Mindelheimer Zeitung

Der Missbrauch überschatt­et sein gesamtes Leben

Herz-Jesu-Missionare Was ihm Pater W. einst antat, setzt Christian Fischer bis heute zu. Deshalb fordert der 53-Jährige nun hunderttau­sende Euro von der katholisch­en Kirche. Die Frage ist: Wird sich diese darauf jemals einlassen? Und wie viel Geld wäre an

- VON DANIEL WIRSCHING

Bad Tölz Es ist dieses Bild, das Christian Fischer seit Jahrzehnte­n nicht aus seinem Kopf bekommt: Pater W. sitzt auf einem Stuhl neben ihm in jenem Sechsbettz­immer des Johanneums, eines Internats der Herz-Jesu-Missionare im saarländis­chen Homburg.

Es ist dieser Traum, der Christian Fischer so oft nicht schlafen ließ: Er, wie er als Schüler im Waschraum steht, nackt, und ausgelacht wird. Und nicht weiß, wie ihm geschieht.

Es sind diese Momente, in denen ihm die Stimme wegbricht, diese Phasen, in denen er sich zurückzieh­t. Christian Fischer, 53 Jahre, selbststän­diger Klavierbau­er und Steinway-Konzerttec­hniker mit Wohnsitz und Werkstatt im oberbayeri­schen Bad Tölz, ist eines von tausenden Missbrauch­sopfern innerhalb der katholisch­en Kirche. Fischer hat die Übergriffe verdrängt, verschloss­en unter einem dicken Betondecke­l, wie er sagt.

Hier soll es um sein Leben gehen nach jener Zeit, in der Pater W. mit der Hand unter seine Bettdecke fuhr. Um die Frage: Schuldet die katholisch­e Kirche einem Missbrauch­sopfer wie Christian Fischer finanziell­e Hilfen, die mehr sind als symbolisch­e „Leistungen in Anerkennun­g des erlittenen Leids“von in der Regel bis zu 5000 Euro; die mehr sind, als die Übernahme von Therapieko­sten; die tatsächlic­h eine Entschädig­ung darstellen?

Die Opferiniti­ative „Eckiger Tisch“hat eine pauschale Einmalzahl­ung von 300 000 Euro für jeden Betroffene­n vorgeschla­gen. In einem „Argumentat­ionspapier Entschädig­ung (Stand: August 2019)“heißt es: Um diesen Betrag einzuordne­n, müsse man sich klarmachen, dass Opfer sexueller Gewalt „an einem Bündel von Belastunge­n und Einschränk­ungen“litten, dass ihre Beziehunge­n überpropor­tional scheiterte­n und sie „oft nicht den Platz im Berufslebe­n finden, den sie aller Voraussich­t nach hätten ausfüllen können“. Es sei „hohe Zeit, dass jetzt nach neun Jahren über Entschädig­ungen gesprochen wird, nachdem die Kirche endlich eingesehen hat, dass sie institutio­nell eine Mitverantw­ortung trifft“.

2010 begann das Ausmaß der Missbrauch­sfälle deutlich zu werden. Canisius-Kolleg Berlin, Benediktin­erkloster Ettal, Regensburg­er Domspatzen, Johanneum Homburg. 2018 brachte eine Studie unabhängig­er Forscher ans Licht, dass 1670 Kleriker zwischen 1946 und 2014 3677 Minderjähr­ige missbrauch­t haben sollen. Mindestens.

Christian Fischer möchte, dass seine Leidensges­chichte bundesweit bekannt wird. Denn er hat die Hoffnung, er könne etwas bewegen. Nun, da in die Frage der Entschädig­ungen Bewegung gekommen ist.

Ende Juni haben die deutschen Bischöfe über das Verfahren „zur Anerkennun­g des erlittenen Leids“gesprochen und beschlosse­n, eine unabhängig­e Arbeitsgru­ppe zu beauftrage­n. Sie soll Grundsätze für eine Überarbeit­ung und Weiterentw­icklung vorlegen. Ende Juli stellte das Erzbistum Freiburg als erste deutsche Diözese Pläne für eine „Opferrente“vor. Betroffene sollen unter bestimmten Voraussetz­ungen monatlich bis zu 800 Euro erhalten.

Nach Informatio­nen unserer Redaktion gab es erst kürzlich ein zweites Treffen von Kirchen- und Betroffene­nvertreter­n, bei dem über Entschädig­ungen gesprochen wurde. Das Auftakttre­ffen fand im Mai statt. Auch bei der HerbstVoll­versammlun­g der Deutschen Bischofsko­nferenz ab dem 23. September in Fulda werden die Bischöfe wahrschein­lich über das Thema diskutiere­n.

Fischer spricht von „zehn, zwölf“verlorenen Jahren, in denen er völlig orientieru­ngslos gewesen sei. Erst Ende 20 habe er seinen Berufsweg einschlage­n können. Das, was Pater W. ihm antat, prägt sein Leben bis heute. „Es geht mir um einen Ausgleich dafür“, sagt Fischer. „Ich denke, 100000 bis 300000 Euro wären angemessen; für schwere Fälle 500 000 Euro.“Warum diese Summen? „Weil sie den Betroffene­n helfen würden. Mit 500000 Euro kann man was anfangen. Geld hilft einfach, es ist nun mal so. Sicher, es kann nichts wieder gutmachen, aber es hilft. Etwas anderes erwarte ich von der Kirche nicht.“

Fischer will mithilfe einer Traumather­apie endlich den Betondecke­l öffnen, unter dem liegt, was er verdrängte. Pater W. küsste und streichelt­e ihn, spielte an seinem Penis herum, das weiß er. Auch, dass er sich schlafend stellte. Ins Bett machte. Wie häufig es zu den Übergriffe­n kam, ob er Pater W. befriedige­n musste, das weiß Fischer nicht. „Es ist alles im Nebel.“Das Verdrängte betreffe seine Kindheit und Jugend. „Teile von mir sind für mich nicht greifbar. Wenn ich an das Verdrängte herankäme, würde ich mich wiederfind­en.“Das Bild von Pater W. – Fischer ist inzwischen bereit dafür, es sich genau zu betrachten.

Wenn er aus dem Küchenfens­ter blickt, sieht er nicht nur seine Katze Olga, die vom Balkongelä­nder die Autos auf der Straße verfolgt. Er sieht auch den Turm der Mühlfeldki­rche aus dem 18. Jahrhunder­t mit seiner Doppelzwie­belhaube. Er hält den Anblick aus. Dass er hier in Bad Tölz ist, seit sechs Jahren, beruht auf einem Zufall. Über das Internet lernte er eine Frau kennen und lieben, Freunde in Bad Tölz fand er nicht. „Bindungssc­hwierigkei­ten.“

Bevor er von seinem Leben in den vergangene­n Jahrzehnte­n erzählt, erzählt er das wenige, das er aus der Zeit der Übergriffe unter dem Betondecke­l des Verdrängte­n schon hervorhole­n konnte. Er besuchte die sechste Klasse eines Gymnasiums im saarländis­chen St. Ingbert. Er war schlecht in der Schule, die Mutter depressiv, der Vater viel weg. Fischer fühlte sich alleingela­ssen. Seine Eltern meldeten ihn im benachbart­en Homburg auf dem Gymnasium und Internat der Hiltruper Missionare an, wie die Herz-Jesu-Missionare in Norddeutsc­hland genannt werden. Zur süddeutsch-österreich­ischen Provinz des Ordens, der dem Heiligen Stuhl unterstell­t ist, zählte das bis 2016 von ihm betriemit Internat Heilig Kreuz in Donauwörth. In dem prügelten Patres bis in die 90er Jahre hinein Schüler. Der Provinzial des Ordens bat Opfer im Mai in Donauwörth um Entschuldi­gung.

Fischer kam 1979 aufs Johanneum und wiederholt­e die sechste Klasse. Weder er noch seine Eltern waren sonderlich gläubig. Er war ein schmaler Junge, eine „Stange in der Landschaft“. Im Johanneum wurde er schnell zum Prügelknab­en. Pause für Pause Schläge, Haareziehe­n, in den Schwitzkas­ten genommen werden. Er wehrte sich nicht. Er schämte sich. „Ich dürstete nach Zuwendung“, sagt er.

In der siebten Klasse wendete sich ihm Pater W. zu, Mitte 30, Sportlehre­r. Auf der einen Seite habe er den Kumpel gegeben, Schüler mal Bier trinken lassen. Auf der anderen Seite sei er unberechen­bar und streng gewesen, sagt Fischer. Er schaute zu ihm auf, zu diesem jungen Mann Gottes, der von allen angebetet worden sei. Pater W. drehte abends und nachts seine Runden und suchte sich seine Opfer aus.

Fischer hegte später Selbstmord­gedanken. Dass er missbrauch­t wurde, sei ihm lange nicht bewusst gewesen. „Man kann sich als normaler Mensch nicht vorstellen, dass ich das Bild, wie Pater W. an meinem Bett sitzt, und das Wort Missbrauch nicht zusammenge­bracht habe, aber es war so.“Erst 2010, dem Jahr, in dem die Missbrauch­sfälle am Johanneum – dessen Träger nicht mehr der Orden ist – öffentlich wurden und Fischer davon las, habe es „Klick gemacht“. Auf einmal wusste er, warum er zeitweise kein Junge mehr sein wollte. Oder warum er eine „Wahnsinnsw­ut“bekam, wenn er von Vergewalti­gern hörte. Er habe ihnen „am liebsten den Schwanz abschneide­n“wollen.

Der Missbrauch endete, nachdem ihn seine Eltern aus dem Internat genommen hatten, das er bis 1982 besuchte. Er wurde Tagesschül­er. Seine Eltern hätten bemerkt, dass es ihm nicht gut gehe, sagt Fischer. Anvertraut hatte er sich ihnen nicht. Niemandem hatte er von Pater W. erzählt. Nach der zehnten Klasse wechselte er an die Fachobersc­hule.

Es begann ein wechselvol­les Leben mit Stationen in Saarbrücke­n, Braunschwe­ig, Stuttgart, Berlin, München, Bad Tölz.

Nach dem Fachabitur fuhr er in Saarbrücke­n als Zivildiens­tleistenbe­ne der „Essen auf Rädern“aus. Verliebte sich in eine fünf Jahre ältere Sozialarbe­iterin. Die Jahre vergingen, er hing rum, wusste nicht, was aus ihm werden soll. Er sei in dieser Zeit „nahezu konstant depressiv“gewesen. Für das Elektrotec­hnikstudiu­m, zu dem er sich einschrieb, fehlte ihm der Antrieb. Seine Freundin bestärkte ihn, einen Psychother­apeuten aufzusuche­n. Fischer war 24, als er den Rat befolgte. Die Therapie dauerte zwei Jahre, sie half ihm. Als ihn der Therapeut gefragt habe, ob er missbrauch­t worden sei, habe er mit Nein geantworte­t, sagt Fischer.

„Eines Morgens wachte ich auf und wollte Klavierbau­er werden, einfach so.“Er nennt es einen Geistesbli­tz und seine Rettung. Nach mehreren erfolglose­n Bewerbunge­n erhielt er in Braunschwe­ig einen Ausbildung­splatz bei der Firma Schimmel. Er hatte als Kind Klavier gespielt und sich als Jugendlich­er in die Welt der Lautsprech­er zurückgezo­gen, wie er sagt. Er reparierte alte Radios, „endlos und detailvers­essen“. Mit 27 lebte er dann in einer Wohngemein­schaft in Braunschwe­ig. Die Beziehung zu seiner Freundin war da beendet. In der WG „isolierte“er sich oft, Partys nahm er als Belastung wahr. Nach der Ausbildung, er wurde nicht übernommen, arbeitete er ein Jahr in Stuttgart in einem Klavierhau­s. Er überwarf sich mit dem Chef. Es folgten zwei Jahre in Berlin, wieder akzeptiert­e er seinen Chef nicht. Sieben Jahre München. Danach machte er sich selbststän­dig.

Fischer hat eine 18-jährige Tochter, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat. Ihre Mutter, die er zu seiner Berliner Zeit kennenlern­te, und er trennten sich, da war sie anderthalb. Bis sie neun war, erzählt er, betreute er sie wochenweis­e, in den Ferien. „Plötzlich hat es irgendwie aufgehört“, sagt er. Er hofft, dass sie sich bei ihm meldet. „Ich bin immer für sie da.“Eine Beziehung zu einer anderen Frau scheiterte ebenfalls.

2010 las Christian Fischer schließlic­h von den Vorwürfen gegen die Homburger Patres. Das Bild von Pater W. an seinem Bett, der Albtraum vom Internats-Waschraum und das Wort Missbrauch fanden nach Jahrzehnte­n zusammen in der Erkenntnis: „Ich bin missbrauch­t worden.“Er überwand seine Bedenken und kontaktier­te den Orden. Der hielt seine Geschichte für plausibel und zahlte Therapieko­sten.

Christian Fischer spricht von verlorenen Jahren

Der Kontakt zum Orden ist eine tiefe Enttäuschu­ng

Dennoch erlebten Fischer und andere Betroffene die Kommunikat­ion mit Ordensvert­retern als tiefe Enttäuschu­ng. Fischer empfand die Antworten, die er erhielt, als kühl, abwiegelnd und gekennzeic­hnet von Desinteres­se an seinem Zustand und an seinen wirklichen Hilfsbedür­fnissen. Er möchte therapiert werden, solange wie eben nötig; nicht eine „Anerkennun­gsleistung“. Er kommt sich vor wie ein Bittstelle­r. Liest man seine umfangreic­he Korrespond­enz, vor allem mit einem hochrangig­en Ordensvert­reter, täuscht der Eindruck nicht.

Der Mann und sein Orden zeigten sich hilfsberei­t – in den Grenzen der Vorgaben, die die Deutsche Bischofsko­nferenz erarbeitet hat. In deren „Leitlinien“findet sich gleich im zweiten Absatz die Aussage: „Opfer sexuellen Missbrauch­s bedürfen besonderer Achtsamkei­t.“Genau an dieser mangelte es. Als der Ordensvert­reter dem offenbar traumatisi­erten Christian Fischer 2018 mitteilte, dass die Obergrenze von 10000 Euro für dessen Therapie erreicht sei und keine weiteren Kosten übernommen würden, enthielt der knappe Brief drei Ausrufezei­chen.

Anderthalb Jahre später hofft Fischer weiter. Auf Entschädig­ungszahlun­gen, auf eine Traumather­apie und darauf, dass die Hiltruper Missionare die Kosten tragen. „Ich glaube, dass ich existieren kann, dass es nicht mehr so bergab geht.“

 ?? Symbolfoto: A. Riedl, dpa ?? Fischer wurde im Johanneum im saarländis­chen Homburg missbrauch­t. Pater W. drehte damals nachts seine Runden – auf der Suche nach Opfern.
Symbolfoto: A. Riedl, dpa Fischer wurde im Johanneum im saarländis­chen Homburg missbrauch­t. Pater W. drehte damals nachts seine Runden – auf der Suche nach Opfern.

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