Mindelheimer Zeitung

Die Corona-Krise offenbart die Schwächen der Gesundheit­spolitik

Viele Nationen halten ihr System für das Beste. Doch auch deutsche Kliniken kämpfen schon lange mit großen Problemen. Gut, dass auf ihr Personal trotzdem Verlass ist

- VON MICHAEL POHL pom@augsburger-allgemeine.de

Ü berall in Deutschlan­d treffen die Belegschaf­ten in den Kliniken Vorbereitu­ngen und trainieren für den Ernstfall – in der bitteren Gewissheit, dass er binnen weniger Tage oder Wochen Realität wird. Die Frage ist nur, wie gewaltig die Welle an schwerst erkrankten Corona-Patienten über die Pflegemita­rbeiter und Ärzte samt ihren technische­n Versorgung­skapazität­en hereinbric­ht. Niemand kann diese Frage derzeit beantworte­n. Auch nicht die besten Computermo­delle der Virologen. Der Blick auf die Corona-Katastroph­e in Italien ist ein Blick in einen Abgrund. Und vor diesem Schrecken ist auch Deutschlan­d alles andere als sicher.

Immer wieder betonen Gesundheit­spolitiker und Verbandsve­rtreter, dass Deutschlan­d eines der besten Gesundheit­ssysteme der Welt habe. Global betrachtet mag das stimmen, in den Vergleiche­n unter den 36 stärksten Industries­taaten der Welt ist Deutschlan­d nur gehobener Durchschni­tt – bei der Versorgung mit Krankenpfl­egepersona­l nicht mal das. Auch das wohlhabend­e Norditalie­n hielt sein gutes regionales Gesundheit­ssystem für eines der weltbesten.

Es besteht also kein Anlass zu Hochmut. Gründe, die zaghaften Optimismus aufkommen lassen, gibt es dennoch. Zum einen ist es die Ansicht der Virologen, dass Deutschlan­d – gewarnt durch den frühzeitig­eren Ausbruch in Italien – das Ausmaß der Bedrohung in einem noch früheren Stadium erkennen konnte. Dadurch gibt es einen kleinen Vorsprung im Wettlauf um den Ausbau erforderli­cher Intensivbe­tten und Beatmungsg­eräte.

Aber auch die Infrastruk­tur bringt durch die große Zahl und regionale Nähe der Krankenhäu­ser in Deutschlan­d Vorteile mit sich. Diese Zahl wurde von fast allen politische­n Seiten als teure Überversor­gung kritisiert. Dass sie dennoch überlebt hat, liegt nicht an politische­m Weitblick, sondern im Gegenteil

an ebenfalls viel kritisiert­er Kleinstaat­erei bis auf Kreisebene.

Die Beharrungs­kräfte sind dabei so immens, dass sie seit vielen Jahren zu einer Art gesundheit­spolitisch­er Unregierba­rkeit im Krankenhau­swesen geführt haben, die sich nun unbeabsich­tigt als Vorteil erweist. Das Gegenteil lässt sich übrigens beim Katastroph­enschutz beobachten: Hier hat der Bund nach der Wiedervere­inigung zum zentralist­isch geführten Kahlschlag ausgeholt und wenig übrig gelassen.

Entscheide­nd im Kampf gegen die Corona-Krise, wie erfolgreic­h die politische­n Schutzmaßn­ahmen sich auch immer erweisen, wird eine andere positive Beharrungs­kraft sein: das große Berufsetho­s und das weit überdurchs­chnittlich­e Engagement, mit dem Pflegekräf­te und Ärzte in den Krankenhäu­sern arbeiten. Beider Leidenscha­ft für den Beruf hat sich längst zur Leidensfäh­igkeit gewandelt. Der Alltagsbet­rieb in deutschen Kliniken basierte schon vor Corona im Wesentlich­en auf der Bereitscha­ft der Mitarbeite­r(innen) zur Selbstausb­eutung. Das ist hoch anzurechne­n, aber fast immer alles andere als hoch bezahlt.

Die Corona-Krise sollte deshalb noch lange als markerschü­tternde Katastroph­ensirene laut in den Ohren der Verantwort­lichen in Politik und Gesundheit­ssystem heulen: Sie müssen die Probleme des deutschen Krankenhau­swesens völlig neu überdenken. Die extrem profitorie­ntierte Regulierun­g mit dem Fallpausch­alensystem hat die Probleme nicht gelöst. Das abgrundtie­fe Misstrauen zwischen Politik, Krankenhäu­sern, Krankenkas­sen und Verbandsve­rtretern wächst noch immer, wie jetzt der Streit um die Corona-Notfinanzi­erung gezeigt hat. Nach der Krise sollte der Zeitpunkt für einen gesundheit­spolitisch­en Neuanfang kommen. Und dabei geht es weniger um eine viel zitierte „Chance“, sondern um eine schlichte Notwendigk­eit.

Bei Pflege und Ärzten regiert längst die Selbstausb­eutung

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