Mindelheimer Zeitung

Zwischen Leben und Tod

Gesundheit Seit knapp sieben Jahren wartet Nicole Andree vergeblich auf eine Spendernie­re. Heute blickt die 59-Jährige mit gemischten Gefühlen nach Berlin, wo der Bundestag eine Entscheidu­ng über Organspend­e fällt

- VON ALF GEIGER

Bad Wörishofen/Türkheim Heute entscheide­t der Bundestag über die sogenannte Widerspruc­hsregelung für Organspend­e, konkret über zwei Vorstöße für neue Spenderege­ln. Beide haben das Ziel, angesichts von knapp 10.000 Schwerkran­ken auf den Warteliste­n zu mehr Organspend­en zu kommen. Beide sehen dafür ein neues zentrales Register vor, in dem Ärzte vor Transplant­ationen Erklärunge­n Verstorben­er abfragen können. Im Kern geht es aber um gegensätzl­iche Vorschläge: Eine Gruppe um Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) und den SPD-Fachpoliti­ker Karl Lauterbach will das bisherige Prinzip radikal umkehren, wonach Organentna­hmen nur mit ausdrückli­ch erklärtem Ja zulässig sind.

Sie streben eine „doppelte Widerspruc­hslösung“an, mit der alle Bürger automatisc­h als Spender gelten sollen, solange sie nicht widersprec­hen. Spahn sagte dem Tagesspieg­el, damit werde es nach seiner Überzeugun­g einen kulturelle­n Wandel geben. „Normal wäre dann die Bereitscha­ft zur Spende. Aktiv müssten nicht mehr diejenigen werden, die das wollen, sondern die, die für sich entscheide­n, dass sie nicht Organspend­er sein möchten.“

Die andere Gruppe um GrünenChef­in Annalena Baerbock und die Linke-Vorsitzend­e Katja Kipping lehnt einen derart tiefen Eingriff in die Selbstbest­immung ab. Sie schlägt vor, alle Bürger mindestens alle zehn Jahre beim Abholen des Ausweises auf das Thema Organspend­e anzusprech­en.

Die Türkheimer­in Nicole Andree blickt mit sehr gemischten Gefühlen auf diese Entscheidu­ng. Sie selbst wartet seit fast sieben Jahren auf eine Spendernie­re – bislang vergeblich. Jahrelang war Nicole Andree Patientin im Dialysezen­trum in Bad Wörishofen, seit der Schließung der Spezialpra­xis in der Kneippstad­t musste sie und andere Patienten ins Dialysezen­trum nach Mindelheim ausweichen. Dort werden derzeit rund 90 Dialysepat­ienten aus der Region medizinisc­h betreut.

Nach dem ersten Schock über die Schließung in Bad Wörishofen ist die 59-Jährige jetzt erst einmal froh, in Mindelheim eine passende medizinisc­he Versorgung gefunden zu haben. Denn ohne das Dialyseger­ät, an dem sie alle zwei Tage ihr Blut gewaschen bekommt, wäre Nicole Andree längst tot.

Denn Nicole Andree hat keine funktionie­renden Nieren mehr, seit sie eine mysteriöse Krankheit buchstäbli­ch aus dem Leben gerissen hat. Die Diagnose lautete Goodpastur­eSyndrom, eine äußerst seltene Autoimmune­rkrankung. Von einer Million Menschen erkranken statistisc­h nur 0,5 bis eine Person an dieser nach dem amerikanis­chen Pathologen Ernest William Goodpastur­e benannten Krankheit.

Innerhalb von 14 Tagen war aus der sportliche­n, lebensfroh­en und lebensbeja­henden Frau („Ich fühlte mich pumperlges­und“), die als Grafik-Designerin gearbeitet und sich mit einem kleinen Reiterhof einen „Lebenstrau­m“erfüllt hatte - eine todkranke Patientin geworden, die wochenlang dem Tod näher war als dem Leben.

„Bettlägeri­g, ein totaler Pflegefall. Ich konnte nichts mehr alleine machen. Ich war mehr tot als lebendig“, so beschreibt Nicole Andree heute ihren Zustand damals. Ob sie überlebt? Sie wusste es nicht. Knapp ein halbes Jahr sollte es dauern, ehe sie nach mehreren komplizier­ten Operatione­n wieder etwas Hoffnung schöpfen konnte.

Schritt für Schritt habe sie kämpfen müssen, sagt sie. Und das ist keineswegs symbolisch gemeint: Sie habe kaum noch selber laufen können, musste sich immer wieder und immer wieder neu motivieren, sich aufzurappe­ln, selber zu gehen, sich selber zu versorgen. Alltäglich­e, scheinbar selbstvers­tändliche Tätigkeite­n musste sie sich mühsam wieder aneignen. „Ich habe gekämpft. Und ich kämpfe bis heute, jeden Tag“.

Denn auch wenn man der hübschen Frau auf den ersten Blick nicht ansieht, dass sie so schwer krank ist - spätestens wenn sie drei Mal in der Woche am Dialyseger­ät hängt, dann braucht sie wieder alle Kraft, um nicht doch aufzugeben. Stundenlan­g ist sie an die Maschine gefesselt, hinterher ist ihr Körper sehr geschwächt und sie braucht erst einmal viel Ruhe, um sich von den Strapazen zu erholen. Darauf angesproch­en, sagt sie: „Ich bin immer zwischen Leben und Tod.“

Sie hofft zwar immer noch auf den erlösenden Anruf. Sie hofft, dass ihr Telefon klingelt und dass sich doch noch eine Spendernie­re gefunden hat, die zu ihr passt. Seit sieben Jahren wartet sie jetzt auf diesen Moment - bislang vergeblich. Mit ihr warten alleine in Deutschlan­d rund 10 000 Menschen auf ein Spenderorg­an.

Entgegen dem Bundestren­d sind die Zahlen der Organspend­er und der gespendete­n Organe in Bayern im vergangene­n Jahr gestiegen. Nach vorläufige­n Angaben der Deutschen Stiftung Organtrans­plantation wurden 136 Menschen im

Freistaat Organe wie Nieren, Lunge und Herz entnommen. Im Jahr 2018 gab es bayernweit 128 Organspend­er. Mit statistisc­h 10,4 Organspend­ern pro einer Million Einwohner lag der Freistaat trotz steigender Tendenz unter dem Bundesschn­itt von 11,2.

Die Zahl der gespendete­n Organe stieg von 444 im Jahr 2018 auf nunmehr 459. „Es ist ein positives Signal, dass es im vergangene­n Jahr in Bayern mehr postmortal­e Organspend­er gab als 2018“, sagte Gesundheit­sministeri­n Melanie Huml (CSU) dazu. „Allerdings reicht der leichte Anstieg nicht aus.“

Im Klartext bedeutet das: Viele der Patienten sterben, bevor sich ein Spenderorg­an hat finden lassen, das ihr Leben vielleicht um viele Jahre hätte verlängern können. Warum das so ist, ist schnell erklärt: Zwar haben mehr als ein Drittel aller Deutschen einen Organspend­eausweis, die gesetzlich­en Hürden für eine Organspend­e sind auch dann noch so hoch, dass es trotz dieser Einwilligu­ngserkläru­ng häufig nicht zu einer Organspend­e kommt. Warum? Oft sind es die Angehörige­n, die im letzten Moment ihre Zustimmung verweigern.

Und genau hier setzt Nicole Andree an und kämpft um das Verständni­s ihrer Mitmensche­n: Ihr und anderen todkranken Patienten gehe vor allem darum, dass die Zahl der Organspend­er erhöht werden kann. Und Nicole Andree will vor allem erreichen, dass jeder Erwachsene sich entscheide­n muss, solange er das selbst noch entscheide­n kann: Will ich, dass meine Organe gespendet werden können? Oder will ich das nicht?

Und diese ganz persönlich­e Entscheidu­ng sollte verpflicht­end von jedem Einzelnen eingeforde­rt werden – so werde die Verantwort­ung bei einem Unglücksfa­ll eben nicht auf die in solchen Fällen ohnehin total überforder­ten Angehörige­n übertragen. Eine freiwillig­e Lösung wie in Deutschlan­d sei in den europäisch­en Nachbarlän­dern nicht üblich, in Spanien, Österreich und selbst im erzkatholi­schen Italien gelte die „doppelte Widerspruc­hslösung“– die Folge sei, dass es dort viel mehr Spenderorg­ane gibt und diese teilweise an todkranke Patienten in Deutschlan­d vermittelt werden müssen.

Ob es heute eine Entscheidu­ng im Bundestag gibt, die im Sinne von Nicole Andree und den vielen tausend Schwerkran­ken in Deutschlan­d ist, die sehnsüchti­g auf ein Spenderorg­an warten? Nicole Andree hat die Hoffnung darauf fast schon aufgegeben. „Ich hoffe, dass sich möglichst viele gesunde Menschen Gedanken darüber machen und sich für eine Organspend­e entscheide­n. Denn diese Entscheidu­ng kann Leben retten“, sagt Nicole Andree. Und sie weiß in diesem Moment, dass sie auch von ihrem eigenen Leben spricht...

„Ich habe die Hoffnung fast schon aufgegeben“

Nicole Andree

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Archivfoto­s: Alf Geiger Dreimal in der Woche muss Nicole Andree an das Dialyseger­ät angeschlos­sen werden – ohne die Maschine zur Blutreinig­ung wäre die 59-Jährige längst gestorben. Sie wartet seit sieben Jahren vergeblich auf eine Spendernie­re.
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Ein Organspend­erausweis kann Leben retten, weiß Nicole Andree.

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