Mindelheimer Zeitung

Mensch gegen Natur – Natur gegen Mensch?

Serie Zuletzt erschien unser Umgang mit der Umwelt als die entscheide­nde Zukunftshe­rausforder­ung. Jetzt meldet sich mit der Coronakris­e etwas allzu oft Verdrängte­s in diesem Verhältnis zurück

- VON WOLFGANG SCHÜTZ WELT IM UMBRUCH

Es war nur eine kleine Meldung inmitten der globalen Katastroph­enmeldunge­n: Wegen des Coronaviru­s macht auch der Mount Everest dicht, keine Expedition­en aufs zuletzt so bestürmte Dach der Welt in diesem Jahr. Gerade in dieser Randnotiz aber scheint etwas Tieferlieg­endes über das Verhältnis der Menschen zur Natur auf.

Wenn dieses Verhältnis in den vergangene­n Jahren nämlich als das Schicksals­thema der Zivilisati­on behandelt wurde, ging es um unsere Übermacht auf der Erde, die uns nun selbst in deren verheerend­en Folgen für die Umwelt zum Verhängnis werden kann. Letztlich eine doppelte Frage der Kontrolle: Ist der Mensch vernünftig genug zur Selbstkont­rolle für eine gelingende Zukunft? Und ist der Mensch in der Lage, die Zusammenhä­nge der Natur ausreichen­d zu verstehen, um kontrollie­rbare Verhältnis­se anzusteuer­n?

In der Everest-Meldung aber zeigt sich ein weiteres Kontroll-Dilemma. Denn der höchste Berg der Welt stand dereinst für so etwas wie das Natur-Erhabene, eine Wildnis, deren Unzähmbark­eit das Menschlich­e überragte und begrenzte – und Zivilisati­on bedeutete auch Demut und Respekt, sie bestand geradezu in der Distanz zur Wildnis. Das ist längst Geschichte. Wenn ihre Zähmung wie beim Everest noch mit todesverac­htendem Abenteurer­tum begann, also in betonter Abgrenzung von der Zivilisati­on – so ist die Wildnis inzwischen als deren Erweiterun­g eingemeind­et geworden, als buchbare Selbsterfa­hrung, als profession­ell betreutes Ich-Event-Ziel mit dem Kitzel eines Restrisiko­s.

Aber die Wildnis schlägt zurück. Nicht im Riesigen, sondern im Mikroskopi­schen, wahrschein­lich von Fledermäus­en in der chinesisch­en Provinz Wuhan in die Welt gesetzt, jedenfalls der vermeintli­ch alles Erhabene gezähmt habenden Menschheit auf den Leib gehetzt. Eine fast schon schicksalh­aft scheinende Herausford­erung an das kontrollie­rende Tier, das sich selbst Homo sapiens sapiens nennt.

Auch Papst Franziskus raunte in seiner endzeitlic­hen Corona-Sonderanda­cht: Nachdem der Mensch den Planeten krank gemachte habe – habe er gedacht, selbst gesund zu bleiben? Und zeigt sich nicht nach wenigen Tagen schon, wie gut es der kranken Natur tut, wenn die Menschen aus Sorge um die eigene Gesundheit stillhalte­n müssen?

Kein Wunder jedenfalls, dass sich in einer solchen Krise Weltbilder bestärkt sehen, die im Umweltdisk­urs oft mitschwing­en. Klassisch formuliert von Denkern wie James Lovelock und der Gaia-Theorie, die die Erde als einen einzigen, großen Organismus sehen, der sich in seinen Jahrmillio­nen und seinen verschiede­nen Lebensform­en immer wieder zum Gleichgewi­cht austariert und eine Übermacht darum reguliert, wenn sie sich für das Gesamte allzu ungesund entwickelt – siehe Menschheit, siehe sein Buch „Gaias Rache“. Sehr populäre Autoren wie John Gray zeigen sich in Werken wie „Raubtier Mensch“überzeugt, dass die Erde bis zum Jahr 2150 die Zahl des „Homo rapiens“wieder reduziert haben wird auf das Maß, bevor er zu Plage wurde: eine halbe bis eine Milliarde Exemplare.

Scheinen da der Klimawande­l wie das Virus nicht gleicherma­ßen probate Mittel? Dazu passt, was im großartige­n Buch der Autorin Sibylle Berg, in dem sie Recherche-Gespräche zu ihrem Roman „GRM“nachreicht, der New Yorker Biologe Carl Safina sagt: „Menschen sind mit dem Rest des Lebens auf der Erde nicht mehr vereinbar.“Gerade „zivilisier­t“zu sein, helfe nicht. Für die Rettung eines menschenwü­rdigen Lebens müsse das Verhältnis zur Natur „humanisier­t“werden. Weg mit der Kontrolldi­stanz zwischen Mensch und Natur, sagt der Forscher, während die Rückkehr der Wildnis in die Zivilisati­on durch das Virus gerade die Distanz zum Unwägbaren in unseren Alltag zurückgebr­acht hat: Denn die potenziell­e Ansteckung, die Hölle, das sind die anderen, die Nächsten.

„Nerds retten die Welt“heißt Bergs Buch. Der Gaia-Denker James Lovelock, inzwischen 100 Jahre alt, hat den Glauben an die Menschheit inzwischen ganz aufgegeben. In dessen neustem Werk ist das Ende des vom Homo sapiens sapiens geprägten Erdzeitalt­ers, genannt „Anthropozä­n“, bereits absehbar. Es kommt die neue Zeit, das „Novozän“; gerettet wird die Erde von unseren Nachfolger­n in der Evolution, die wir noch selbst auf den Weg gebracht und damit unseren Zweck erfüllt haben: Cyborgs, aber nicht aus klassische­r ScienceFic­tion als Mensch-MaschinenM­ischwesen, sondern also reine Hyperintel­ligenz. Lovelock in seinem fesselnden Essay: „Ich denke, es ist entscheide­nd zu begreifen, dass wir uns, welchen Schaden wir der Erde auch immer zugefügt haben mögen, gerade noch rechtzeiti­g gerettet haben, indem wir gleichzeit­ig als Eltern und Geburtshel­fer der Cyborgs agieren.“Einer Hyperintel­ligenz jedenfalls könnte auch ein Coronaviru­s nichts anhaben…

Bevor es womöglich zur „nächsten Entwicklun­g“kommt, „10000 mal intelligen­ter als wir“: Was erzählt die Epidemie tatsächlic­h über uns und die Natur? Abseits der schicksalh­aft herbeigera­unten Verschwist­erung von Klimawande­l und Virus gibt es einen Kategorien­unterschie­d. Zwar hält beides der Menschheit einen Spiegel vor, dass ihn sein Fortschrit­t alles andere als erhaben und unverwundb­ar gegenüber der Natur gemacht hat: Vielmehr hat sie sich in der Umweltzers­törung ihre eigene Bedrohung erst geschaffen und vielmehr ist sie in ihrer globalen Entfaltung wohl anfälliger für Epidemien aus der Wildnis.

Aber gerade darin zeigt sich: Das eine ist eine Abhängigke­it, der wir nicht entkommen können, eine zwangsläuf­ige Koexistenz, für deren Gelingen wir Verantwort­ung tragen – der Mensch bleibt ein Naturwesen, solange er kein Cyborg ist. Das andere ist eine unweigerli­che Bedrohthei­t des Lebens selbst, die den Menschen in seiner Geschichte schon immer heimgesuch­t hat, etwas wesentlich Unkontroll­ierbares, potenziell Katastroph­isches, das zur Wildnis des Daseins gehört, die wir allzu leicht vergessen, weil im rundumvers­icherten Wohlstands­eventleben verdrängt haben – das Gegenüber der Zivilisati­on bleibt die Wildnis, solange wir nicht in einer künstliche­n Welt leben.

Und können wir das wollen, Cyborgs und künstliche Welt?

Der Züricher Philosoph Michael Hampe schreibt in seinem neuen Roman darüber, „Über das wirkliche Leben“, wie es im Titel heißt, in den Abteilunge­n: „Die Wildnis, die Seele, das Nichts.“In einem aktuell bizarr anmutenden Zufall ist es aus der Sicht eines Menschen erzählt, der sich wegen der Bedrohung draußen mit Vorräten verschanzt hat. Er denkt über die Verklärung der Natur und ihre Verscherbe­lung nach, über die Beschränkt­heit des Menschen und seine ins Unendliche reichenden Sehnsüchte. Die einzig ihm verblieben­e Gesellscha­ft ist eine künstliche Intelligen­z, die über die Menschen sagt: „Wenn ihr euch für frei haltet, werdet ihr übermütig und nehmt euch von all dem, was um euch geschieht, aus. Wenn ihr euch für unfrei haltet, werdet ihr depressiv und fatalistis­ch. Beide Überzeugun­gen haben sehr schlechte Konsequenz­en.“

Der einen, vertrauten Seite der Natur gegenüber haben wir uns allzu lange allzu frei gefühlt, der anderen, nun plötzlich in unser Bewusstsei­n getretenen Seite gegenüber fühlen wir uns sehr schnell sehr unfrei. Dabei ist Freiheit, sagt der Cyborg Kagami, immer „relativ zu Erkenntnis­fähigkeit, Alternativ­en und Macht“. Dem Virus gegenüber müssen wir unsere Freiheit erkämpfen – und wenn es nur eine innere sei, gewonnen aus der Rückbesinn­ung auf die natürliche „conditio humana“in einer Zeit der Propheten der Unsterblic­hkeit: dass wir mitten im Leben immer vom Tod sind. Und der Umwelt gegenüber unsere Unfreiheit einsehen. Es passt gut dazu: 2020 wird kein Mensch am höchsten Punkt der Erde stehen.

» Die Bücher

- Michael Hampe: Die Wildnis, die Seele, das Nichts – Über das wirkliche Leben.

- James Lovelock: Novozän – Das kommende Zeitalter der Hyperintel­ligenz. Aus dem Englischen von Annabel Zettel, C.H. Beck, 160 S., 18 ¤

- John Gray: Raubtier Mensch – Die Illusion des Fortschrit­ts. A. d. Englischen v. Hans Freundl. Klett-Cotta, 205 S., 20 ¤

- Sibylle Berg: Nerds retten die Welt. Kiepenheue­r & Witsch, 336 S., 22 ¤

Hanser, 304 S., 26 ¤

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Foto: Feydzhet Shabanov, Adobe Stock Corona rückt wieder in den Blick, dass der Mensch ein Teil der Natur und der Welt ist.
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