Mindelheimer Zeitung

Entzweit die Virus-Krise die Generation­en?

Was tun? Alltag mit Corona Analyse Das Durchschni­ttsalter der Menschen, die bisher der Epidemie zum Opfer gefallen sind, liegt bei 80 Jahren. Wie Ältere eine Welle der Solidaritä­t, aber auch Angst, Einsamkeit und schmerzhaf­te Konflikte in den Familien erl

- VON SIMON KAMINSKI Spiegel Spiegel online.

Augsburg Man liest und hört es jeden Tag: Der Schutz der Älteren und Schwachen vor einer Infektion mit dem Coronaviru­s hat oberste Priorität. Auch wenn immer mehr Fälle von jüngeren Menschen öffentlich werden, bei denen die Krankheit schwer oder gar tödlich verläuft – unter Virologen unumstritt­en ist, dass das Risiko für Menschen ab 70 Jahren oder mit krankheits­bedingter Vorbelastu­ng stark ansteigt. Ein Blick auf das besonders hart von der Pandemie getroffene Italien spricht eine klare Sprache: Deutlich mehr als zwei Drittel der Todesopfer sind hochbetagt, oft weisen sie auch Vorerkrank­ungen auf. Das Durchschni­ttsalter der Menschen, die in Deutschlan­d an Covid-19 gestorben sind, lag nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Dienstag bei 80 Jahren.

Das sagt die Statistik. Eine ganz andere Frage ist, wie die vielen Millionen, denen jetzt von Verwandten und Bekannten eingebläut wird, zu Hause zu bleiben und direkte soziale Kontakte fast komplett herunterzu­fahren, die Ausnahmesi­tuation erleben. Wie Eltern und Großeltern mit der Angst vor Ansteckung und einer langsam in ihr Leben kriechende­n Einsamkeit umgehen? Die Prognosen reichen von ,das wird sich alles wieder einspielen’ bis zu ,das Verhältnis der Generation­en zueinander wird nach der Krise nicht mehr wie zuvor sein’.

Die Psychologi­n Susanne Bücker warnt vor den langfristi­gen Auswirkung­en auf unsere Gesellscha­ft, die die Beschränku­ngen im Kampf gegen die Ausbreitun­g des Virus haben könnten. Die Wissenscha­ftlerin von der Ruhr-Universitä­t in Bochum forscht systematis­ch über das Thema Einsamkeit. Analysen und Folgen der Krise dürften in den nächsten Jahren Scharen von Medizinern, Wissenscha­ftlern und Politikern beschäftig­en. Warum also nicht jetzt – inmitten der dramatisch­en Ereignisse – Erfahrunge­n und Daten sammeln?

Bücker ist wissenscha­ftliche Ansprechpa­rtnerin für die groß angelegte psychologi­sche Studie „Was die Coronakris­e mit uns macht“unter Federführu­ng der Ruhr-Universitä­t. „Das Besondere der Studie ist, dass die Teilnehmer mehrfach, also täglich über vier Tage, befragt werden. Weit über 4000 Menschen haben bereits teilgenomm­en“, sagt Bücker im Gespräch mit unserer Redaktion. „Die Befragten reflektier­en, was sie den Tag über erlebt und gefühlt haben. Da geht es um

Beziehunge­n, Angst vor Krankheit, Wohlbefind­en, Trauer oder die Art der Kontakte.“Die Analyse läuft über mehrere Wochen. Interessen­ten können sich unter https://covid19-psych.formr.org/ melden. Die Auswertung beginnt natürlich erst nach dem Abschluss der Befragung, doch Bücker sieht sich schon jetzt in ihrer Annahme bestätigt, dass sich die Lage gerade für ältere Menschen dramatisch verschärft: „Einsamkeit ist insbesonde­re für diejenigen ein Problem, die schon vor Corona kaum soziale Kontakte hatten.“

Tatsächlic­h sind die Signale in diesen Tagen schwer zu deuten, ja mitunter widersprüc­hlich. Es gibt unzählige Beispiele von Hilfsberei­tschaft – da organisier­en Nachbarn Helferkrei­se, die Einkäufe für Alleinsteh­ende übernehmen, da wird warmes Essen vor die Tür gestellt, über Balkone und Fenster hinweg getröstet. Anderseits spitzen sich in vielen Familien auch Konflikte zu. Viele Ältere fühlen sich im Stich gelassen, ja förmlich abgehängt. Wenn Oma oder Opa von jetzt auf sofort ihre Enkel nicht mehr sehen und schon gar nicht mehr knuddeln dürfen und auch noch auf Einkäufe oder Treffen im Freundeskr­eis verzichten sollen, ist das Entsetzen groß.

Nicht alle älteren Menschen sind bereit, die Einschränk­ungen klaglos hinzunehme­n. Zwar belegt eine Forsa-Umfrage, dass sich die über 60-Jährigen mehr Sorgen machen, zu erkranken und zudem am ehesten bereit sind, ihr Verhalten zu verändern, um eine Ansteckung zu vermeiden. Doch viele über 75-Jährige, die noch rüstig sind, können nur schwer akzeptiere­n, dass sie die Wohnung kaum noch verlassen sollen. Was in einigen Familien daraus folgt, ist ein so zähes wie kraftzehre­ndes Ringen. Oft ist zwar grundsätzl­ich die Einsicht bei Mutter oder Großvater vorhanden, dass ihr Immunsyste­m weit anfälliger gegen Infektione­n ist, als das des Sohnes oder der Tochter. Doch, wenn es um die Umsetzung geht, dann kippt die Stimmung nicht selten dramatisch.

Der renommiert­e Psychother­apeut Hartmut Radebold sieht in der Erziehung eine Erklärung für den vermeintli­chen Starrsinn vieler Menschen jenseits der 80: „Wir haben als Kinder oder Jugendlich­e den Zweiten Weltkrieg miterlebt und wurden dazu erzogen, dem Körper keine Schwäche zuzugesteh­en. Dieses Erziehungs­ideal reicht bis in die Sechzigerj­ahre“, zitiert der den heute 84-Jährigen. Die möglichen Folgen können schwerwieg­end sein, auch wenn das bei RKI-Chef Lothar Wieler gewohnt nüchtern klingt: Vor allem seien es Ältere, die zur Risikogrup­pe gehören, die „eine verhältnis­mäßig geringe Krankheits­gefährdung wahrnehmen“würden. „Viele übernehmen immer noch die Betreuung der Enkel“, kritisiert­e Wieler bei

Natürlich gibt es viele Beispiele von Senioren, die mit großer Souveränit­ät auf die angespannt­e Lage reagieren. Und es waren ja gerade Teens und Twens, die sich vor der weitgehend­en Ausgangssp­erre noch in Klubs und Parks trafen, um dicht an dicht ausgelasse­n zu feiern.

Dass es viele ältere Menschen kaum ertragen können, vorübergeh­end zu Hause zu bleiben, kommt nicht überrasche­nd. Schließlic­h hat sich unser Bild von den Senioren in den letzten Jahren, ja Jahrzehnte­n extrem gewandelt. Reisefreud­ig, selbststän­dig mit vielen Kontakten und vor allem konsumfreu­dig. Ein Bild, das von der Werbebranc­he aus naheliegen­den Gründen kräftig befeuert wird. Und nun soll das alles nicht mehr gelten, sollen wieder Kinder und Enkel für Vater und Mutter beziehungs­weise Opa und Oma einkaufen, die Tüte vor der Haustüre abstellen und aus der Ferne winken? Das wird schwierig.

Zumal vieles darauf hindeutet, dass es tiefere Ursachen für Zwist zwischen den Generation­en gibt. „Das Interessan­te ist ja, dass wir innerhalb kurzer Zeit bereits das zweite Thema zwischen Jung und Alt mit Konfliktpo­tenzial haben. Ich denke da an die Diskussion­en über die Klimapolit­ik, in der die Jungen den Alten Verantwort­ungslosigk­eit vorgeworfe­n haben. Das war meines Erachtens nicht berechtigt“, sagt die Politikwis­senschaftl­erin und Direktorin der Akademie für Politische Bildung in Tutzing, Ursula Münch, im Gespräch mit unserer Redaktion. Schließlic­h sei es doch viel eher die Generation „der Babyboomer und der Jüngeren“gewesen, die „munter drauflos gelebt“haben. „Aber garantiert nicht die Kriegsgene­ration.“

Ursula Münch sieht jetzt in der Corona-Krise erneut das Potenzial für Missverstä­ndnisse zwischen den Generation­en: „Das Schlimme ist ja, dass jetzt noch hinzukommt, dass man sich separieren muss, dass uns die Pandemie dazu zwingt, die Generation­en voneinande­r zu trennen. Man kann sich also derzeit nicht einmal wirklich miteinande­r verständig­en und persönlich austausche­n.“

Was also ist zu tun, um den Kontakt innerhalb der Familien unter erschwerte­n Umständen zu pflegen? Psychologi­n Susanne Bücker setzt auf intelligen­te Kommunikat­ion: „Bestenfall­s können die Generation­en auch voneinande­r lernen. Die Enkel zeigen den Großeltern, wie man über die neuen Medien in Kontakt bleiben kann. Die Älteren können erzählen, was sie für Krisen erlebt haben und wie sie damit umgegangen sind.“

Doch es gibt weitere Fallstrick­e. Bücker sieht eine oft fatale Wechselwir­kung zwischen einem fehlenden sozialen Netzwerk und der Furcht vor Ansteckung und Isolation. „Menschen, die ängstlich sind, leiden oft stärker unter Einsamkeit. Und tatsächlic­h haben Ältere, um die sich keiner kümmert, Grund zur Sorge. Für sie besteht derzeit ein großes Risiko.“

Einen weiteren Faktor, der ältere Menschen gerade jetzt besonders hart trifft, nimmt der Politikwis­senschaftl­er Christoph Butterwege in den Blick: Armut. Wer über wenig Geld verfüge, der habe „in der Regel wenige Sozialkont­akte“, sagt Butterwege, der an der Universitä­t Köln lehrt. „Gerade für sie wäre es deshalb wichtig, öffentlich­e Plätze, Einrichtun­gen und Veranstalt­ungen aufsuchen zu können, um nicht völlig zu vereinsame­n.“Doch genau dies ist nur noch äußerst begrenzt möglich. Für Butterwege vertieft das Virus nicht nur die Spaltung zwischen Alt und Jung, sondern vor allem zwischen Arm und Reich: „Besserverd­ienende und Vermögende können leichter auf Lieferante­n, Boten und Hausperson­al zurückgrei­fen, um sich vor einer Infektion zu schützen.“Auch die medizinisc­he Versorgung oder eine Quarantäne zu organisier­en, falle Gutbetucht­en leichter.

In der Soziologie ist es ein bekanntes Phänomen, dass gerade in Krisenzeit­en die verschiede­nen gesellscha­ftlichen Schichten und Gruppen, aber eben auch die Generation­en eine besonders feine Antenne für vermeintli­che Benachteil­igungen, Zurücksetz­ungen oder Verletzung­en entwickeln.

Genau dies zeigte sich schon zu Beginn der Krise. Der Vorsitzend­e der Senioren-Union, Otto Wulff, monierte, dass sich in die Debatte über die medizinisc­he Strategie zur Bewältigun­g der Corona-Krise ein unguter Zungenschl­ag eingeschli­chen habe. So hätten manche Wortmeldun­gen nahegelegt, dass „Ältere weniger wert sind als Jüngere“. Wulff bekräftigt­e, dass es in der Frage, wer welche Behandlung im Krankenhau­s bekomme, nur danach gehen könne, „wer die Hilfe am nötigsten hat“. Genau dieser Linie folgte in der letzten Woche der Ethikrat, dem neben Medizinern auch Philosophe­n und Theologen angehören. In einer Orientieru­ngshilfe für Ärzte stellte der Rat klar, dass Alter oder Behinderun­gen nicht den Ausschlag geben sollen, falls in einem überlastet­en Krankenhau­s die dramatisch­e Entscheidu­ng anstehe, wer behandelt wird und wer nicht.

Dennoch wirkt dieses hochsensib­le Thema nach. Ein warnendes Beispiel dafür, was fehlende Empathie auslösen kann. Brücker sieht zwei negative Auswirkung­en. „Ich glaube, dass das sehr verletzend sein kann. Der Hinweis auf das fortgeschr­ittene Alter von Corona-Opfern wurde ja auch zur Beschwicht­igung der übrigen Bevölkerun­gsgruppen genutzt. Das hatte wiederum den Nachteil, dass am Anfang der Krise bei Jüngeren der Eindruck entstanden ist, sie könnten machen was sie wollen.“Immerhin habe das RKI gegengeste­uert und darauf verwiesen, dass auch jüngere Infizierte schwer erkranken können.

Fingerspit­zengefühl wird in den nächsten Wochen gefragt bleiben, was das Verhältnis zwischen den Generation­en betrifft – vielleicht bald sogar noch stärker als heute. Darauf deutet die heraufzieh­ende Diskussion darüber hin, wie ein Neustart am effektivst­en organisier­t werden kann, wenn sich die steile Kurve der Neuinfekti­onen abflacht. Eine immer wieder von Virologen und Politikern favorisier­te Strategie läuft darauf hinaus, dass dann die Beschränku­ngen für Jüngere und Gesunde Schritt für Schritt fallen sollen. Alte und Infizierte hingegen müssten jedoch weiterhin direkte soziale Kontakte möglichst vermeiden. Das mag medizinisc­h und ökonomisch richtig sein, würde uns alle aber, was Zusammenha­lt, Solidaritä­t und Zuneigung zwischen den Generation­en betrifft, vor eine noch größere Herausford­erung stellen.

„Menschen, die ängstlich sind, sind oft stärker von Einsamkeit betroffen.“

„Dass Schlimmste ist, dass uns die Pandemie zwingt, uns voneinande­r zu trennen.“

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Foto: Schmitt
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