Schutzkleidung aus Müllbeuteln
Medizin In Großbritannien sind Ärzte und Schwestern dem Virus oft hilflos ausgeliefert. Premier Johnson tut fast nichts
London Krankenschwestern zeigen sich in einer Londoner Klinik in großen Müllbeuteln, die sie sich zu Schutzkitteln zurechtgeschnitten haben, Ärzte untersuchen hustende Patienten ohne Mundschutz, Pfleger kümmern sich ohne Spezialhandschuhe um schwer kranke Menschen auf der Intensivstation. Die jüngsten Bilder und Berichte aus einigen Krankenhäusern des Vereinigten Königreichs senden Schockwellen über die Insel.
Dabei sei dies lediglich „die Ruhe vor dem Sturm“, sagt Lisa Anderson, Kardiologin am Londoner St. George’s Hospital, und warnt: Die jetzige Situation „kann so nicht weitergehen“. Doch der nationale Gesundheitsdienst NHS ist schlecht vorbereitet auf die sich täglich zuspitzende Coronavirus-Krise. So flehen verzweifelte Mediziner seit Tagen die Regierung an, ausreichend Material bereitzustellen. Angestellte des NHS fühlten sich wie „Kanonenfutter“im Kampf gegen
Covid-19, hieß es in einem von mehr als 6000 Mitarbeitern des Gesundheitswesens unterzeichneten Brief an Premierminister Boris Johnson.
Doch das aus Steuermitteln gespeiste System – es gilt als „heilige Kuh“auf der Insel – steht bereits bei normalen Wintergrippewellen kurz vor dem Zusammenbruch. Mit der Coronavirus-Pandemie, so fürchten Experten, droht der endgültige Kollaps. Denn es fehlt nicht nur an Personal, auch wenn nun tausende Schwestern und Ärzte aus dem Ruhestand in die Kliniken zurückkehren und Kapazitäten der privaten Häuser frei werden. Der marode NHS ist chronisch unterfinanziert nach jahrelangen Sparmaßnahmen durch die konservativen Regierungen. Während in Deutschland vor dem Ausbruch pro 100 000 Einwohner 29,2 Betten auf Intensivstationen zur Verfügung standen, waren es in Großbritannien gerade einmal 6,6 solcher Betten. Das Königreich belegt in der Ausstattung mit Beatmungsgeräten Platz 24 unter 31 europäischen Ländern. Millionen von Operationen werden nun verschoben. Inzwischen sollen zwar zusätzliche Beatmungsgeräte geliefert worden sein, doch es sind nicht genug. Gesundheitsminister Matt Hancock hatte deshalb öffentlich Unternehmen wie den Autohersteller Rolls-Royce, Bagger-Bauer oder Staubsaugerproduzenten dazu aufgerufen, auf Beatmungsgeräte umzustellen – als ob man die mal kurz in wenigen Tagen vom Band laufen lassen könne. Boris Johnson steht in der Kritik, viel zu spät auf die Pandemie reagiert zu haben. Das Zögern könnte sich als fatal herausstellen, warnen Wissenschaftler. So waren auch am Montag zur Stoßzeit die U-Bahnen in London überfüllt, am Wochenende genossen Menschen die Sonne in Parks, nachdem der Premier erst am Freitag die Schließung aller Pubs, Restaurants und Bars angeordnet hatte. Geschäfte dürfen noch immer geöffnet sein.
Wie lange noch? Man rechnet damit, dass auch Johnson bald drastischere Maßnahmen ergreifen wird. Schon jetzt sind auf der Insel mehr als 300 Menschen an den Folgen der Infektion gestorben. Um das Gesundheitswesen zu entlasten, sollen ältere Leute und zur Risikogruppe zählende Menschen ab dem heutigen Dienstag für die nächsten drei Monate komplett isoliert werden. Entsprechende Briefe wurden nun an rund 1,5 Millionen Briten verschickt. Doch wer kümmert sich um sie in dieser Zeit? Ungeklärte Fragen, zu denen neue Hiobsbotschaften kommen. So müssen in mehreren Kliniken Mediziner und Schwestern, die sich bei der Arbeit mit dem Virus infiziert haben, künstlich beatmet werden. „Uns erzählen Ärzte, dass sie sich wie Lämmer auf dem Weg zur Schlachtbank fühlen“, sagt Rinesh Parmar, Präsident des Ärzteverbands. Der Gesundheitsminister verspricht seit Tagen Schnelltests und mehr Schutzkleidung. Doch angekommen scheinen diese noch nicht zu sein.