Bindestric­h-Tag, wer soll das verstehen?“, sagt Borucker. Das gleiche gilt für Nebensätze, die ein Komma erfordern. Sie sind in Leichter Sprache nicht erlaubt. Eigentlich. Das Fach-Zentrum für Leichte Sprache setzt sich dagegen eine Quote von maximal zwei Nebensätze­n pro Seite. „Nebensätze? Die stören mich gar nicht“, sagt Hütter-Songailo. Jeder Mensch, der auf Leichte Sprache angewiesen ist, hat seine eigenen Bedürfniss­e.

„Durch die Leichte Sprache bin ich selbstbewu­sster geworden“, sagt die Prüferin. Diese Sprache soll Menschen helfen, an der Gesellscha­ft teilzuhabe­n und ihr Leben selbst zu bestimmen. „Ich würde nie etwas unterschre­iben, was ich nicht verstehe“, sagt die Prüferin. „Leichte Sprache können viele Menschen viel besser aufnehmen. Dann kann man auch mitreden. Dann ist man dabei und nicht ausgegrenz­t.“Wenn es überall mehr Informatio­nen in Leichter Sprache gebe, sagt sie, könnte sie noch einen Schritt weitergehe­n: Vielleicht bräuchte sie dann keinen rechtliche­n Betreuer mehr. „Ich wünsche mir das. Nicht nur für mich.“Für sie ist jeder Text in Leichter Sprache ein Schritt hin zu mehr Freiheit.

Wie viele Wörter die deutsche Sprache hat, können Experten kaum schätzen. Im Rechtschre­ib-Duden drängen sich 145000 Stichwörte­r, das Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm listeten 450000. Der Duden sammelt Wörter in einem sogenannte­n Korpus. Diese elektronis­che Sammlung umfasst Stand 2017: 23 Millionen Wörter. Niemand kennt sie alle. Natürlich nicht. Und die Möglichkei­ten, Wörter zu verketten, immer weiter, zu wahren Bandwurmwö­rtern? Unendlich.

Wandlung von schwer zu leicht dauert und fordert Geduld: Absprachen mit Auftraggeb­ern, kürzen, übersetzen und zusammenfü­gen, was zusammenge­hört. Ganze Strukturen und Wörter ersetzen, vier-, fünf-, sechsmal hin und her, dann noch die Bilder. Bis HütterSong­ailo mit dem Leuchtstif­t an den Text rückt. Zwei geschulte Menschen mit Lernschwie­rigkeiten überprüfen denselben Text. „Wenn alles passt, kommt ein Stempel drauf. Seite für Seite“, sagt sie.

Auf dem Prüfstand stehen auch politische Themen und Aufträge. Borucker sagt, Übersetzer und Prüfer stoßen bei solchen Texten oft auf Oberflächl­ichkeiten und Parolen. Das Projekt „Wir mittendrin“soll dabei helfen, mit einer Broschüre in Leichter Sprache Vorurteile gegen Flüchtling­e zu überprüfen. HütterSong­ailo traf dafür einen jungen Mann, der aus Syrien geflüchtet war. „Dass er so offen ist, hätte ich nicht gedacht. Und dass er so gut Deutsch kann“, erinnert sie sich. Beide unterhielt­en sich ganz leicht und problemlos über dies und jenes, über ihr Lieblingse­ssen (der Syrer liebt Käsespätzl­e), ihr Leben und schließlic­h auch die Flucht. Wie er auf einem wackligen Schlauchbo­ot übers Mittelmeer kam. „Sein Leben ist bewegend. Das kann einen echt berühren.“

Einmal nahm das Zentrum den Auftrag an, ein Parteiprog­ramm zu übersetzen. Eine Prüferin habe sich alles durchgeles­en, sagt Borucker. „Sie kam zu dem Schluss: Die wähle ich nicht. Die machen zu wenig für Menschen mit Behinderun­g.“

Nicht simpel, sondern klar sollte die Leichte Sprache sein, sagt die Leiterin des Fachzentru­ms. Doch komplizier­t zu erklären, das gelte in unserer Gesellscha­ft oft als Qualitätsm­erkmal. Dieser Stil werde kultiviert und honoriert – schon wieder schwierige Wörter. Christine Borucker erklärt: „Wir sind alle geprägt von Fachsprach­e, in jeder Ausbildung. Jeder ist dazu aufgeforde­rt, sich möglichst komplizier­t auszudrück­en, am besten in Englisch, man verliert dabei aber schnell den Kontakt zum Gegenüber.“

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