„Der Draht nach oben muss stimmen“
Religion Am Sonntag Gottesdienst, unter der Woche die Predigt vorbereiten. Aber was macht ein Priester die restliche Zeit? Pfarrer Thomas Demel aus Klosterlechfeld schlüpft in viele Rollen – vom Seelsorger bis zum Lehrer
Thomas Demels Beruf würde niemand erraten, der ihn auf der Straße trifft. Der schlanke 39-Jährige mit lichtem Haar und Brille könnte als Lehrer durchgehen oder als Seelsorger. Vielleicht arbeitet er auch in der Verwaltung. Tatsächlich ist er ein bisschen von alldem: Die Aufgaben von Pfarrer Demel sind vielseitig.
Demel ist keiner der Geistlichen, die man sofort an dem weißen Kollar am Kragen erkennt: Mit weißem Hemd unter schwarzem Pullover sitzt der Pfarrer am Freitagvormittag völlig weltlich gekleidet im Klosterlädle. Einmal im Monat treffen sich hier Menschen zum gemütlichen Beisammensein, berichtet Demel. Vor allem Alleinstehende oder Trauernde nehmen das Angebot an. Heute ist er jedoch nicht zum Plaudern hier. Auf dem Tisch vor ihm liegen ein Stapel Papier und sein Handy. Letzteres wird er die nächste Stunde nur aus der Hand legen, um die jeweils nächste Nummer aus seinen Unterlagen herauszusuchen.
Das erste Telefonat gilt einem befreundeten Pfarrer: Demel sucht für seinen Urlaub eine Gottesdienstvertretung. Doch so einfach scheint das nicht zu sein: Zuerst landet der Anruf im Pfarrbüro des Kollegen, dann gibt sein Telefon die Musik einer Warteschleife zum Besten. Der Pfarrer erträgt sie mit regungsloser Miene. Sein Tonfall bleibt auch freundlich, nachdem ihm die Frau am anderen Ende der Leitung vertrösten muss. Sie versichert ihm aber, dem Kollegen einen Zettel ins Fach zu legen.
Demel legt auf, blättert durch die zahlreichen Notizzettel, die die beiden Damen im Pfarrbüro in Klosterlechfeld ihm geschrieben haben, und zieht zielstrebig einen heraus. Er wählt die Nummer der verletzten Mesnerin, dann die der Seniorin, die nicht mehr in die Kirche gehen kann und eine Krankenkommunion braucht – sie ist nicht erreichbar. Die nächste Notiz erinnert ihn an eine Trauerbegleitung.
Während sich Demels Stimme bei den vorangegangenen Telefonaten stets zwischen freundlich und fröhlich bewegt, spricht er diesmal zurückhaltend. Er erkundigt sich nach dem Befinden der Frau, deren Mutter bald an einer unheilbaren Krankheit sterben wird. Dann hört er lange aufmerksam zu. Ob sie einen Ansprechpartner habe, mit dem sie über die Sache reden könne? Die Frau bejaht. Demel nimmt sich viel Zeit. Gegen Ende des Gesprächs klingt seine Stimme belegt. Zuletzt wünscht er viel Kraft und Gottes Segen. Dann legt er auf. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er noch drei Minuten Zeit hat, um in die zwei Kilometer entfernte Schule in Untermeitingen zu kommen. Er wird sich also verspäten. Als er im Auto sitzt und mit wild baumelndem Kruzifix am Rückspiegel in Richtung Untermeitingen fährt, hat er die Trauerstimmung abgestreift. Ob ihn solche Gespräche belasten? „Manche Fälle gehen mir schon nahe“, sagt Demel. Deshalb bereite er sich immer gut vor: „Heute bin ich mit einem halbstündigen Gebet in den Tag gestartet. Gerade für so schwierige Gespräche wie dieses muss der Draht nach oben stimmen.“Es komme vor, dass er bei Trauergesprächen mitweine.
„Eigentlich wollte ich Lehrer für Latein, Griechisch und Religion werden“, erinnert sich Demel. Ins Priesterseminar habe er nie gewollt, doch dann sei er genau dort gelandet. „Ich will mehr Seelsorger sein als Verwaltungsmensch, weil es genug Menschen mit zerbrochenem Leben gibt“, sagt er. Doch die vielen Aufgaben in Lagerlechfeld, Klosterlechfeld, Obermeitingen, Untermeitingen und Graben machen ihm das schier unmöglich. Hat er dann einmal Zeit für die Nöte seiner Schäfchen, ist sie viel zu knapp: „Wenn ich einem Menschen helfe, muss ich zwei andere enttäuschen, für die ich dann keine Zeit habe.“
Im Klassenzimmer angekommen zeigt an der Stirnwand ein großes Holzkreuz mit einem sterbenden Heiland den Zweck der kommenden Doppelstunde an. Die dritte Klasse begrüßt ihren Religionslehrer stehend mit einem lang gezogenen „Guten Morgen, Herr Pfarrer Demel.“Dann geht es weiter mit „Vater unser“und „Gegrüßet seist Du, Maria“. Begrüßung und Gebete leiern die Schüler im gleichen teilnahmslosen Tonfall herunter. Anschließend packt Demel eine Probe aus, geprüft werden das Schuldbekenntnis und der Aufbau eines Gottesdienstes. Nach diesem dreiviertelstündigen Pflichtprogramm geht es endlich los mit dem eigentlichen Unterricht. Die Kinder können ihren Herrn Pfarrer Demel gut leiden. Sie sind interessiert bei der Sache, als es um die Geschichte vor der Geburt Jesu geht. Demel fragt und erklärt, macht immer wieder Witze, gestikuliert wild herum und sichert sich mit seinem lebendigen Unterricht die Aufmerksamkeit der Klasse. Nur wenn er einen Schüler zurechtweist, wird seine Stimme plötzlich ernst und sein Blick streng.
Im Unterricht geht es zum ersten Mal an Demels Arbeitstag um Glaubensinhalte. Die kommen seiner Ansicht nach viel zu kurz in seinem Beruf. „Wir sollten zum Kerngeschäft kommen, über Christus reden“, sagt er. Stattdessen gehe es in der öffentlichen Debatte nur um Strukturen wie den Zölibat, Priesterinnen und Missbrauchsskandale. Die Gottesdienste und die seelsorgerische Begleitung von der Wiege bis zur Bahre gefallen ihm am besten in seinem Beruf. Doch am meisten hat er mit der Verwaltung seiner Gemeinden zu tun.
„Jeder Bürgermeister hat Stellvertreter, aber ich als Pfarrer nicht“, kritisiert er. Dann huscht ein Lächeln über seine Lippen. „Ich bin sozusagen Wanderprediger, ständig pendle ich hin und her.“Sein Auto ist nicht nur sein Transportmittel, sondern auch seine Basis: Während der Fahrt telefoniert der Pfarrer oft – natürlich mit Freisprechanlage – und hat diverse Ausrüstung für die Notfallseelsorge auf dem Rücksitz – unter anderem eine spezielle Warnweste. Denn immer wieder übernimmt er Notfallschichten und kümmert sich dann zum Beispiel bei schweren Verkehrsunfällen um die Betroffenen.
Um seinen zeitlichen Aufwand zu reduzieren, versucht Demel, bestimmte Dinge zu zentralisieren. Das geht aber nur bedingt: Die Gemeinden seien zum Beispiel gegen einen gemeinsamen Fronleichnamsumzug. „Aber es wird so kommen, wenn manche Gemeinden nicht mehr genug eigene Kräfte dafür haben“, sagt Demel. Damit spielt der Pfarrer auf das steigende Alter der Mitglieder an – und auf das sinkende Interesse an der Kirche. Davon zeugen auch die Austrittsberichte, die er regelmäßig auf den Tisch bekommt.
Über den Tag verteilt schlüpft Demel in immer neue Rollen. Im persönlichen Gespräch ist er ein nahbarer Mitmensch, bei der Erstkommunionsvorbereitung der technische Leiter und im Klostergarten kommt der kleine Junge in ihm durch: Begeistert sitzt er auf einem Traktor und lädt Gartenabfälle auf einen Anhänger. Erst am Abend zieht er sich das Priestergewand zum Gottesdienst an.
Seine Stimme füllt eindringlich das goldverzierte Kirchenschiff, seine Gesten sind erhaben. Er feiert seinen Gott und seinen Glauben für sich und die Anwesenden. Deren Zahl hält sich allerdings in Grenzen: Nur 16 überwiegend alte Gläubige nehmen an der Freitagsmesse teil und sitzen verstreut in den Bänken, die Hunderten Menschen Platz bieten. Bei diesem Anblick erscheint die viele Verwaltungsarbeit Demels sinnlos. Der Pfarrer macht hingegen einen zufriedenen Eindruck. Er genießt gerade die religiöse Seite seines Berufs, den er ursprünglich gar nicht wollte.
Die Gemeindemitglieder werden immer älter, das Interesse an der Kirche sinkt