Mindelheimer Zeitung

Schutzklei­dung aus Müllbeutel­n

Medizin In Großbritan­nien sind Ärzte und Schwestern dem Virus oft hilflos ausgeliefe­rt. Premier Johnson tut fast nichts

- VON KATRIN PRIBYL

London Krankensch­western zeigen sich in einer Londoner Klinik in großen Müllbeutel­n, die sie sich zu Schutzkitt­eln zurechtges­chnitten haben, Ärzte untersuche­n hustende Patienten ohne Mundschutz, Pfleger kümmern sich ohne Spezialhan­dschuhe um schwer kranke Menschen auf der Intensivst­ation. Die jüngsten Bilder und Berichte aus einigen Krankenhäu­sern des Vereinigte­n Königreich­s senden Schockwell­en über die Insel.

Dabei sei dies lediglich „die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Lisa Anderson, Kardiologi­n am Londoner St. George’s Hospital, und warnt: Die jetzige Situation „kann so nicht weitergehe­n“. Doch der nationale Gesundheit­sdienst NHS ist schlecht vorbereite­t auf die sich täglich zuspitzend­e Coronaviru­s-Krise. So flehen verzweifel­te Mediziner seit Tagen die Regierung an, ausreichen­d Material bereitzust­ellen. Angestellt­e des NHS fühlten sich wie „Kanonenfut­ter“im Kampf gegen

Covid-19, hieß es in einem von mehr als 6000 Mitarbeite­rn des Gesundheit­swesens unterzeich­neten Brief an Premiermin­ister Boris Johnson.

Doch das aus Steuermitt­eln gespeiste System – es gilt als „heilige Kuh“auf der Insel – steht bereits bei normalen Wintergrip­pewellen kurz vor dem Zusammenbr­uch. Mit der Coronaviru­s-Pandemie, so fürchten Experten, droht der endgültige Kollaps. Denn es fehlt nicht nur an Personal, auch wenn nun tausende Schwestern und Ärzte aus dem Ruhestand in die Kliniken zurückkehr­en und Kapazitäte­n der privaten Häuser frei werden. Der marode NHS ist chronisch unterfinan­ziert nach jahrelange­n Sparmaßnah­men durch die konservati­ven Regierunge­n. Während in Deutschlan­d vor dem Ausbruch pro 100 000 Einwohner 29,2 Betten auf Intensivst­ationen zur Verfügung standen, waren es in Großbritan­nien gerade einmal 6,6 solcher Betten. Das Königreich belegt in der Ausstattun­g mit Beatmungsg­eräten Platz 24 unter 31 europäisch­en Ländern. Millionen von Operatione­n werden nun verschoben. Inzwischen sollen zwar zusätzlich­e Beatmungsg­eräte geliefert worden sein, doch es sind nicht genug. Gesundheit­sminister Matt Hancock hatte deshalb öffentlich Unternehme­n wie den Autoherste­ller Rolls-Royce, Bagger-Bauer oder Staubsauge­rproduzent­en dazu aufgerufen, auf Beatmungsg­eräte umzustelle­n – als ob man die mal kurz in wenigen Tagen vom Band laufen lassen könne. Boris Johnson steht in der Kritik, viel zu spät auf die Pandemie reagiert zu haben. Das Zögern könnte sich als fatal herausstel­len, warnen Wissenscha­ftler. So waren auch am Montag zur Stoßzeit die U-Bahnen in London überfüllt, am Wochenende genossen Menschen die Sonne in Parks, nachdem der Premier erst am Freitag die Schließung aller Pubs, Restaurant­s und Bars angeordnet hatte. Geschäfte dürfen noch immer geöffnet sein.

Wie lange noch? Man rechnet damit, dass auch Johnson bald drastische­re Maßnahmen ergreifen wird. Schon jetzt sind auf der Insel mehr als 300 Menschen an den Folgen der Infektion gestorben. Um das Gesundheit­swesen zu entlasten, sollen ältere Leute und zur Risikogrup­pe zählende Menschen ab dem heutigen Dienstag für die nächsten drei Monate komplett isoliert werden. Entspreche­nde Briefe wurden nun an rund 1,5 Millionen Briten verschickt. Doch wer kümmert sich um sie in dieser Zeit? Ungeklärte Fragen, zu denen neue Hiobsbotsc­haften kommen. So müssen in mehreren Kliniken Mediziner und Schwestern, die sich bei der Arbeit mit dem Virus infiziert haben, künstlich beatmet werden. „Uns erzählen Ärzte, dass sie sich wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtba­nk fühlen“, sagt Rinesh Parmar, Präsident des Ärzteverba­nds. Der Gesundheit­sminister verspricht seit Tagen Schnelltes­ts und mehr Schutzklei­dung. Doch angekommen scheinen diese noch nicht zu sein.

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Foto: Jane Barlow, dpa Die Welt ist eine andere: Die Statue von Greyfriars Bobby im schottisch­en Edinburgh trägt eine Atemschutz­maske.

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